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In der Erinnerungsfalle

Nach über drei Jahrzehnten kehrt Eric zurück nach Paris - auf den Spuren einer unglücklichen Liebe. Der Schweizer Autor Urs Faes setzt seinen Helden einer Konfrontationstherapie aus - mit ungewissem Ausgang.

Von Matthias Kußmann |
    Am Anfang steht eine Strophe aus Baudelaires berühmtem Gedicht "Der Schwan", Urs Faes zitiert sie im eleganten französischen Original. Prosaisch deutsch heißt sie ungefähr so:

    Paris verändert sich, nur meine Melancholie bleibt gleich. Neue Paläste, Baugerüste, Wohnblöcke und alte Vorstädte - alles wird mir zur Allegorie, und meine teuren Erinnerungen lasten auf mir schwerer als Stein.

    Damit sind Thema und Tonlage des Buchs vorgegeben. Es handelt von Eric, einem Schweizer, der nach über 30 Jahren nach Paris zurückkehrt, auf den Spuren einer unglücklichen Liebe. Anfang der 70er-Jahre hatte er während der Zürcher Studentenunruhen eine junge Französin kennengelernt, Claudine. Der Philosophiestudent und die angehende Kunsthistorikerin verliebten sich und verbrachten einige Wochen zusammen, dann ging sie nach Paris. Sie schrieben sich leidenschaftliche Briefe, voller Freude auf ein Wiedersehen. Doch als Eric sie schließlich in Paris besuchte, war sie völlig verändert, abweisend und wortkarg - bis auf den Satz, der das Buch wie ein Leitmotiv durchzieht: "Ich muss dir noch etwas sagen".

    Der Satz war gefallen, bevor sie die Metrostation verlassen hatten, auf der Rolltreppe nach oben, hinein in die Menge, die kein Nachfragen zuließ. Er betrachtete sie von der Seite, ihr blondes Haar, das ihm jetzt ungewaschen schien, die blasse Haut ihres Gesichts, mit dieser Rötung unter dem Kinn. Er spähte hin zu ihr, als müsste er in ihrer Haut lesen, sich versenken in die Schwingungen ihres Körpers, ihren zögernden Gang. Sie ließ ihn, gab den Blick nicht zurück, schaute nur vorwärts in die Straße hinein, die nass und dunkel schimmerte. Was wollte sie ihm sagen?

    Dem Leser ist schnell klar, dass sie sich in einen andern verliebt hat, nur dem armen Eric nicht, der auf den folgenden Seiten der Erzählung ziemlich filmreif leiden muss. Es ist schade: Urs Faes schreibt nicht schlecht und ist ein guter Beobachter – aber er trägt einfach oft zu dick auf. Eric bezieht ein Zimmer in einer Pension, über dem Claudines WG haust. Natürlich hört er von dort Liebesflüstern und -stöhnen, worauf er nachts einsam an seinem Fenster steht und tragisch mit der Stirn gegen die Scheibe schlägt. Doch noch nicht genug. Im Haus gegenüber sind alle Fenster dunkel, nur in einem ist Licht, und ja, hinter diesem Fenster liebt sich ein anderes Paar …

    … herausfordernd mit diesen heftigen Bewegungen, als hätten sie ihn zum Zuschauer auserkoren, als sollte er Zeuge ihres Begehrens, ihrer Innigkeit sein. Er sah hinüber, er lauschte hinauf, er blickte hinab und der Abgrund in ihn hinein.

    Puh. Man kennt diese leidenden Männer aus früheren Büchern von Faes, und immer wirken die Szenen ein wenig wie aus schlechten Hollywoodfilmen. Und dann die Wiederholungen! Alle paar Seiten rumpelt die Metro bedrohlich unter den Straßen, auf denen Eric geht; und immer wieder spricht er die fremden Namen der Metrostationen vor sich hin, wie eine Beschwörung. Nichts gegen rumpelnde Metros oder Fremdheitsbeschwörungen, aber bitte nicht zigmal in einem Text von 60 Seiten!

    Nun: Irgendwann rückt Claudine mit der Wahrheit heraus, in einem beiläufigen Satz. Sinnigerweise geschieht das in einem Waschsalon, wo sie T-Shirts, Socken, Frauen- und Männerunterwäsche in eine Maschine tut.

    "Warum sollte ich seine Sachen nicht waschen"? Erics Augen blieben auf das Glas geheftet, an dem die Schaumblasen aufquirlten - ihre Wäsche, seine Wäsche. Er schnellte hoch, packte seine Tasche, rannte davon …

    Wie eingangs erwähnt, kehrt er erst 30 Jahre später an den Ort der Enttäuschung zurück. Inzwischen ist er Schriftsteller geworden (auch das noch) und hat oft überlegt, warum ihm Claudine damals, vor seinem Besuch, nicht einfach schrieb, dass sie mit einem anderen Mann zusammen ist. Er hätte sie nicht besucht und alles wäre einfacher gewesen. Eigentlich wollte er danach nie mehr nach Paris, doch sein Freund André, der dort lebt, hat ihn überredet, sich der Stadt und seinen Erinnerungen auszusetzen - eine Art Konfrontationstherapie.
    Prüfend schaut er André an, Beklemmung erfasst ihn, ein Gefühl von Enge. Er weiß nicht mehr, ob es richtig gewesen ist, in diese Stadt zurückzukommen, nur weil in seinem Tagebuch aus jener Zeit weiße Seiten geblieben sind und er jahrelang die Erinnerungen wegzuschieben versucht hat, die sich immer wieder einstellten, in die Gegenwart hineinreichten und schmerzten, als läge in ihnen etwas verborgen, was seine Wege bestimmt hätte.

    Mit André geht er durch die Stadt, die sich stark verändert hat, erkennt aber manchen Ort wieder, an dem er einst mit Claudine war. Die Metro rumpelt schon wieder bedrohlich, und André muss Therapiejargon-Sätze sagen wie diese:

    Noch immer nachdenklich? In der Erinnerungsfalle?

    Man fragt sich zu diesem Zeitpunkt schon, wo das Ganze eigentlich hinführen soll. Wirklichen Erzählstoff bieten nur die Erinnerungen an die Zeit mit Claudine. Der Eric im Jahr 2001 geht einfach nur in Paris herum, das wenig inspiriert beschrieben wird, und das wiederholte Nennen von Straßen und Plätzen – schon wieder Beschwörung – schafft noch lang keine Atmosphäre. So langweilig war Paris selten in der jüngeren Literatur, man sehnt sich nach den Texten eines Paul Nizon oder Patrick Modiano. Doch dann ein Knalleffekt: Plötzlich sagt André zu Eric, dass Claudine wieder in der Stadt sei:

    Saint-Mandé. Der Bus 86 geht ab Saint-Germain, nicht weit vom Musée de Cluny. Jetzt würde ich es dir zutrauen.

    Nach einigem Zögern traut es sich Eric auch selbst zu. Er ruft sie an, und dieses eine Mal hätte Faes doch eine Szene schreiben können, die für sich spricht: zwei nervöse, unsichere Menschen am Telefon. Aber nein, zur Illustration rasen im Hintergrund gleich drei Polizeiwagen mit heulender Sirene vorbei … Oje. Claudine jedenfalls lädt Eric zu sich ein, und man ist nun wirklich gespannt, was passieren wird. Sie öffnet die Tür und - nichts passiert, Pech gehabt. Denn an dieser Stelle hört die Erzählung einfach auf.

    Urs Faes: Paris. Eine Liebe.
    Insel Verlag, 68 Seiten, 13,95 Euro