"Na ja, jeder Mensch, der in der Öffentlichkeit agiert und seinen Kopf aus dem Fenster herausstreckt und dann zuweilen womöglich noch etwas anderes sagt als der Mainstream, handelt sich Ärger ein. Aber das passiert mir nicht das erste Mal, und ich schaue da relativ gelassen auf die Debatte."
So der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der als Projektleiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde arbeitet. Sein Arbeitgeber hat sich in einer internen Mitteilung vorsichtig von dessen Thesen distanziert, schließlich ist "Stasi konkret", Kowalczuks jüngstes Buch, keine offizielle Behörden-Publikation. Stein des Anstoßes sind Zahlen: Zahlen von Inoffiziellen Mitarbeitern, von kontrollierten Briefen. Mit einfachen Rechnungen weist Kowalczuk nach, dass mitunter unsinnig hohe Zahlenangaben der Stasi heute unkritisch übernommen würden, auch und gerade in seiner Behörde. Er wendet sich gegen die Selbst-Mythisierung der Stasi vor 1989 und ihre Dämonisierung nach 1989 - gegen sensationsheischende, überzogene Thesen, Zahlen, Annahmen.
"Das zweite, was dabei wichtig ist, dass gerade in den 90er-Jahren viele Menschen immer glaubten, um so bombastischere Zahlen, umso höher die Angaben sind, umso leichter ließe sich dieses ganze System delegitimieren. Und jetzt, 20 Jahre später, glaube ich, dass man sagen kann: Wir können da ein bisschen nüchterner hinschauen; das System wird nicht schlechter oder besser dadurch, dass die Zahlen hoch oder niedrig sind, sondern eine tatsächliche Aufarbeitung und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema kann nur funktionieren, wenn wir genau hinschauen. Und da geht es dann am Ende des Tages gar nicht so sehr um Zahlen, sondern um Systemkonstruktion, also wie das System eigentlich funktionierte und dass die Staatssicherheit eine wichtige, aber eben auch nur eine Rolle wahrgenommen hat."
Damit regt Kowalczuk eine weitere Diskussion an, die fruchtbarer als die um die genaue Anzahl der Inoffiziellen Mitarbeiter erscheint: Er plädiert für eine umfassende IM-Forschung, die es bislang kaum gebe. Die eigenen Kategorien der Stasi seien hierfür wenig hilfreich.
"Eine solche Forschung könnte das Label IM in eine historische Betrachtung überführen, die nicht mehr der Frage nachspürt, ob jemand IM oder nicht IM war, sondern typologische Verhaltens- und Handlungsnormen in der Diktatur entwirft und fragt, was jemand tat und nicht, wie jemand bezeichnet wurde. So eröffneten sich Wege, die Komplexität der SED-Diktatur in den Blick zu nehmen und die Stasi als einen Teil von vielen anderen der Diktatur zu historisieren."
Besonders wichtig ist es Kowalczuk, die Rolle der Stasi in der DDR klar zu definieren: Er beschreibt den Wandel der MfS-Methoden vom offenen Terror der 50er-Jahre mit Folter und Justizmorden über den subtilen Terror der "Zersetzung" von wirklichen oder vermeintlichen "Feinden" bis zum fast resignierten "Kontrollieren, Einschränken und Begrenzen" der späten 80er-Jahre. Immer aber habe die SED das Zepter in der Hand gehabt.
"Also, ich versuche deutlich zu machen, dass die Staatssicherheit, so wie die SED ja selbst, ein Kind Moskaus war, das auch viele Jahre blieb, und insofern gab es da immer wieder Konflikte zwischen der Parteiführung und der Staatssicherheit, die aber letztendlich, wie wir wissen, am Ende dieses Prozesses die Staatssicherheit voll endlich beherrschte; und ich gehe soweit zu sagen: Die Staatssicherheit war nicht nur 'Schild und Schwert der Partei', sondern sie war ein konstitutionelles Strukturelement der Partei selbst. Ich bezeichne sie als eine Parteiinstitution."
In anschaulichen Fallstudien zeigt der Autor, wie eng die Verzahnung zwischen SED und Stasi war. Er weist aber auch nachdrücklich darauf hin, dass SED und MfS nur an der Spitze eines Sicherungs-, Kontroll- und Überwachungsgeflechts standen, in dem Parteien, Kollektive, Aktive, Organisationen, Universitäten, Schulen, Ausschüsse, Komitees, Ordnungsgruppen etc. eingewoben waren. Wer die Unterdrückung nur in der Stasi sehe, verkenne den Charakter der SED-Diktatur.
"Durch die komplexen Überwachungs-, Disziplinierungs- und Repressionssysteme, die das SED-Regime nach dem 17. Juni 1953 errichtete, sollten die einzelnen Individuen zum unsichtbaren Teil eines großen Ganzen werden. Ziel war es, die Menschen in der DDR ihrer Individualität zu berauben: Massenaufmärsche, Fahnenappelle, vormilitärische Ausbildung, Organisationskleidung, Parteiabzeichen, Beflaggungen an privaten Häusern, Propagandalosungen, Selbstverpflichtungen, Brigademitgliedschaft, sozialistische Hausgemeinschaften und vieles mehr waren die Mittel dazu. So entstand ein engmaschiges und breit gefächertes Überwachungssystem, in dem die Stasi aber nur einen Part spielte und oft genug, wohl überwiegend, nicht anwesend war bzw. zu sein brauchte."
Ilko-Sascha Kowalczuk erklärt die Stasi in ihrem historischen Entstehen und Werden, in ihren sich wandelnden Methoden, in ihrer Kader- Organisations- und Bildungsstruktur, in ihrer Motivation. Dabei wird deutlich, dass er nicht primär verurteilen, sondern verstehen will. Dennoch ist er ein Mann der klaren Worte. So liest sich sein Buch über weite Strecken spannend und auch unterhaltsam: Bei ihm verlieren die Akten ihren Staub, seine Sprache ist erfrischend anders als in der deutschen wissenschaftlichen Literatur gewohnt. Anhand prägnanter Beispiele untersucht Kowalczuk die kritischen Momente der DDR und deren Auswirkungen auf Gesellschaft, Partei und Staatssicherheit: den 17. Juni, den Mauerbau, den XX. Parteitag der KPdSU, den Prager Frühling.
"Der Mauerbau bedeutete den Gipfelpunkt des Terrorsystems – Millionen wurden über Nacht weggeschlossen, eingesperrt, die DDR-Menschen wurden endgültig pauschal zu Insassen. Die Mauer wurde zum sichtbarsten Zeichen des Überwachungs-, Disziplinierungs- und Repressionssystems. Nicht ihr Bau war der oft zitierte "heimliche Gründungstag" der DDR, sondern der niedergeschlagene Volksaufstand vom 17. Juni, der im Zentrum der 'inneren Staatsgründung' stand, ein Prozess, an dessen Ende der Mauerbau erfolgen konnte."
Durch seine profunde Aktenkenntnis gelingt es Kowalczuk, faszinierende und tragische Lebensgeschichten von Opfern und Tätern zu präsentieren, die schlaglichtartig die Realität in der DDR erhellen. Ein erwähnter, nicht weiter ausgeführter, aber dringend zu untersuchen werter Fakt ist, dass unter 12.000 Führungsoffizieren nicht einmal zehn Frauen waren. Was sagt das über die Rolle von Frauen im MfS, möglicherweise aber auch über die Bereitschaft von Frauen, in einem Repressionsapparat zu arbeiten? Kowalczyk stellt mit dieser Arbeit mehr Fragen, als er beantwortet. Sie ist damit sowohl eine sehr lesenswerte Einführung in die Geschichte der Stasi als auch ein wichtiger Anstoß, in der Stasi-Forschung 23 Jahre nach Öffnung der Archive neue Türen aufzustoßen.
Ilko-Sascha Kowalczuk: "Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR", C.H. Beck Verlag, 428 Seiten, 17,95 Euro, ISBN: 978-3-40663-838-1
So der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der als Projektleiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde arbeitet. Sein Arbeitgeber hat sich in einer internen Mitteilung vorsichtig von dessen Thesen distanziert, schließlich ist "Stasi konkret", Kowalczuks jüngstes Buch, keine offizielle Behörden-Publikation. Stein des Anstoßes sind Zahlen: Zahlen von Inoffiziellen Mitarbeitern, von kontrollierten Briefen. Mit einfachen Rechnungen weist Kowalczuk nach, dass mitunter unsinnig hohe Zahlenangaben der Stasi heute unkritisch übernommen würden, auch und gerade in seiner Behörde. Er wendet sich gegen die Selbst-Mythisierung der Stasi vor 1989 und ihre Dämonisierung nach 1989 - gegen sensationsheischende, überzogene Thesen, Zahlen, Annahmen.
"Das zweite, was dabei wichtig ist, dass gerade in den 90er-Jahren viele Menschen immer glaubten, um so bombastischere Zahlen, umso höher die Angaben sind, umso leichter ließe sich dieses ganze System delegitimieren. Und jetzt, 20 Jahre später, glaube ich, dass man sagen kann: Wir können da ein bisschen nüchterner hinschauen; das System wird nicht schlechter oder besser dadurch, dass die Zahlen hoch oder niedrig sind, sondern eine tatsächliche Aufarbeitung und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema kann nur funktionieren, wenn wir genau hinschauen. Und da geht es dann am Ende des Tages gar nicht so sehr um Zahlen, sondern um Systemkonstruktion, also wie das System eigentlich funktionierte und dass die Staatssicherheit eine wichtige, aber eben auch nur eine Rolle wahrgenommen hat."
Damit regt Kowalczuk eine weitere Diskussion an, die fruchtbarer als die um die genaue Anzahl der Inoffiziellen Mitarbeiter erscheint: Er plädiert für eine umfassende IM-Forschung, die es bislang kaum gebe. Die eigenen Kategorien der Stasi seien hierfür wenig hilfreich.
"Eine solche Forschung könnte das Label IM in eine historische Betrachtung überführen, die nicht mehr der Frage nachspürt, ob jemand IM oder nicht IM war, sondern typologische Verhaltens- und Handlungsnormen in der Diktatur entwirft und fragt, was jemand tat und nicht, wie jemand bezeichnet wurde. So eröffneten sich Wege, die Komplexität der SED-Diktatur in den Blick zu nehmen und die Stasi als einen Teil von vielen anderen der Diktatur zu historisieren."
Besonders wichtig ist es Kowalczuk, die Rolle der Stasi in der DDR klar zu definieren: Er beschreibt den Wandel der MfS-Methoden vom offenen Terror der 50er-Jahre mit Folter und Justizmorden über den subtilen Terror der "Zersetzung" von wirklichen oder vermeintlichen "Feinden" bis zum fast resignierten "Kontrollieren, Einschränken und Begrenzen" der späten 80er-Jahre. Immer aber habe die SED das Zepter in der Hand gehabt.
"Also, ich versuche deutlich zu machen, dass die Staatssicherheit, so wie die SED ja selbst, ein Kind Moskaus war, das auch viele Jahre blieb, und insofern gab es da immer wieder Konflikte zwischen der Parteiführung und der Staatssicherheit, die aber letztendlich, wie wir wissen, am Ende dieses Prozesses die Staatssicherheit voll endlich beherrschte; und ich gehe soweit zu sagen: Die Staatssicherheit war nicht nur 'Schild und Schwert der Partei', sondern sie war ein konstitutionelles Strukturelement der Partei selbst. Ich bezeichne sie als eine Parteiinstitution."
In anschaulichen Fallstudien zeigt der Autor, wie eng die Verzahnung zwischen SED und Stasi war. Er weist aber auch nachdrücklich darauf hin, dass SED und MfS nur an der Spitze eines Sicherungs-, Kontroll- und Überwachungsgeflechts standen, in dem Parteien, Kollektive, Aktive, Organisationen, Universitäten, Schulen, Ausschüsse, Komitees, Ordnungsgruppen etc. eingewoben waren. Wer die Unterdrückung nur in der Stasi sehe, verkenne den Charakter der SED-Diktatur.
"Durch die komplexen Überwachungs-, Disziplinierungs- und Repressionssysteme, die das SED-Regime nach dem 17. Juni 1953 errichtete, sollten die einzelnen Individuen zum unsichtbaren Teil eines großen Ganzen werden. Ziel war es, die Menschen in der DDR ihrer Individualität zu berauben: Massenaufmärsche, Fahnenappelle, vormilitärische Ausbildung, Organisationskleidung, Parteiabzeichen, Beflaggungen an privaten Häusern, Propagandalosungen, Selbstverpflichtungen, Brigademitgliedschaft, sozialistische Hausgemeinschaften und vieles mehr waren die Mittel dazu. So entstand ein engmaschiges und breit gefächertes Überwachungssystem, in dem die Stasi aber nur einen Part spielte und oft genug, wohl überwiegend, nicht anwesend war bzw. zu sein brauchte."
Ilko-Sascha Kowalczuk erklärt die Stasi in ihrem historischen Entstehen und Werden, in ihren sich wandelnden Methoden, in ihrer Kader- Organisations- und Bildungsstruktur, in ihrer Motivation. Dabei wird deutlich, dass er nicht primär verurteilen, sondern verstehen will. Dennoch ist er ein Mann der klaren Worte. So liest sich sein Buch über weite Strecken spannend und auch unterhaltsam: Bei ihm verlieren die Akten ihren Staub, seine Sprache ist erfrischend anders als in der deutschen wissenschaftlichen Literatur gewohnt. Anhand prägnanter Beispiele untersucht Kowalczuk die kritischen Momente der DDR und deren Auswirkungen auf Gesellschaft, Partei und Staatssicherheit: den 17. Juni, den Mauerbau, den XX. Parteitag der KPdSU, den Prager Frühling.
"Der Mauerbau bedeutete den Gipfelpunkt des Terrorsystems – Millionen wurden über Nacht weggeschlossen, eingesperrt, die DDR-Menschen wurden endgültig pauschal zu Insassen. Die Mauer wurde zum sichtbarsten Zeichen des Überwachungs-, Disziplinierungs- und Repressionssystems. Nicht ihr Bau war der oft zitierte "heimliche Gründungstag" der DDR, sondern der niedergeschlagene Volksaufstand vom 17. Juni, der im Zentrum der 'inneren Staatsgründung' stand, ein Prozess, an dessen Ende der Mauerbau erfolgen konnte."
Durch seine profunde Aktenkenntnis gelingt es Kowalczuk, faszinierende und tragische Lebensgeschichten von Opfern und Tätern zu präsentieren, die schlaglichtartig die Realität in der DDR erhellen. Ein erwähnter, nicht weiter ausgeführter, aber dringend zu untersuchen werter Fakt ist, dass unter 12.000 Führungsoffizieren nicht einmal zehn Frauen waren. Was sagt das über die Rolle von Frauen im MfS, möglicherweise aber auch über die Bereitschaft von Frauen, in einem Repressionsapparat zu arbeiten? Kowalczyk stellt mit dieser Arbeit mehr Fragen, als er beantwortet. Sie ist damit sowohl eine sehr lesenswerte Einführung in die Geschichte der Stasi als auch ein wichtiger Anstoß, in der Stasi-Forschung 23 Jahre nach Öffnung der Archive neue Türen aufzustoßen.
Ilko-Sascha Kowalczuk: "Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR", C.H. Beck Verlag, 428 Seiten, 17,95 Euro, ISBN: 978-3-40663-838-1