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In Bethlehem geboren
"Alles an Jesus ist jüdisch"

Jesus von Nazareth ist nach Ansicht der Judaistin Edna Brocke nicht angetreten, eine Religion zu begründen. Er sei durch und durch jüdisch. Es habe in der jüdischen Geschichte "viele Messiasse" gegeben, sagte Brocke im Dlf. Jüdische Künstler und Denker hätten kein Problem mit Jesus, jedoch mit antijüdischen Folgen in der Kirchengeschichte.

Edna Brocke im Gespräch mit Andreas Main |
    Die Judaistin Edna Brocke zu Besuch im Deutschlandfunk
    Die Judaistin Edna Brocke zu Gast im Deutschlandfunk (Deutschlandradio / Andreas Main)
    Andreas Main: Willkommen zu dieser Weihnachtsausgabe von "Tag für Tag" unseren Informationen aus Religion und Gesellschaft. Am Mikrofon ist Andreas Main. Es ist fast ein Jahr her, da war in Jerusalem eine Ausstellung über Jesus zu sehen, jenen Mann, dessen Geburt Christen an diesem Weihnachtsfest feiern. In dieser Ausstellung im Israelmuseum ging es um Annäherungen jüdischer Künstler an Jesus. Es wurden Kunstwerke berühmter Künstler wie Chagall gezeigt, aber auch zeitgenössische, unbekanntere Arbeiten.
    Eine hochkarätige Ausstellung, die allerdings hierzulande in den Feuilletons komplett ignoriert wurde. Nur bei "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft" gab es einen Beitrag dazu und den hat Edna Brocke gehört, und zwar kurz nachdem sie die Ausstellung in Jerusalem begeistert gesehen hatte. Es entspann sich ein Dialog über Jesus in der Kunst. Und darüber reden wir heute. Edna Brocke ist Israelin, Jüdin, sie lebt in Krefeld und in der Nähe von Tel Aviv. Sie ist Judaistin. Von 1988 bis 2011 hat sie die Begegnungsstätte "Alte Synagoge Essen" geleitet. Geboren 1943 in Jerusalem engagiert sich die Judaistin bis heute an Unis und im christlich-jüdischen Dialog. Unser Thema heute: "Als Jude geboren in Betlehem – wie sich jüdische Künstler und Denker zu Jesus äußern." Danke, dass Sie ins Studio gekommen sind, Frau Brocke, herzlich willkommen.
    Edna Brocke: Danke schön.
    Main: Gehen wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen, zu dieser Ausstellung in Israel. Wie haben Sie die empfunden?
    Brocke: Sehr eindrucksvoll, einmal, weil sie die Vielfalt jüdischer Künstler einerseits und israelische Künstler andererseits gezeigt hat. Zum anderen, weil - wie ein Basso continuo -bei all den Bildern und auch wenigen Plastiken war eigentlich die Gestalt an sich nicht so sehr zentral, sondern die Folgen historischer, politischer, ökonomischer Art, die durch diese Person dann in der Kirchengeschichte Platz ergriffen hat. Und der Haupteindruck war Bedrückung. Die Folgen des Wirksamwerdens dieser Gestalt mit dem Begriff "ha-isch ha-säah" - das war ja eine jüdische ablehnende Form, dieser Mensch, eben nicht Ecce-homo, sondern in einer sehr pejorativen Art und Weise - das war der Titel der Ausstellung mit dem Untertitel "jüdische und israelische Künstler". Bedrückung, ja.
    "Es war mehr eine Ausstellung für Spezialisten"
    Main: "Dieser Mensch", das ist der Titel. Hat diese Ausstellung in Israel eher exotisch gewirkt, so, wie, sagen wir mal, eine Ikebana-Ausstellung in einem asiatischen Museum hierzulande? Oder war das etwas, diese Ausstellung, worauf die israelische Gesellschaft gewartet hat? Was ist da Ihr Eindruck?
    Brocke: Also, irgendwo dazwischen. Die Ausstellung war sehr gut besucht – zahlenmäßig. Andererseits ein Echo, ich sage mal, in Feuilletons oder in normalen Publikationen, die man erwartet, war sehr gering. Es war mehr eine Ausstellung für Spezialisten. Und der Katalog, der inzwischen auch auf Englisch vorliegt, erläutert, wieso das so gekommen ist, denn der Kurator hatte wirklich einen tiefen theologischen Dialog zwischen Christen und Juden in der Zeit nach der Shoah vor Augen und wollte das begleitet wissen auf optische Weise. Ich glaube, es ist ihm auch gut gelungen. Nur die meisten jüdischen Israelis interessieren sich für diese theologischen Fragen nicht. Und von daher, gut besucht, sehr emotional angenommen, aber das war dann auch alles.
    "Das Judentum kennt ganz viele Messiasse"
    Main: Sie interessieren sich für theologische Fragen. Wir senden dieses Gespräch ganz bewusst am Weihnachtsfest. Wir dürfen ja nicht voraussetzen, dass Konfessionsfreie oder Sie als Jüdin oder Buddhistin, dass Sie einen inneren Bezug zu diesem Jesus haben. Ich frage dennoch mal etwas unter-komplex. Sind Sie wegen Jesus in diese Ausstellung gegangen oder wegen des jüdischen Blicks auf Jesus?
    Brocke: Wegen des jüdischen Blicks auf Jesus beziehungsweise, ob es wirklich bei der Gestalt selber bleibt, weil mit der Gestalt haben wir alle gar kein Problem, sondern die Wirkungsgeschichte ist das Relevante. Und das wurde auch bei der Ausstellung sehr deutlich. Das Judentum kennt ganz viele Messiasse in seiner Geschichte. Entweder Leute, die sich selbst als Messias deklariert haben oder Juden, von denen andere Juden gesagt haben, der oder der ist ein Messias. Insofern ist aus unserer Perspektive Jesus nichts Besonderes. Das Besondere ist die Wirkungsgeschichte, weil nur das Christentum einen solchen Messias-Prätendenten weltweit verbreitet hat.
    "Spöttisch-ironische Jesus-Bilder? Keins!"
    Main: Bevor wir auf die Wirkungsgeschichte genauer eingehen, was war denn in der Ausstellung zu sehen, welche Spannbreite haben Sie da beobachtet? Also, ich könnte mir vorstellen, dass die Jesusbilder reichten von spöttisch-ironisch bis vielleicht auch sogar einer Art Identifikation mit dieser Person.
    Brocke: Also, spöttisch-ironisch keins. Es waren, glaube ich, zirka 110 Bilder. Also, ich erinnere mich an keine, die spöttisch oder ironisch waren, sondern die meisten hatten das Thema Herrschaft. Wie wirkte diese Gestalt als Träger des Rechtes der Kirchen, sich über Juden zu erheben? Diese Diskrepanz, das war in den allermeisten. Und mit Sicherheit die meisten zeitgenössischen Israelis, aber auch die Juden der Diaspora vor Gründung des Staates haben eine Form von Angst, Befürchtung, Unsicherheit rübergebracht. Das war der Tenor.
    "Christen sind geschickter mit theatralischen Inszenierungen"
    Main: Frau Brocke, es ist Weihnachten, eines der christlichen Feste schlechthin. Können Sie als Jüdin ein wenig die weihnachtliche Faszination empfinden für dieses Kind einer jüdischen Mutter? Den Vater lassen wir mal außen vor.
    Brocke: Ja, also da habe ich kein Problem – zu verstehen, dass es viele Menschen auf der Welt gibt, die mit der Geschichte, Funktion und Lehre sehr viel anfangen können. Und die Inszenierung dieses Festes, da sind ja Christen viel geschickter mit theatralischen Inszenierungen als wir. Wir sind da sehr puristisch und ohne viel Ästhetik oder ästhetisches Beiwerk ausgestattet.
    Main: Über die Kindheitsgeschichte Jesu wissen wir ja eigentlich historisch betrachtet nicht allzu viel, nur die beiden Evangelien nach Matthäus und Lukas - und das sind Glaubensgeschichten und keine historiographischen Werke -, die erzählen etwas über dieses Kind – zu Betlehem geboren. Da wird natürlich durchaus auch klar, dass Jesus Jude war. Aber gleichzeitig wird behauptet, er sei der Messias. Gehen wir mal auf den einen Punkt. Was ist aus Ihrer Sicht das Jüdische an Jesus?
    Brocke: Alles.
    Main: Was ist nicht jüdisch an Jesus?
    Brocke: Nur das, was nachher aus ihm gemacht worden ist.
    Main: Jesus ist halachisch, also nach jüdischem Gesetz definitiv Jude, weil er geboren ist von einer jüdischen Mutter. Darüber hinaus, wie würden Sie ihn einordnen ins Judentum seiner Zeit?
    Brocke: Genau wie heute hat es auch damals sehr viele verschiedene Gruppierungen, innerjüdische Gruppierungen gegeben – wie bei anderen Leuten auch. Und die haben ernsthaft oder unernsthaft, aggressiv oder unaggressiv, klug oder nicht so klug argumentiert, politisiert und auch theologisiert. Und ich wüsste nicht, wie ich ihn als Kind einordnen soll, sondern die Berichte stellen ihn in eine dieser vielen jüdischen Positionen.
    Aber die Nachwelt, die christliche Nachwelt hat dann innerjüdische Polemiken, die es zwischen Sadduzäern gegeben hat, die haben sie benutzt, indem sie das im Neuen Testament zitieren, um es antijüdisch auszulegen.
    Main: Da wird dann Jesus eben zum Antipharisäer.
    Brocke: So ist es.
    "Jesus ist nicht angetreten, um eine Religion zu begründen"
    Main: Das sind natürlich Motive, die im krassesten Fall dazu führen, dass Juden als "Christusmörder" betrachten werden. Wie ist die Linie von antijüdischer Polemik, bis hin zu Antisemitismus gar?
    Brocke: Das ist inhärent eingebaut. Und das wird sich auch, ist mein heutiger Stand der Erkenntnis, nicht ändern, nicht ändern lassen, weil sehr früh - kirchenpolitisch und nicht theologisch - die Entscheidung getroffen wurde, die ontische Dimension, also die Seinsdimension des jüdischen Volkes, zu dem Jesus gehört hat, als irrelevant darzustellen.
    Er war Mitglied des jüdischen Volkes. Er ist nicht angetreten, um da eine neue Religion zu begründen. In dem Moment, wo man sich kirchenpolitisch entschieden hat, diese Dimension der Zugehörigkeit zu einem ontischen Volk, zu einer Seinsgruppe für die Christen als irrelevant darzustellen, sind die Wege auseinandergegangen. Und darüber kann man keine Brücke bauen.
    "Verstehen, wie Christen ticken"
    Main: Dann bringen auch alle Dialogforen, wie es immer so schön heißt, seit einem Vierteljahrhundert oder eigentlich auch länger, seit 50, 60 Jahren, die helfen nicht weiter?
    Brocke: Sie helfen in praktischen Dingen. Sie helfen, sagen wir mal, jetzt kann ich biografisch von mir sagen, zu verstehen, wie katholische oder evangelische Christen ticken. Sie helfen mir, Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft in Kultur und Medien besser zu verstehen, warum sie so reagieren. Aber das nützt nichts im Sinne einer Veränderung.
    Main: Was könnte denn praktisch getan werden auf christlicher Seite, auf jüdischer Seite, damit ein kleines jüdisches Kind in Betlehem nicht wieder dafür herhalten muss für monströse Vorwürfe, die dann auch wieder alle "Brunnen vergiften"?
    Brocke: Ich würde heute viel mehr bei dem säkularen und agnostischen Christen beginnen und weniger bei den Theologen. Weil, wenn Sie in den Medien ständig die Reproduktion christlicher Antisemitismen hören und diese Journalisten wissen gar nicht, dass nur, weil sie in einer christlichen Gesellschaft groß geworden sind, haben sie zum Beispiel "Auge um Auge" als was völlig Falsches aufgenommen, was ja eine Kampfansage der Kirche gegen Juden war. Sie wissen es nicht mal. Das heißt, sie benutzen in Kultur, in Medien, in Literatur Bilder und Begriffe, die in sich tradiert sind durch das Christentum, aber die, die es benutzen, wissen gar nicht, woher sie es nehmen und nehmen es für bare Münze. Da würde ich heute ansetzen.
    "Das ist eine Verdrehung der Realität"
    Main: Frau Brocke, das ist ein weites Feld. Die Medien und ein latenter Antisemitismus. Das können wir heute nicht vertiefen. Wir wollen ja auch sprechen, darüber, wie sich jüdische Künstler und Denker zu Jesus äußern. Gehen wir mal antichronologisch vor. Gehen wir von der Ausstellung in Jerusalem zum Schriftsteller Amos Oz. Der lässt in seinem jüngsten Roman "Judas" einen seiner Helden sagen: "Ich habe bis heute nicht aufgehört mich zu fragen, wie die Welt ausgesehen hätte, was mit den Juden gewesen wäre, wenn sie Jesus nicht abgelehnt hätten." Haben Sie eine Antwort darauf?
    Brocke: Jein. Ich glaube, dass dieser Roman von Amos Oz "Habesora al pi Jehuda", die "Botschaft nach Juda" soll ja klingen wie ein Evangelium. In diesem Buch versucht er, Zionismus, jüdische Traditionen und den Clash, not of civilazations, but the Clash zwischen Juden und Christen so zu interpretieren - was er nicht erfunden hat, das ist in der jüdischen Traditionsliteratur vorhanden: Er will den Judas darstellen als jemand, der dem Jesus durch den Kuss eigentlich verhelfen wollte, dass er als Messias innerjüdisch erkannt wird. Das ist sozusagen eine Verdrehung der Realität. Das ist ein netter Versuch, die Dinge anders zu sehen.
    Main: Wofür steht Amos Oz prototypisch, eben mit Blick auf unsere Frage, wie sich jüdische Künstler und Denker zu diesem in Betlehem geborenen Jesus äußern?
    Brocke: Ich würde Amos Oz dort verorten, wo sehr viele Juden, israelische Juden und andere Juden sich bemühen, aus dem ausgefahrenen Faden auszubrechen und neue Interpretation versuchen oder wiederbeleben oder wagen, wie auch immer.
    Die Judaistin Edna Brocke im Deutschlandfunk-Studio im Gespräch mit Andreas Main
    Die Judaistin Edna Brocke im Deutschlandfunk-Studio im Gespräch mit Andreas Main (Deutschlandradio / Tim Bieler)
    Main: Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft" im Gespräch mit der Judaistin Edna Brocke. Frau Brocke, von der Kunst und der Literatur lassen Sie uns schwenken zu den Fachwissenschaften, zur Religionswissenschaft, zur Theologie. Wir machen einen Sprung zu Leo Baeck, dem Rabbiner, der als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen liberalen Judentums seiner Zeit gilt. Seine Apelle lassen sich so zusammenfassen: 'Gebt uns unseren Jesus wieder.' Frau Brocke, wie argumentierte Leo Baeck?
    Brocke: Seine bekannteste Schrift war ja eine Antwort. Ein christlicher Theologe, Adolf von Harnack, hat ein Buch 1900 veröffentlicht mit dem Titel "Das Wesen des Christentums". Und Leo Baeck fühlte sich herausgefordert, eine Antwort zu schreiben, die 1905 erschienen ist: "Das Wesen des Judentums". Und aus diesem Disput zwischen diesen beiden Theologen sind dann in der Folge verschiedene Dialoge entstanden. Ich denke, das war ein wichtiger Schritt, mal rauszugehen aus einer innerjüdischen Perspektive und zu reagieren auf eine christliche Position.
    "Nicht Jesus der Christ, sondern Jesus aus Nazareth"
    Main: Und inhaltlich, was war sein Kernargument?
    Brocke: Dass er, wie die meisten Juden, kein Problem mit Jesus als Person hatte und auch nicht mit der Vorstellung von manchen Juden der Gründungszeit, dass er vielleicht eine besondere Persönlichkeit war, sondern mit dem Anspruch, dass er der Messias sei, den das Judentum erwartet hat. Oder es gibt Juden, die heute noch einen Messias erwarten. Denn innerjüdisch ist dann immer die Antwort und die hat auch Baeck in seinem Buch zitiert: 'Ich mache das Fenster auf und schaue hinaus. Hat sich die Welt verändert? Nein, also war er es nicht.'
    Main: Ein Zeitgenosse von Leo Baeck war Joseph Klausner. Er lebte in Israel, anders als Baeck, war Historiker, Religionswissenschaftler, Literaturwissenschaftler. Auch er hat sich als jüdischer Forscher mit diesem Jesus befasst, der an Weihnachten gefeiert wird. Was waren die Kernideen bei Klausner?
    Brocke: Also, ihm war das Historische und sagen wir mal, auch das Geographische sehr wichtig. Sein Werk heißt: "Jeschu ha-Nozri", "Jesus, der aus Nazareth", also man kann sagen der Nazarener. Also, nicht Jesus der Christ, sondern Jesus aus Nazareth, um ihn geographisch zu verorten. Ein Buch, das 1922 erschien. Seine Zeit, Leben und Lehre. Und das war ein Versuch, diese Dinge einzuordnen für jüdische Leser, aber aus jüdischer Perspektive.
    "Ich habe als Schülerin in Israel zwei Jesusromane gelesen"
    Main: Joseph Klausners Position, dass Jesus ein jüdischer Reformer gewesen sei, der als überzeugter Jude gestorben ist, welche Wirkungsgeschichte hatte dieses Buch?
    Brocke: Sogar noch in meiner Schulzeit haben wir das gelesen. Also, so, wie wir zwei Jesusromane in der Schule gelesen haben. Von Aharon Kabak und von Igal Mossinsohn. Zwei Biographien, wenn man so will, also fiktive, über Jesus haben wir in der Schule gelernt.
    Main: Sie haben also in den 50er Jahren Jesusromane in Jerusalem gelesen?
    Brocke: Ja.
    Main: Als Kind?
    Brocke: In Tel Aviv. Da war ich schon in Tel Aviv. Wir sind umgezogen, ja.
    "Es gibt kein Ordnungsprinzip mehr"
    Main: Edna Brocke im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft". Wir sind jetzt von der Gegenwart immer weiter zurückgegangen von der Ausstellung in Jerusalem hin zu theologischen Gedanken des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wie würden Sie die Wirkungsgeschichte dieser Geburt Jesu, wie es dann sich in der Kirchengeschichte entwickelt hat, wie lässt sich das zusammenfassen?
    Brocke: Ich würde einen großen Bogen zu schlagen versuchen zwischen dem Baby oder dem kleinen Kind in Betlehem und der Situation heute. Bei allen Phasen, die es gegeben hat im Laufe der Geschichte, ich sehe in den letzten 20 Jahren, dass die meisten Christen in Westeuropa eigentlich ihr Christsein nominell aufrechterhalten, aber immer weniger mit Inhalt füllen. Der gleiche Prozess ist bei uns auch sichtbar. Beides zerbröselt. Sowohl die christliche als auch die jüdische Großgemeinschaft – sage ich – zerfallen, so, wie wir die Kultur im Westen, den es mal gab, auch beobachten, wie alles auseinanderbricht.
    Egal, wo Sie hingucken, es entstehen kleine bis Kleinstminderheiten, die alle den Anspruch erheben, volle Rechte zu haben. Aber es gibt kein Ordnungsprinzip mehr. Und in dem Moment, wo es kein Ordnungsprinzip gibt, über das sich eine Gemeinschaft einigen muss, ist Chaos angesagt. Und in diesem Chaos leben wir leider.
    "Hoffentlich öffnet dieses Chaos uns die Augen"
    Main: Bedeutet das für Sie, dass Sie plädieren für eine religiöse Rückbesinnung?
    Brocke: Also, mir steht es nicht an, irgendwem irgendwas anzubieten. Ich habe nur die Hoffnung, dass die Realität, dieses Chaos uns die Augen öffnen wird. Egal, was in der Welt passiert, wir werden immer die Ersten sein, auf denen man rumkloppt. Und von daher, als Selbsterhaltungstrieb müssen wir zu Potte kommen, aber ich weiß nicht, ob wir es schaffen.
    Main: Mit "wir" meinen Sie jetzt Juden?
    Brocke: Ja.
    Main: Religionsdebatten in unseren Tagen werden ja gerne mit Schaum vor dem Mund geführt. Vielleicht wäre es ja auch nützlich, wenn etwas mehr Humor in die ganze Angelegenheit käme. Und gerade zu Weihnachten möchte ich einfach mal ein Beispiel nennen. Es geht, dass man mit Humor an Religionsfragen herangeht. Einer, der das vorgelebt hat, war Jude, war aber eben nicht religiös, der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam. Sein Gedicht aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts:
    Geboren ward zu Bethlehem
    ein Kindlein aus dem Stamme Sem.
    Und ist es auch schon lange her,
    seit's in der Krippe lag,
    so freu'n sich doch die Menschen sehr
    bis auf den heutigen Tag.
    Minister und Agrarier
    Bourgeois und Proletarier –
    es feiert jeder Arier
    zu gleicher Zeit und überall
    die Christgeburt im Rindviehstall.
    Das Volk allein, dem es geschah,
    das feiert lieber Chanukka.
    Main: Frau Brocke, was ist das Attraktive an Chanukka?
    Brocke: Wie die meisten jüdischen Feste ist es eine Art Familienfest. Und die Gemeinschaft ist das, was relevant ist. Und man verträgt sich nicht mit allen gleich gut in der Familie und es sind nicht alle gleicher Meinung, aber man gehört zusammen. Und das ist ein Gefühl, das kann ich nicht kaufen. Das habe ich oder habe ich nicht, wenn ich mit Leuten zusammen bin, zu denen ich mich zugehörig fühle und die mich als dazugehörend akzeptieren.
    "An Chanukka feiern wir ein Wunder"
    Main: Ich gehe mal davon aus, dass das Gros unserer Hörer christlich geprägt ist und noch nie Chanukka gefeiert hat. Erzählen Sie doch mal, welche Bräuche zentral sind und was da an Kernideen dahintersteckt.
    Brocke: Also, das Fest hat zu tun mit der Wiedereinweihung des Tempels, der von den griechischen Seleukiden verunreinigt wurde. Und die Wiedereinweihung wird gefeiert mit einem Wunder, von dem erzählt wird. Und dieses Wunder drückt sich optisch dann für uns heute aus. Wir haben einen neunarmigen Leuchter mit acht Kerzen und einem Diener, deswegen neun. Der eine Brauch sagt: Jeden Abend eine Kerze mehr. Der orientalisch-jüdische Brauch sagt: Jeden Tag eine Kerze weniger, weil das Öl immer weniger wurde. Und die Wiedereinweihung des Tempels wird gefeiert eben mit dem Zünden dieses Leuchters und mit dem Speisen von Dingen, die in tiefem Öl gebraten wurden.
    Main: Warum fällt das gerne mit Weihnachten zusammen?
    Brocke: Das hat mit dem hebräischen Kalender zu tun. Kisslew fällt immer in diese plus/minus Dezemberzeit.
    Main: Ich wünsche Ihnen jetzt einfach mal ein schönes Chanukka-Fest, aber auch ganz traditionell christlich ein gesegnetes Weihnachtsfest. Und Sie?
    Brocke: Das wünsche ich Ihnen absolut.
    Main: Das Ganze jetzt bitte noch mal auf Hebräisch.
    Brocke: חג מולד שמח! Chag molad ssame-ach! Frohes Weihnachtsfest.
    Main: Edna Brocke war das, Judaistin und langjährige Leiterin der Begegnungsstätte "Alte Synagoge Essen". Ich danke Ihnen, dass Sie angereist sind. Danke für das Gespräch.
    Brocke: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.