"Die Mehrheit der Menschen erzählt es erst Jahrzehnte später."
Brigitte Braun, seit dreißig Jahren spezialisiert auf das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder.
"Weil es der richtige Zeitpunkt ist, die richtige Person, es irgend 'nen Anlass gibt, es loswerden zu wollen, es gibt weniger Druck, handeln zu müssen, und für Kinder ist es noch mal wesentlich schwerer, jemanden zu finden, der ihnen glaubt, ihnen auf Augenhöhe begegnet und ihnen tatsächlich zur Seite steht -, weil es ja dann auch darum geht, für jemanden zu streiten."
Der richtige Zeitpunkt war für ehemalige Schüler des Berliner Canisius-Kollegs vor einem Jahr. Damals machte der Rektor dieser Jesuiten-Schule knapp zwei Dutzend Fälle aus den siebziger und achtziger Jahren öffentlich - und trat eine Lawine los. Immer mehr ehemalige Missbrauchsopfer dieser und anderer katholischer Schulen, aber auch von Reform-Internaten wie der hessischen Odenwaldschule brachen das Schweigen. Viele gingen an die Öffentlichkeit oder wandten sich an Beratungsstellen.
Hilfe suchen auch akut Betroffene wie Sandra G.: Ihre Tochter Lili war drei Jahre alt, als sie eines Abends erzählte, der Praktikant im Kindergarten habe sie an der Innenseite der Schenkel gekitzelt und ihr seinen nackten Popo gezeigt.
"Du gehst nicht hin und denkst: "Ach, das Dreckschwein hat mein Kind angefasst" - du bist erst mal ohnmächtig. Du suchst nach irgend 'nem Strohhalm, das das alles relativiert, dass dieser Albtraum nicht - ich bin wirklich vier Wochen lang durch die Gegend gerannt und hab gedacht: Das gibt es nicht! Da muss es 'ne plausible Erklärung für geben!"
Julia Zinsmeister ist Professorin für Zivil- und Sozialrecht an der Fachhochschule Köln. Sie forscht und berät zum Thema Gewaltschutz in Institutionen.
"Das wollen wir nicht glauben! Wir kennen diesen Menschen und schätzen ihn, halten ihn für kompetent, in einzelnen Bereichen vielleicht für problematisch, aber ich glaube, niemand würde Menschen in seinem Umfeld unterstellen, dass sie zu so etwas in der Lage wären."
Sexuelle Übergriffe passieren nicht zufällig, betont Julia Zinsmeister. Täter suchen gezielt die Nähe zu Kindern - in Schulen, Kindergärten und Sportvereinen, Kirchengemeinden und Pfadfindergruppen, Pflegefamilien oder Heimen der Kinder- und Jugendhilfe. Oft sind sie hilfsbereite, verständnisvolle Mitarbeiter und werden von den Kollegen hoch geschätzt.
"Es sind geschlossene Systeme; es sind Systeme, in denen die Betroffenen dem Täter oder der Täterin sehr häufig emotional engst verbunden sind; das ist eine Vertrauensperson, eine Autoritätsperson für sie; da bestehen Abhängigkeiten, und das andere ist natürlich, dass auch innerhalb des Systems der Täter oft mit geschützt wird, also die Betroffenen auch nicht erwarten, von Familienangehörigen oder Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Einrichtung Schutz zu bekommen und Unterstützung zu bekommen, weil sehr häufig ja auch der Täter oder die Täterin das gesamte System mit manipuliert."
Diese Erfahrung macht zunächst auch Sandra G.. Nach Lilis Hinweisen wendet sie sich an den Kindergarten.
"Komme dann da an, suche das Gespräch mit der damaligen Kindergartenleitung, sag: "Passen Sie mal auf, die Lili hat mir das und das erzählt, ich will den Typ jetzt hier sehen!" - "Nee, also das ist ja unglaublich, diese Vorwürfe, den holen wir jetzt nicht dazu, setzen Sie sich mal hin, wir regeln das hier, ich sprech' mit dem nachher, blablabla, aber das sind ja unglaubliche Vorwürfe, der Praktikant ist uns immer positiv aufgefallen, der ist ja so hilfsbereit, der ist ja als Kind selber hier in die Einrichtung gegangen, und ich kenn auch die Mutter, und der kommt ja aus 'nem guten Elternhaus, und blabla."
Sandra G. fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Erbost fragt sie, wieso die Erzieherinnen die Übergriffe nicht bemerkt haben.
Fachleute wissen die Antwort: Täter testen oft schrittweise, wie weit sie Grenzen verletzen können: Sie platzen zum Beispiel wie zufällig ins Bad, wenn ein Jugendlicher duscht, oder sie ziehen einzelne Kinder anderen vor, nehmen sie etwa mit nach Hause. Es muss nicht gleich sexueller Missbrauch dahinterstecken; in jedem Fall aber ist es, wie Fachleute sagen, "pädagogisches Fehlverhalten". Im Nachhinein berichten andere Betreuer oft von einem "komischen Gefühl", trauen sich aber in der konkreten Situation nicht, dieses anzusprechen. Das beklagt auch Julia Zinsmeister:
"Das ist sicherlich eines der Hauptprobleme: Dass diejenigen, die von Grenzverletzungen erfahren, häufig schweigen. Und zwar nicht nur über Wochen, sondern über Monate und Jahre."
Die Mitarbeiter schweigen, weil sie von dem Verdächtigen abhängig sind oder sich ihm verpflichtet fühlen. Kritische Fragen werden als Kollegenschelte diffamiert. Aus den Leitungen der Einrichtungen heißt es oft, "bei uns passiert so etwas nicht". Die Chefs und Chefinnen scheuen sich, konsequent nachzuhaken. Supervisorin Brigitte Braun:
"Ehrenamt gilt als klassische Methode der Opferbeschaffung, und ich weiß, dass ehrenamtliche Organisationen diskutieren, ob sie ihren Ehrenamtlern zumuten können, 'n erweitertes Führungszeugnis zu bringen, oder ob das nicht deutlich Misstrauen zeigen würde."
Der Kindergarten, den Sandra G.s Tochter besucht, handelt umgehend: Die Stadt Köln, Trägerin der Einrichtung, entlässt den Praktikanten, nachdem mehrere Eltern ihn beschuldigt haben. Und Tochter Lili?
"Jetzt teilte die sich natürlich peu à peu immer weiter mit. Das Kind öffnete sich, das Kind erzählte mir von weiteren wirklich ekelhaften Sachen, es stellte sich dann auch ein, dass ich dem Kind wirklich über 'n halbes Jahr lang den Kot holen musste. Weil das Kind mit dem Popo einfach Schmerzen verbunden hat. Und ich 'n künstlichen Durchfall erzeugen musste."
Schnell wird bekannt: Mehrere Kinder erzählen die gleichen Geschichten von massiven sexuellen Übergriffen. Sandra G. wendet sich an die Kölner Fachberatungsstelle Zartbitter. Deren Mitarbeiter raten ihr, Lili in der Universitätsklinik untersuchen zu lassen. Der Befund:
"Das Kind hat Abschürfungen im Scheidenbereich und Vernarbungen auf dem Hymen, also auf dem Jungfernhäutchen. Es ist hier ganz klar davon auszugehen, dass hier mit irgendwas, ist eingeführt worden. Wat da nicht reingehört! Überhaupt nicht reingehört!"
Ein anderes Mädchen ist noch schwerer verletzt. Der begutachtende Professor untermauert den Verdacht, dass die Kinder sexuell missbraucht worden sind. Sandra G. und weitere Eltern erstatten Anzeige.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt und beauftragt ein rechtspsychologisches Institut, die Glaubwürdigkeit der Kinder zu beurteilen. Die Psychologin, die das Gutachten erstellt, lernt Lili nie kennen, sondern urteilt nach Aktenlage. Ergebnis: Die Mutter habe ihrer Tochter möglicherweise suggestive Fragen gestellt. Sie sei mit der Mutter des anderen verletzten Kindes befreundet, sodass sich nicht ausschließen lasse, dass die Kinder sich getroffen und sich die Wunden im Genitalbereich selbst zugefügt hätten. Michaela S., die Mutter eines weiteren betroffenen Kindes, ist empört:
"Die haben zwar alle die gleiche Einrichtung besucht, aber die kennen sich untereinander gar nicht. Mein Kind kennt zum Beispiel dieses schwer verletzte Kind, kennt sie gar nicht. Oder ihr Kind: Ja, man hat sich mal gesehen, "Tach und guten Weg!" Sie können mein Kind heute noch fragen, sie erzählt heute noch genau dasselbe, was sie vor anderthalb Jahren erzählt hat."
Ein Dreivierteljahr nach der Anzeige stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Mangels an Beweisen ein. Sozialrechtsprofessorin Julia Zinsmeister und Rechtsanwältin Petra Ladenburger:
Julia Zinsmeister: "Da ist eben wichtig zu sehen, es gibt zwar die Unschuldsvermutung zugunsten eines Tatverdächtigen, und die ist auch wichtig in unserem Rechtsstaat, aber sie führt nicht dazu, dass man Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung damit verneinen kann. Sondern die Kindeswohlgefährdung bleibt, und hier muss eben eine sehr fachgerechte Abwägung erfolgen, und aufgrund dieser Abwägung müssen dann eben präventiv Maßnahmen ergriffen werden, wie zum Beispiel als allererstes Mal eine Freistellung, um die Umstände weiter zu klären..."
Petra Ladenburger: "Die Institutionen haben ja nicht nur andere Mittel als die Justiz, sondern sie haben auch 'n anderen Auftrag."
Das strafrechtliche Verfahren beeinflusst nicht notwendigerweise die arbeitsrechtliche Entscheidung. Werden einem Mitarbeiter sexuelle Übergriffe vorgeworfen, kann die Leitung der betroffenen Einrichtung jedoch eine Verdachtskündigung aussprechen. Petra Ladenburger:
"Es geht ja nicht nur drum zu gucken, wie kann geahndet werden, was passiert ist; sondern es geht ja auch darum, wie geht es in der Einrichtung weiter mit dem Kind, das noch in der Einrichtung ist, mit den anderen Kindern."
Nicht nur für die Kinder, auch für die Mitarbeiter der Einrichtungen ist wichtig, wie es nach einem Missbrauchsverdacht weitergeht, erklärt Brigitte Braun von der Beratungsstelle Wildwasser - Fachleute sprechen von "traumatisierten Institutionen".
"Einrichtungen, die da durchgegangen sind, obliegen der Gefahr, nachdem dann Anzeige erstattet ist, der Täter nicht mehr in der Einrichtung ist: "Und jetzt ist gut! Jetzt haben wir das gelöst." Und alles, was aber sonst noch passiert, was unter den Kollegen, Kolleginnen passiert, was die Kinder und Jugendlichen mitnehmen, was es ebenfalls anrichtet und nicht nur mit der Situation, dass 'n Täter außer Haus ist, beendet wird - das ist dann nicht mehr besprechbar."
Fachleute sind sich einig: Es reicht nicht, die Punkte eines Handlungsleitfadens abzuhaken oder Prävention an einzelne Kollegen zu delegieren. Alle Mitarbeiter einer Einrichtung müssen sich persönlich einbringen, müssen grenzachtend und wertschätzend mit Kindern und Jugendlichen umgehen - aber auch miteinander. Darüber hinaus, so Julia Zinsmeister, gibt es bestimmte Strukturen, die sexualisierte Übergriffe erschweren.
"Klassische Risikofaktoren: erstens die Geschlossenheit des Systems. Inwieweit sucht sich denn eine Organisation auch gezielt, also inwieweit öffnet sie sich nach außen, inwieweit arbeitet sie zum Beispiel auch mit externen Beratungsstellen zusammen, gibt es ein externes Beratungssystem, dass zum Beispiel die Kinder Ombudspersonen haben, an die sie sich wenden können, jederzeit, wenn sie sich nicht gut behandelt fühlen, das macht 'n großen Unterschied, ob ich dazu externe Personen ansprechen kann, oder ob mir da nur gesagt wird: Du hast ja da deine Vertrauenslehrerin, die eben Teil des Systems ist und von den Kindern auch als Teil des Systems wahrgenommen wird."
Notwendig ist also, Kompetenzen innerhalb einer Institution klar zu verteilen sowie verbindlich zu regeln, wie mit Konflikten umgegangen wird. Alle Verfahren müssen transparent sein. Denn wie zum Beispiel sollen Pädagogen sich kleinen Kindern gegenüber verhalten, die kuscheln wollen, oder Jugendlichen, die eine freundschaftliche Umarmung brauchen? Darüber muss im Team individuell gesprochen werden. Beraterin Brigitte Braun:
"Es wird so oft als schwierig bewertet, weil wir 'ne Abstufung haben: Nähe gilt als gut und Abstand oder Distanz gilt als schlecht. Das heißt, es scheint neben dem einfach zu berühren, in den Arm nehmen, trösten, anfassen - das Gegenüber scheint immer zu sein: Dann ist jemand wie 'ne Wand oder es gibt überhaupt keine Berührung mehr; und es ist nicht so! Es gibt ganz viel dazwischen. Oder wenn Sie sich mal anschauen, wie Berührungen ausgeübt werden, dann fällt auf: Berührungen gehen immer von oben nach unten. Das heißt, die scheinbar Stärkeren trauen sich, die scheinbar Schwächeren zu berühren, ohne zu fragen."
Mit diesen und anderen fachlichen Differenzierungen haben sich Beratungsstellen und Wissenschaftler lange beschäftigt. Sie haben Konzepte entwickelt, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Dafür gab es kaum Interesse und Aufmerksamkeit. Das hat sich seit Januar 2010 geändert, als die ehemaligen Opfer das Schweigen gebrochen haben. Seitdem sind Übergriffe in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen Thema in Politik und Medien. Und in den Landesjugendämtern wächst das Bewusstsein dafür, dass es nicht reicht zu überprüfen, ob eine Einrichtung genug Räume und Personal hat. Brigitte Braun von der Fachberatungsstelle Wildwasser:
"Und damit hat Prävention auch 'ne politische Dimension, was ich wichtig finde, dass es nicht nur 'ne individuelle Leistung ist: Wie schütze ich mein Kind? Ja? Sondern wie werden Kinder insgesamt geschützt, welche Konzepte müssen Einrichtungen darlegen, wie wird überhaupt geprüft, ob die Pädagogik 'n präventiven Charakter hat?"
Auch buchen Einrichtungen mittlerweile deutlich mehr Fortbildung und fachliche Supervision, sagt Brigitte Braun. Die Juraprofessorin Julia Zinsmeister und die Rechtsanwältin Petra Ladenburger untersuchen zum Beispiel die Missbrauchsfälle am Aloïsiuskolleg in Bonn - nicht nur dort will die Schulleitung aufklären.
Julia Zinsmeister: "Früher war es so, dass wir solche Anfragen eigentlich nur erhielten, wenn etwas passiert war. Und somit für die Institution klar war: Wir müssen etwas tun, es betrifft uns auch. Jetzt eben melden sich auch Institutionen, die nicht von eigenen konkreten Vorfällen berichten ..."
Petra Ladenburger: "Ich glaube, so im Grundsätzlichen hat sich was geändert, weil niemand mehr sagen würde: "Bei uns kann so was nicht mehr passieren."
Seit April vergangenen Jahres ist das Thema Chefsache der Bundesregierung - seitdem tagt der Runde Tisch "Sexueller Kindesmissbrauch" unter dem gemeinsamen Vorsitz von Familien-, Bildungs- und Justizministerin. Vertreter von Politik, Wissenschaft und Verbänden sollen herausfinden - Zitat - "welche Hilfe und Unterstützung die Opfer benötigen, was nach Übergriffen zu tun ist und wie sie sich vermeiden lassen". Die maßgeblichen Beratungsstellen waren in dem Gremium zunächst gar nicht vertreten. Dazu Brigitte Braun:
"Mein zurückgelehntes Beobachten war manchmal amüsiert, manchmal sehr verärgert und manchmal wirklich sehr, sehr erstaunt, weil mit dem Thema stellenweise umgegangen worden ist, als wäre es total neu und als gäbe es nicht schon seit dreißig Jahren Fachberatungsstellen, die sich damit und mit nichts anderem beschäftigen. Und Konzepte vorlegen können, Erfahrungen vorweisen können und sich einfach auskennen in diesem Bereich."
Die Juristin Julia Zinsmeister gehört zur Arbeitsgruppe Forschung und Lehre des Runden Tisches. Sie bemängelt, dass die spezialisierten Beratungsstellen seit Jahrzehnten keine gesicherte gesetzliche Finanzierung haben, und wünscht sich ...
"... endlich diese gesamte Unterstützung, psychosoziale Unterstützung für Betroffene von Gewalt auf gesicherte finanzielle Füße zu stellen; es wird jetzt sehr, sehr viel Forschungstätigkeit angestoßen; es wird auf Bundesebene am Runden Tisch über Präventionskonzepte nachgedacht; all das ist gut, aber die Sorge von vielen Beteiligten ist, dass man all das, was schon entwickelt worden ist, quasi jetzt überhaupt nicht beachtet, sondern Diskussionen jetzt wieder von Neuem anfängt und eben dort, wo eigentlich erkennbar seit Jahrzehnten die Probleme in der Praxis liegen, nicht als Allererstes ansetzt. Und die Sorge teile ich."
Das heißt konkret: Die örtlichen Beratungsstellen bleiben Dreh- und Angelpunkt des Hilfesystems. Obwohl die Bundesregierung parallel zum Runden Tisch eine Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs ernannt hat: Christine Bergmann. Ihrer Kampagne "Sprechen hilft" sind Tausende Menschen gefolgt, die vor allem eines wollen: berichten - ohne gleich ein Strafverfahren in Gang zu setzen und Beweise beibringen zu müssen, betonen Julia Zinsmeister und Brigitte Braun:
"Die Frage ist ja, ob sich überhaupt dadurch mehr Betroffene melden. Also, wenn wir uns anschauen, wer sich gemeldet hat in diesem Jahr, so waren es ganz, ganz überwiegend Menschen, die vor sehr langer Zeit sexualisierte Übergriffe oder auch andere Formen von Gewalt in Institutionen erlebt haben; eben sehr bezeichnend ist, dass meistens die Übergriffe sehr, sehr lange zurückliegen. Und das bedeutet, dass unter Umständen diejenigen, die aktuell betroffen sind oder es in den letzten Jahren waren, nach wie vor schweigen, und das hat natürlich auch mit der Dynamik des sexuellen Missbrauchs zu tun."
"Was die Betroffenen angeht, so gibt es einen Teil, für die das sehr entlastend ist, dass so viele darüber sprechen und sie sich da wiederfinden, egal ob sie selber mitsprechen; und für einen ganz ungeheuren Teil, die werden in einer Tour getriggert. Das heißt, wann immer sie Fernsehen anmachen oder die Zeitung aufschlagen, werden sie erinnert an ihr eigenes Leid."
So geht es auch Sandra G.. Sie hat ihr Schweigen zwar schon vor längerer Zeit gebrochen - sie ist für ihre Tochter eingetreten und hat sich darüber hinaus ihren eigenen Verletzungen gestellt. Aber auch sie findet es keineswegs leichter, über sexuelle Gewalt zu sprechen, seit dieses Thema in Politik und Presse präsent ist.
"Nein. Nein. Ich bin selber ein Missbrauchsopfer über viele Jahre gewesen; ich hab lange gebraucht, um darüber zu reden; das wird totgeschwiegen. Es wird einfach totgeschwiegen, es ist 'n unangenehmes Thema; es wird eher gefragt, wie geht's denn Deiner nierenkranken Katze, als: Was macht denn Dein Kind?"
Brigitte Braun, seit dreißig Jahren spezialisiert auf das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder.
"Weil es der richtige Zeitpunkt ist, die richtige Person, es irgend 'nen Anlass gibt, es loswerden zu wollen, es gibt weniger Druck, handeln zu müssen, und für Kinder ist es noch mal wesentlich schwerer, jemanden zu finden, der ihnen glaubt, ihnen auf Augenhöhe begegnet und ihnen tatsächlich zur Seite steht -, weil es ja dann auch darum geht, für jemanden zu streiten."
Der richtige Zeitpunkt war für ehemalige Schüler des Berliner Canisius-Kollegs vor einem Jahr. Damals machte der Rektor dieser Jesuiten-Schule knapp zwei Dutzend Fälle aus den siebziger und achtziger Jahren öffentlich - und trat eine Lawine los. Immer mehr ehemalige Missbrauchsopfer dieser und anderer katholischer Schulen, aber auch von Reform-Internaten wie der hessischen Odenwaldschule brachen das Schweigen. Viele gingen an die Öffentlichkeit oder wandten sich an Beratungsstellen.
Hilfe suchen auch akut Betroffene wie Sandra G.: Ihre Tochter Lili war drei Jahre alt, als sie eines Abends erzählte, der Praktikant im Kindergarten habe sie an der Innenseite der Schenkel gekitzelt und ihr seinen nackten Popo gezeigt.
"Du gehst nicht hin und denkst: "Ach, das Dreckschwein hat mein Kind angefasst" - du bist erst mal ohnmächtig. Du suchst nach irgend 'nem Strohhalm, das das alles relativiert, dass dieser Albtraum nicht - ich bin wirklich vier Wochen lang durch die Gegend gerannt und hab gedacht: Das gibt es nicht! Da muss es 'ne plausible Erklärung für geben!"
Julia Zinsmeister ist Professorin für Zivil- und Sozialrecht an der Fachhochschule Köln. Sie forscht und berät zum Thema Gewaltschutz in Institutionen.
"Das wollen wir nicht glauben! Wir kennen diesen Menschen und schätzen ihn, halten ihn für kompetent, in einzelnen Bereichen vielleicht für problematisch, aber ich glaube, niemand würde Menschen in seinem Umfeld unterstellen, dass sie zu so etwas in der Lage wären."
Sexuelle Übergriffe passieren nicht zufällig, betont Julia Zinsmeister. Täter suchen gezielt die Nähe zu Kindern - in Schulen, Kindergärten und Sportvereinen, Kirchengemeinden und Pfadfindergruppen, Pflegefamilien oder Heimen der Kinder- und Jugendhilfe. Oft sind sie hilfsbereite, verständnisvolle Mitarbeiter und werden von den Kollegen hoch geschätzt.
"Es sind geschlossene Systeme; es sind Systeme, in denen die Betroffenen dem Täter oder der Täterin sehr häufig emotional engst verbunden sind; das ist eine Vertrauensperson, eine Autoritätsperson für sie; da bestehen Abhängigkeiten, und das andere ist natürlich, dass auch innerhalb des Systems der Täter oft mit geschützt wird, also die Betroffenen auch nicht erwarten, von Familienangehörigen oder Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Einrichtung Schutz zu bekommen und Unterstützung zu bekommen, weil sehr häufig ja auch der Täter oder die Täterin das gesamte System mit manipuliert."
Diese Erfahrung macht zunächst auch Sandra G.. Nach Lilis Hinweisen wendet sie sich an den Kindergarten.
"Komme dann da an, suche das Gespräch mit der damaligen Kindergartenleitung, sag: "Passen Sie mal auf, die Lili hat mir das und das erzählt, ich will den Typ jetzt hier sehen!" - "Nee, also das ist ja unglaublich, diese Vorwürfe, den holen wir jetzt nicht dazu, setzen Sie sich mal hin, wir regeln das hier, ich sprech' mit dem nachher, blablabla, aber das sind ja unglaubliche Vorwürfe, der Praktikant ist uns immer positiv aufgefallen, der ist ja so hilfsbereit, der ist ja als Kind selber hier in die Einrichtung gegangen, und ich kenn auch die Mutter, und der kommt ja aus 'nem guten Elternhaus, und blabla."
Sandra G. fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Erbost fragt sie, wieso die Erzieherinnen die Übergriffe nicht bemerkt haben.
Fachleute wissen die Antwort: Täter testen oft schrittweise, wie weit sie Grenzen verletzen können: Sie platzen zum Beispiel wie zufällig ins Bad, wenn ein Jugendlicher duscht, oder sie ziehen einzelne Kinder anderen vor, nehmen sie etwa mit nach Hause. Es muss nicht gleich sexueller Missbrauch dahinterstecken; in jedem Fall aber ist es, wie Fachleute sagen, "pädagogisches Fehlverhalten". Im Nachhinein berichten andere Betreuer oft von einem "komischen Gefühl", trauen sich aber in der konkreten Situation nicht, dieses anzusprechen. Das beklagt auch Julia Zinsmeister:
"Das ist sicherlich eines der Hauptprobleme: Dass diejenigen, die von Grenzverletzungen erfahren, häufig schweigen. Und zwar nicht nur über Wochen, sondern über Monate und Jahre."
Die Mitarbeiter schweigen, weil sie von dem Verdächtigen abhängig sind oder sich ihm verpflichtet fühlen. Kritische Fragen werden als Kollegenschelte diffamiert. Aus den Leitungen der Einrichtungen heißt es oft, "bei uns passiert so etwas nicht". Die Chefs und Chefinnen scheuen sich, konsequent nachzuhaken. Supervisorin Brigitte Braun:
"Ehrenamt gilt als klassische Methode der Opferbeschaffung, und ich weiß, dass ehrenamtliche Organisationen diskutieren, ob sie ihren Ehrenamtlern zumuten können, 'n erweitertes Führungszeugnis zu bringen, oder ob das nicht deutlich Misstrauen zeigen würde."
Der Kindergarten, den Sandra G.s Tochter besucht, handelt umgehend: Die Stadt Köln, Trägerin der Einrichtung, entlässt den Praktikanten, nachdem mehrere Eltern ihn beschuldigt haben. Und Tochter Lili?
"Jetzt teilte die sich natürlich peu à peu immer weiter mit. Das Kind öffnete sich, das Kind erzählte mir von weiteren wirklich ekelhaften Sachen, es stellte sich dann auch ein, dass ich dem Kind wirklich über 'n halbes Jahr lang den Kot holen musste. Weil das Kind mit dem Popo einfach Schmerzen verbunden hat. Und ich 'n künstlichen Durchfall erzeugen musste."
Schnell wird bekannt: Mehrere Kinder erzählen die gleichen Geschichten von massiven sexuellen Übergriffen. Sandra G. wendet sich an die Kölner Fachberatungsstelle Zartbitter. Deren Mitarbeiter raten ihr, Lili in der Universitätsklinik untersuchen zu lassen. Der Befund:
"Das Kind hat Abschürfungen im Scheidenbereich und Vernarbungen auf dem Hymen, also auf dem Jungfernhäutchen. Es ist hier ganz klar davon auszugehen, dass hier mit irgendwas, ist eingeführt worden. Wat da nicht reingehört! Überhaupt nicht reingehört!"
Ein anderes Mädchen ist noch schwerer verletzt. Der begutachtende Professor untermauert den Verdacht, dass die Kinder sexuell missbraucht worden sind. Sandra G. und weitere Eltern erstatten Anzeige.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt und beauftragt ein rechtspsychologisches Institut, die Glaubwürdigkeit der Kinder zu beurteilen. Die Psychologin, die das Gutachten erstellt, lernt Lili nie kennen, sondern urteilt nach Aktenlage. Ergebnis: Die Mutter habe ihrer Tochter möglicherweise suggestive Fragen gestellt. Sie sei mit der Mutter des anderen verletzten Kindes befreundet, sodass sich nicht ausschließen lasse, dass die Kinder sich getroffen und sich die Wunden im Genitalbereich selbst zugefügt hätten. Michaela S., die Mutter eines weiteren betroffenen Kindes, ist empört:
"Die haben zwar alle die gleiche Einrichtung besucht, aber die kennen sich untereinander gar nicht. Mein Kind kennt zum Beispiel dieses schwer verletzte Kind, kennt sie gar nicht. Oder ihr Kind: Ja, man hat sich mal gesehen, "Tach und guten Weg!" Sie können mein Kind heute noch fragen, sie erzählt heute noch genau dasselbe, was sie vor anderthalb Jahren erzählt hat."
Ein Dreivierteljahr nach der Anzeige stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Mangels an Beweisen ein. Sozialrechtsprofessorin Julia Zinsmeister und Rechtsanwältin Petra Ladenburger:
Julia Zinsmeister: "Da ist eben wichtig zu sehen, es gibt zwar die Unschuldsvermutung zugunsten eines Tatverdächtigen, und die ist auch wichtig in unserem Rechtsstaat, aber sie führt nicht dazu, dass man Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung damit verneinen kann. Sondern die Kindeswohlgefährdung bleibt, und hier muss eben eine sehr fachgerechte Abwägung erfolgen, und aufgrund dieser Abwägung müssen dann eben präventiv Maßnahmen ergriffen werden, wie zum Beispiel als allererstes Mal eine Freistellung, um die Umstände weiter zu klären..."
Petra Ladenburger: "Die Institutionen haben ja nicht nur andere Mittel als die Justiz, sondern sie haben auch 'n anderen Auftrag."
Das strafrechtliche Verfahren beeinflusst nicht notwendigerweise die arbeitsrechtliche Entscheidung. Werden einem Mitarbeiter sexuelle Übergriffe vorgeworfen, kann die Leitung der betroffenen Einrichtung jedoch eine Verdachtskündigung aussprechen. Petra Ladenburger:
"Es geht ja nicht nur drum zu gucken, wie kann geahndet werden, was passiert ist; sondern es geht ja auch darum, wie geht es in der Einrichtung weiter mit dem Kind, das noch in der Einrichtung ist, mit den anderen Kindern."
Nicht nur für die Kinder, auch für die Mitarbeiter der Einrichtungen ist wichtig, wie es nach einem Missbrauchsverdacht weitergeht, erklärt Brigitte Braun von der Beratungsstelle Wildwasser - Fachleute sprechen von "traumatisierten Institutionen".
"Einrichtungen, die da durchgegangen sind, obliegen der Gefahr, nachdem dann Anzeige erstattet ist, der Täter nicht mehr in der Einrichtung ist: "Und jetzt ist gut! Jetzt haben wir das gelöst." Und alles, was aber sonst noch passiert, was unter den Kollegen, Kolleginnen passiert, was die Kinder und Jugendlichen mitnehmen, was es ebenfalls anrichtet und nicht nur mit der Situation, dass 'n Täter außer Haus ist, beendet wird - das ist dann nicht mehr besprechbar."
Fachleute sind sich einig: Es reicht nicht, die Punkte eines Handlungsleitfadens abzuhaken oder Prävention an einzelne Kollegen zu delegieren. Alle Mitarbeiter einer Einrichtung müssen sich persönlich einbringen, müssen grenzachtend und wertschätzend mit Kindern und Jugendlichen umgehen - aber auch miteinander. Darüber hinaus, so Julia Zinsmeister, gibt es bestimmte Strukturen, die sexualisierte Übergriffe erschweren.
"Klassische Risikofaktoren: erstens die Geschlossenheit des Systems. Inwieweit sucht sich denn eine Organisation auch gezielt, also inwieweit öffnet sie sich nach außen, inwieweit arbeitet sie zum Beispiel auch mit externen Beratungsstellen zusammen, gibt es ein externes Beratungssystem, dass zum Beispiel die Kinder Ombudspersonen haben, an die sie sich wenden können, jederzeit, wenn sie sich nicht gut behandelt fühlen, das macht 'n großen Unterschied, ob ich dazu externe Personen ansprechen kann, oder ob mir da nur gesagt wird: Du hast ja da deine Vertrauenslehrerin, die eben Teil des Systems ist und von den Kindern auch als Teil des Systems wahrgenommen wird."
Notwendig ist also, Kompetenzen innerhalb einer Institution klar zu verteilen sowie verbindlich zu regeln, wie mit Konflikten umgegangen wird. Alle Verfahren müssen transparent sein. Denn wie zum Beispiel sollen Pädagogen sich kleinen Kindern gegenüber verhalten, die kuscheln wollen, oder Jugendlichen, die eine freundschaftliche Umarmung brauchen? Darüber muss im Team individuell gesprochen werden. Beraterin Brigitte Braun:
"Es wird so oft als schwierig bewertet, weil wir 'ne Abstufung haben: Nähe gilt als gut und Abstand oder Distanz gilt als schlecht. Das heißt, es scheint neben dem einfach zu berühren, in den Arm nehmen, trösten, anfassen - das Gegenüber scheint immer zu sein: Dann ist jemand wie 'ne Wand oder es gibt überhaupt keine Berührung mehr; und es ist nicht so! Es gibt ganz viel dazwischen. Oder wenn Sie sich mal anschauen, wie Berührungen ausgeübt werden, dann fällt auf: Berührungen gehen immer von oben nach unten. Das heißt, die scheinbar Stärkeren trauen sich, die scheinbar Schwächeren zu berühren, ohne zu fragen."
Mit diesen und anderen fachlichen Differenzierungen haben sich Beratungsstellen und Wissenschaftler lange beschäftigt. Sie haben Konzepte entwickelt, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Dafür gab es kaum Interesse und Aufmerksamkeit. Das hat sich seit Januar 2010 geändert, als die ehemaligen Opfer das Schweigen gebrochen haben. Seitdem sind Übergriffe in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen Thema in Politik und Medien. Und in den Landesjugendämtern wächst das Bewusstsein dafür, dass es nicht reicht zu überprüfen, ob eine Einrichtung genug Räume und Personal hat. Brigitte Braun von der Fachberatungsstelle Wildwasser:
"Und damit hat Prävention auch 'ne politische Dimension, was ich wichtig finde, dass es nicht nur 'ne individuelle Leistung ist: Wie schütze ich mein Kind? Ja? Sondern wie werden Kinder insgesamt geschützt, welche Konzepte müssen Einrichtungen darlegen, wie wird überhaupt geprüft, ob die Pädagogik 'n präventiven Charakter hat?"
Auch buchen Einrichtungen mittlerweile deutlich mehr Fortbildung und fachliche Supervision, sagt Brigitte Braun. Die Juraprofessorin Julia Zinsmeister und die Rechtsanwältin Petra Ladenburger untersuchen zum Beispiel die Missbrauchsfälle am Aloïsiuskolleg in Bonn - nicht nur dort will die Schulleitung aufklären.
Julia Zinsmeister: "Früher war es so, dass wir solche Anfragen eigentlich nur erhielten, wenn etwas passiert war. Und somit für die Institution klar war: Wir müssen etwas tun, es betrifft uns auch. Jetzt eben melden sich auch Institutionen, die nicht von eigenen konkreten Vorfällen berichten ..."
Petra Ladenburger: "Ich glaube, so im Grundsätzlichen hat sich was geändert, weil niemand mehr sagen würde: "Bei uns kann so was nicht mehr passieren."
Seit April vergangenen Jahres ist das Thema Chefsache der Bundesregierung - seitdem tagt der Runde Tisch "Sexueller Kindesmissbrauch" unter dem gemeinsamen Vorsitz von Familien-, Bildungs- und Justizministerin. Vertreter von Politik, Wissenschaft und Verbänden sollen herausfinden - Zitat - "welche Hilfe und Unterstützung die Opfer benötigen, was nach Übergriffen zu tun ist und wie sie sich vermeiden lassen". Die maßgeblichen Beratungsstellen waren in dem Gremium zunächst gar nicht vertreten. Dazu Brigitte Braun:
"Mein zurückgelehntes Beobachten war manchmal amüsiert, manchmal sehr verärgert und manchmal wirklich sehr, sehr erstaunt, weil mit dem Thema stellenweise umgegangen worden ist, als wäre es total neu und als gäbe es nicht schon seit dreißig Jahren Fachberatungsstellen, die sich damit und mit nichts anderem beschäftigen. Und Konzepte vorlegen können, Erfahrungen vorweisen können und sich einfach auskennen in diesem Bereich."
Die Juristin Julia Zinsmeister gehört zur Arbeitsgruppe Forschung und Lehre des Runden Tisches. Sie bemängelt, dass die spezialisierten Beratungsstellen seit Jahrzehnten keine gesicherte gesetzliche Finanzierung haben, und wünscht sich ...
"... endlich diese gesamte Unterstützung, psychosoziale Unterstützung für Betroffene von Gewalt auf gesicherte finanzielle Füße zu stellen; es wird jetzt sehr, sehr viel Forschungstätigkeit angestoßen; es wird auf Bundesebene am Runden Tisch über Präventionskonzepte nachgedacht; all das ist gut, aber die Sorge von vielen Beteiligten ist, dass man all das, was schon entwickelt worden ist, quasi jetzt überhaupt nicht beachtet, sondern Diskussionen jetzt wieder von Neuem anfängt und eben dort, wo eigentlich erkennbar seit Jahrzehnten die Probleme in der Praxis liegen, nicht als Allererstes ansetzt. Und die Sorge teile ich."
Das heißt konkret: Die örtlichen Beratungsstellen bleiben Dreh- und Angelpunkt des Hilfesystems. Obwohl die Bundesregierung parallel zum Runden Tisch eine Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs ernannt hat: Christine Bergmann. Ihrer Kampagne "Sprechen hilft" sind Tausende Menschen gefolgt, die vor allem eines wollen: berichten - ohne gleich ein Strafverfahren in Gang zu setzen und Beweise beibringen zu müssen, betonen Julia Zinsmeister und Brigitte Braun:
"Die Frage ist ja, ob sich überhaupt dadurch mehr Betroffene melden. Also, wenn wir uns anschauen, wer sich gemeldet hat in diesem Jahr, so waren es ganz, ganz überwiegend Menschen, die vor sehr langer Zeit sexualisierte Übergriffe oder auch andere Formen von Gewalt in Institutionen erlebt haben; eben sehr bezeichnend ist, dass meistens die Übergriffe sehr, sehr lange zurückliegen. Und das bedeutet, dass unter Umständen diejenigen, die aktuell betroffen sind oder es in den letzten Jahren waren, nach wie vor schweigen, und das hat natürlich auch mit der Dynamik des sexuellen Missbrauchs zu tun."
"Was die Betroffenen angeht, so gibt es einen Teil, für die das sehr entlastend ist, dass so viele darüber sprechen und sie sich da wiederfinden, egal ob sie selber mitsprechen; und für einen ganz ungeheuren Teil, die werden in einer Tour getriggert. Das heißt, wann immer sie Fernsehen anmachen oder die Zeitung aufschlagen, werden sie erinnert an ihr eigenes Leid."
So geht es auch Sandra G.. Sie hat ihr Schweigen zwar schon vor längerer Zeit gebrochen - sie ist für ihre Tochter eingetreten und hat sich darüber hinaus ihren eigenen Verletzungen gestellt. Aber auch sie findet es keineswegs leichter, über sexuelle Gewalt zu sprechen, seit dieses Thema in Politik und Presse präsent ist.
"Nein. Nein. Ich bin selber ein Missbrauchsopfer über viele Jahre gewesen; ich hab lange gebraucht, um darüber zu reden; das wird totgeschwiegen. Es wird einfach totgeschwiegen, es ist 'n unangenehmes Thema; es wird eher gefragt, wie geht's denn Deiner nierenkranken Katze, als: Was macht denn Dein Kind?"