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Imre Nagy, der Ministerpräsident des aufständischen Ungarns

Als positive Symbolfigur für den "Ungarischen Herbst 1956" gilt bis heutige Imre Nagy, damals der Ministerpräsident des aufständischen Ungarns. Aber nicht nur die buchstäblich letzten Tage, die Tragik dieses Mannes haben Janos Rainer bewegt, jetzt eine aktuelle Nagy-Biographie vorzulegen. Ihn interessierten auch jene Jahrzehnte zuvor, die Nagy prägten, bevor er buchstäblich in die dramatischen Geschehnisse katapultiert wurde. Klaus Kuntze ist der Rezensent.

23.10.2006
    Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes verstummte das revolutionäre Ungarn, der Name Imre Nagys verblasste für Jahre.

    Gezielt beglückte der neue kommunistische Parteichef, Janos Kadar, das Volk mit dem so genannten "Gulaschkommunismus". "Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns", lautete die vereinfachte Formel der Kadar-KP. Ein Jahr, anderthalb, nach dem Aufstand jubelte Budapest Josephine Baker zu oder Yves Montand. Kadar gelang es weitgehend, das Land in die, wie es damals hieß, "lustigste Baracke" des östlichen Lagers zu verwandeln.

    "Die demokratische Opposition, die sich in den siebziger Jahren zu formieren begann, brach schließlich das Schweigen. Der hingerichtete Imre Nagy, der mit Hunderten anderer Opfer der Vergeltung in der hintersten Ecke des Friedhofs des Budapester Vororts Rakoskeresztur ohne Grabstein begraben lag, wurde zu einem Symbol, das für das wahre Gesicht des Kadar-Regimes stand, für dessen wahre Genesis und seine gesamte Geschichte. Bis sich diese Sicht durchgesetzt hatte, waren seit der Hinrichtung 25 Jahre vergangen."

    Janos M. Rainer beschreibt diesen Perspektivwechsel während des verdämmernden Kadar-Regimes. Der Verfasser scheint als Chef einer Budapester Forschungsstelle zum Aufstandsjahr der Fachmann schlechthin, die Frage zu stellen: gab es in Nagys Leben zwingende Momente, die ihn, den damals bereits Sechzigjährigen zur zentralen Figur der ungarischen Revolution werden ließen?

    "Ich bin am 7. Juni im Jahre 1896 in Stadt Kaposvar, Komitat Somogy, Transdanubien in Ungarn geboren. Mein Vater, Sohn eines Zwergbauers, hat als Knecht, später als Amtsdiener auf dem Post, dann wieder als Tagelöhner gearbeitet. Meine Mutter, Tochter eines Kleinbauern, arbeitete als Dienstbote. Ich habe in der Kaposvar gelernt: Fünf Klassen Volksschule, vier Klassen Gymnasium und zwei Jahre lang als Lehrling in Maschinenschlosserwerkstatt. Im Herbst 1914 habe ich in der Handelsschule wieder lernen angefangen."

    Dieser von Nagy verfasste Lebenslauf in Deutsch entstammt dem Archiv der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Zwischen diesem handgeschriebenen Blatt, datiert mit April 1933, und den eingangs beschriebenen Lehrjahren, liegen Nagys "Wanderjahre". Während des Ersten Weltkriegs wurde er als Soldat in die k.u.k.-Armee eingezogen und geriet 1916 in russische Gefangenschaft - eine schicksalhafte Weichenstellung. In Sibirien erlebte er Oktoberrevolution und Bürgerkrieg und entschied, sich bei den Bolschewiki zu engagieren. - Janos Rainer kommentiert:

    "Immerhin scheint plausibel, dass einem jungen Mann von Anfang 20 mit seinem sozialen Hintergrund die russische Revolution wie eine grandiose überwältigende Antwort vorkam, besonders in Hinblick auf die prägende Grunderfahrung: die soziale Randstellung und die Hölle des Krieges."

    Nagy wurde damals Mitglied der Russischen Kommunistischen Partei, er arbeitete sogar in der Tscheka, dem bolschewistischen Sicherheitsdienst, bis ihn 1921 die Kommunistische Internationale mit anderen bekehrten Landsleuten nach Ungarn schickte, um dort eine Revolution vorzubereiten. In Kaposvar erwarb Nagy als Mitarbeiter einer Versicherung, Fachkenntnisse auf dem Agrarsektor. Das wird für sein künftiges Leben ein wichtiger Ausgangspunkt sein. Ähnlich wie der Erfolg, den er für die ansonsten eher phantomartige Kommunistische Partei durch Schaffung einer Ortszelle nachweisen konnte. Bald darauf zwang ihn das ungarische Horthy-Regime in die Illegalität.

    "Jetzt ... nahm er ... das Angebot an, hauptamtlicher Parteiarbeiter zu werden."

    Von dem soeben erreichten Zeitabschnitt an wurde er "Parteisoldat." Das heißt, zum Beispiel wenn er vom sowjetischen Modell abweichend eigene ungarische Vorstellungen entwickelte und verteidigt hatte, unterordnete er sich doch schließlich der Kommunistischen Partei als der Bezugsgröße seines Lebens. Und dieses Leben, dieses "Partei-Leben", ging nach der illegalen Arbeit ab 1930 für fast anderthalb Jahrzehnte erst einmal in der Sowjetunion weiter. Er entwickelte Agrarprogramme für die kommunistischen Parteien verschiedener Länder. Während der stalinistischen Säuberungen wurde er sogar festgenommen, verlor Arbeit und Parteimitgliedschaft. Dann fand er einen Platz beim Ungarn-Programm des Rundfunks. Mit der Befreiung Ungarns durch die Rote Armee, wurde angesichts der wenigen verbliebenen Kader, der Agrarexperte Nagy wieder interessant.

    "Am wertvollsten für die Partei war offenbar... sein sympathisches professorales Äußeres...um bei der bäuerlichen Bevölkerung wie in Intellektuellenkreisen für Sympathie zu werben."

    Er wurde der erste Ministerpräsident nach dem Krieg, Landwirtschaftsminister, Innenminister, Präsident der Nationalversammlung und stellvertretender Premier; 1952 verstieß ihn die Partei, um ihn wenig später, nach Stalins Tod, auf Moskauer Anraten wieder zum Regierungschef zu machen. Nagy errang durch einen liberalen, auf Ungarn zugeschnittenen Wirtschaftskurs Vertrauen in der Bevölkerung. Ein - wenngleich kommunistischer - Hoffnungsträger blieb er denn auch, als ihn die Altstalinisten wieder verdrängten und den "Neuen Kurs" abbrachen.

    "Seine Politik wurde Reformwilligen zur Bezugsgröße. Er hatte den Beweis erbracht, dass sinnvolles politisches Denken - vielleicht sogar Handeln - möglich war."

    Bekanntlich machten polnische Arbeiterunruhen 1956 die Führungen aller kommunistischen Staaten überaus nervös. Als in Ungarn vor allem Intellektuelle offen die Führung kritisiert und bereits tagelange offene Proteste hervorgerufen hatten, gipfelte eine Demonstration am 23. Oktober in Budapest in Sprechchören, die "Imre Nagy! Imre Nagy! Imre Nagy!" skandierten. Nagy, zu der Zeit zum einfachen Parteimitglied degradiert, zögerte jedoch zunächst, sich ins Parlamentsgebäude zu begeben.

    "Er entschloss sich erst dazu, als das Politbüro-Mitglied Jozsef Mekis ihn 'offiziell' bat, er möge kommen und zu den Menschen sprechen."

    Zögern sah man Nagy auch während der Tage des Aufstands, nachdem ihm die verzweifelte Partei, an die er sich zu klammern versucht hatte, das Amt des Regierungschefs aufdrängte. Erst nach Tagen öffnete er sein Ohr für die Forderungen der Bevölkerung, wie Demokratisierung, Abzug der Roten Armee und Neutralität, und schloss sich ihnen weitgehend an:

    "Wir dulden keine Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten. Wir stehen auf dem Standpunkt der Gleichberechtigung, der Souveränität und der internationalen Gleichberechtigkeit."

    Aber Janos Rainer kommentiert.

    "Es war nicht Imre Nagy, der 1956 das revolutionäre Ungarn gestaltet hat, sondern er wurde diesem in einem langsamen Prozess immer ähnlicher, bis beide tatsächlich zu Synonymen wurden."

    Dieses letztlich tragische Schicksal fand mit dem von Janos Kadar gewünschten Urteil - Tod durch Erhängen - und seiner Vollstreckung am 16. Juni 1956 sein Ende. Dies tragische Schicksal Imre Nagys, wurde 1989 zum Symbol, in dem sich Hoffnung, moralische Behauptung, Scheitern und Aufopferung widerspiegeln, was zur inneren Aussöhnung des nachkommunistischen Ungarn beitrug. Dies ist ein lesenswertes Buch, materialreich, verständnisvoll wie kritisch gegenüber seinem Helden. Es erlaubt erstmals über die bereits gut ausgeleuchteten Tage des Ungarnaufstands hinaus, sich ein komplettes Bild von Imre Nagy zu machen.

    Klaus Kuntze über Janos M. Rainer: "Imre Nagy. Vom Stalinisten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstands" Das Buch ist erschienen im Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, hat 282 Seiten und kostet 29,90 Euro.