Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als 250 Menschen sind gekommen – die Frauen in Röcken und Blusen, mit feinen Tüchern über Kopf und Schulter; viele Männer tragen einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd. Für die Menschen hier ist der sonntägliche Gottesdienst nicht allein ein fester Bestandteil der Woche. Die Kirche ist nach wie vor einer der Eckpfeiler ihres Lebens:
Die Kirche bedeutet viel für uns. Sie war die Institution, die uns auch in der dunklen Sowjetzeit Hoffnung gegeben hat, die die Partisanen unterstützt und die schließlich die Loslösung und Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten ermöglicht hat. Wir alle haben der Kirche viel zu verdanken.
Wir kommen hierher, vergessen den Alltag und unsere Sorgen. Die Kirche gibt uns Mut und Beistand. Wissen Sie, das Leben heute ist nicht so einfach. Früher, während der Sowjetzeit, gab es vieles umsonst, für die Wohnung haben wir keine Miete gezahlt. Das Leben war beschaulich. Heute ist alles sehr teuer. Und man traut sich auch gar nicht mehr vor die Tür: Überall wird geklaut und die Leute schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Die Politiker – die stopfen sich nur die eigenen Taschen voll. Die Armen sind ihnen egal.
Viele der Gläubigen verweilen auf dem kleinen Platz vor der Kirche. In kleinen Gruppen wird geplaudert, lamentiert, gestikuliert und gelacht. Nach etwa zehn Minuten kommt auch der Pfarrer aus der Kirche. Der große, schlanke Mann im schwarzen Talar mischt sich unter die Leute – schüttelt Hände, lauscht und spricht freundliche Worte.
Pfarrer Juozapas Pobrovolskas ist sich bewusst, dass die Stellung der litauischen Kirche herausragt – verglichen mit anderen Ländern in Europa. Nicht wenige Beobachter des litauischen EU-Referendums Anfang Mai meinen, erst der katholische Klerus habe es zugunsten des "Jas" entschieden. In einem Hirtenbrief, der in den Gottesdiensten am Sonntagmorgen verlesen wurde, riefen die Bischöfe dazu auf, für den Beitritt zur EU zu stimmen. Es gehe nicht darum, den Politikern einen Denkzettel zu verpassen, sondern um die Sicherung der Zukunft für die kommenden Generationen, hieß es in dem Text. Der Aufruf verfehlte seine Wirkung nicht. Am Ende machten 63,3 Prozent der Litauer ihr Kreuz, 91 Prozent von ihnen beim "Ja" – nach der Slowakei das zweibeste Ergebnis unter allen Beitrittstaaten.
Die Kirche lässt sich vom Leben der Menschen doch nicht trennen. Wir Pfarrer sitzen ja nicht abseits in irgendeiner Irrenanstalt, sondern verfolgen, was im Lande vor sich geht. Und es ist doch auch gut, dass die Kirche sich für die litauische Geschichte und den Alltag der Leute interessiert. Wenn uns jemand um Rat fragt, und sei es der Präsident, dann bekommt er eine vernünftige Antwort. Denn durch unsere Arbeit kennen wir die Menschen – nicht nur offiziell, sondern aus dem alltäglichen Miteinander. So gesehen haben wir Pfarrer schon etwas zu sagen.
Wenige Kilometer von Sirvintos entfernt. Auf einem Kartoffelacker setzt sich ein alter Traktor in Bewegung. Dahinter lockert ein etwa sechzigjähriger Mann mit einer kleinen Jäte weiter den Boden. Elf Frauen und Männer aus drei Generationen, die auf den ersten Blick wie eine Großfamilie wirken, sammeln die Kartoffeln mit flinken Händen auf. Jeder hat einen kleinen Korb. Ist er voll, kommen die Kartoffeln in einen großen weißen Sack aus Plastik.
Die Arbeit ist hart. In gebückter Haltung arbeitet sich die Gruppe Meter um Meter voran. Schon nach wenigen Minuten sind die Hemden der Männer verschwitzt. Immer wieder wischen sich die Frauen über die Stirn und rücken ihre Kopftücher zurecht. Alle paar Minuten muss sich jemand strecken und hält sich den Rücken. Erde rieselt dabei von Kleidern und Händen.
Es gibt ein altes Sprichwort: "Wer hart arbeitet, dem wird von Gott geholfen". Und diese Leute hier arbeiten wirklich hart. Und dann gibt es da noch eine andere Geschichte. "Ein Russe sagt stolz: Ich habe nichts gepflanzt und nichts geerntet, ich bekomme alles im Laden. Eines Tages kommt er in das Geschäft, die Regale sind leer – und der Mann wundert sich, warum.
Die Gruppe macht eine Pause. Mit großem Appetit werden die selbstgeschmierten Brote, Tomaten und sauren Gurken verzehrt. Heruntergespült wird das Essen mit frischem Wasser, Kaffee und selbstgebranntem Schnaps. Alle reden durcheinander, es wird viel gelacht, manch einer schläft in der Nachmittagssonne ein.
Die Szene wirkt in all ihrer Einfachheit idyllisch. Die Männer und Frauen sind keine Großfamilie, sondern Nachbarn. Jeder von ihnen besitzt ein kleines Stück Land. Man hilft sich gegenseitig, wo immer man kann:
Ich bin Krankenschwester in einem Krankenhaus und bekomme im Monat 500 Litas. Davon muss ich meine Steuern, meine Miete, das Telefon und all die anderen Dinge zahlen. Für das Essen bleiben 120 Litas – für die gesamte Familie. Würden wir hier auf dem Feld nicht wenigstens ein paar Kartoffeln und Kräuter anpflanzen, wären wir schon längst verhungert. Ich weiß gar nicht, wie es die Leute in der Stadt schaffen, zu überleben.
120 Litas – das sind weniger als 40 Euro. Auch in Litauen ist das wenig Geld. Ein Durchschnittslohn liegt bei etwa 1000 Litas, sprich 350 Euro, im Monat – weniger also als das, was derjenige, der in Deutschland einen Minijob annimmt, verdient. Kein Wunder also, dass gerade die Jungen ihr Glück andernorts versuchen. Zwanzig- bis Dreißigjährige sind auf dem Lande kaum zu sehen. Ganze Gegenden Litauens drohen zu vergreisen:
Die Jungen gehen alle in die Städte – vor allem nach Vilnius. Einige verlassen sogar das Land. Hier auf dem Lande bleibt fast niemand.
Es fehlt die Perspektive! Zwar wurden die Kolchosen nach der Unabhängigkeit Litauens aufgelöst, die Menschen erhielten ihr Land zurück. Allerdings fehlt vielen das Geld, es zu bewirtschaften. Auch die EU, sagt die Krankenschwester, bietet diesbezüglich wenig Hoffnung. Alle Agrar- und Strukturhilfen basieren auf dem Prinzip der Kofinanzierung. Mit anderen Worten: Beantragt man Zuschüsse, kommt man um einen finanziellen Eigenanteil nicht herum. Für die Menschen hier eine Utopie, sagt der ältere Herr. In seiner Stimme schwingen Zorn und Galgenhumor zugleich:
Die Regierung kümmert sich nur um sich selbst und ihre Posten. Vor Wahlen – da tun die Politiker immer so, als ob sie sich für die Probleme der einfachen Leute interessieren. Danach wollen sie am liebsten nicht gestört werden.
Eine Frau:
Abzocker sind das. Die verdienen vier Mal so viel wie ein normaler Bürger.
Die gesellschaftliche Situation heute ist nicht einfach: Wir hatten den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft, von einem Einparteiensystem zu einer parlamentarischen Demokratie zu bewerkstelligen. Und selbstverständlich haben wir in diesem Transformationsprozess einige, vielleicht auch zahlreiche Fehler gemacht, die die Menschen jetzt am eigenen Leibe spüren. Das müssen wir zugeben.
Litauens Präsident Rolandas Paksas, der von den einen verehrt, von anderen wiederum als politischer Populist bezeichnet wird, zeigt sich einsichtig. Dass der Reformprozess seines Landes grundsätzlich aber in die richtige Richtung geht – daran hegt Paksas keinen Zweifel:
Als ich noch Bürgermeister von Vilnius war, hatte ich stets einen innigen Wunsch für all diejenigen, die unzufrieden mit dem Reformprozess sind: Ich dachte, man müsste auf unserer schönsten Einkaufsstraße, dem Gedimino Prospekt, einen Supermarkt aus sowjetischer Zeit wiedereröffnen, damit jeder, der sich zu dieser Zeit zurücksehnt, dort noch einmal hineingehen, sich die leeren Regale sowie die äußerst robusten Verkäuferinnen anschauen kann, die ihm dann sagen, dass es nichts mehr gibt. Nur unter dem Ladentisch sei noch das ein oder andere vorhanden.
Angriff ist die beste Verteidigung. So hält es auch Algirdas Brazauskas, der 71-jährige Grandseigneur oder auch das Chamäleon der litauischen Politik. Ende der achtziger Jahre erster Mann der Kommunistischen Partei Litauens, dann erster gewählter Präsident des unabhängigen Landes und – nach seinem zwischenzeitlichen Abschied aus der Politik – heute Litauens Ministerpräsident, sozialdemokratischer wohlgemerkt. Die Behauptung, in keinem anderen der zehn Beitrittstaaten sei die Kluft zwischen Bürgern und Politik so groß wie in Litauen, ist schlichtweg falsch, sagt Brazauskas.
Unsere Gesellschaft erlebt zurzeit, was ich als eine Periode der guten Hoffnung bezeichnen möchte. Wir glauben, dass die EU-Mitgliedschaft unsere Demokratie festigen und unser Wirtschaftswachstum noch beschleunigen wird. Die Investitionen werden steigen, Litauen wird ein offneres Land und auch Europa wird sich Litauen gegenüber öffnen. Aber diese Erwartungen werden sich nicht schon in den kommenden zwei oder drei Jahren erfüllen. Uns steht eine Zeit bevor, in der vieles erst einmal nebulös verbleibt. Auf längere Sicht jedoch, davon bin ich überzeugt, wird es uns allen besser gehen.
Etwas anders sieht es Kestutis Petrauskis, der sich zunächst als kritischer Journalist einen Namen machte und heute an der Spitze des staatlichen litauischen Rundfunks steht. Die Vorteile der EU-Mitgliedschaft Litauens stehen für ihn außer Frage. Probleme sieht er hingegen in der Gesellschaft selbst. Litauen ist ein Land der Kontraste, sagt Petrauskis. Und ein Land, in dem derzeit der Turbokapitalismus regiert:
Das Land ist wirklich in einer sehr schnellen Entwicklung. Wir haben momentan die größten Wachstumsraten in Europa. Wir haben im ersten Quartal plus 9,5 Prozent erzielt, im zweiten Quartal mehr als sieben Prozent. Im gesamten Jahr wahrscheinlich wird es etwa um acht Prozent plus sein. Wenn man das vergleicht mit Deutschland, mit einem Nullwachstum oder sogar einem Minus, das ist schon ein unterschiedliches Bild.
Doch es gibt eben nicht nur Gewinner dieser Entwicklung, sagt Petrauskis nachdenklich. Vor allem die Alten und die Menschen auf dem Lande fielen der Dynamik des Wandels zum Opfer:
Nach den Jahren der Okkupation, der russischen Herrschaft und nach den Jahren des Kommunismus...: Keiner hier im Lande, oder sehr wenige im Lande, wollen wieder Egalität haben. Die Gesellschaft ist eigentlich gespalten. Die Jungen, die sehr erfolgreich sind, wollen nicht mehr auf die Alten aufpassen. Die Menschen, die in den Großstädten leben, die wollen nicht die Probleme von den Menschen, die irgendwo in den Agrargebieten leben, sehen. Ich würde ganz vereinfachen: Die Leute wollen reicher werden. Und das ist dieser Motor, der uns treibt, immer wieder etwas Neues zu machen, was Besseres zu machen, besser leben, besser verdienen. Wahrscheinlich ein Beispiel dafür: Es gab vor ein paar Jahren die Rede über die progressive Steuer. Und man wollte die progressive Steuer einführen, um eben diese Gleichheit zu erzielen. Aber sogar die Sozialdemokraten, die linken Parteien, haben das sofort abgelehnt und haben gesagt: Nein, das geht nicht, weil das ist ein Stopp für die Entwicklung – die Menschen, die besser arbeiten, die mehr arbeiten, müssen auch mehr verdienen. Und es wird noch, ich weiß es nicht, eine Generation dauern, bis die Rede über die Gleichheit wieder in Mode kommt.
Eine treffende Beobachtung, heißt es in der EU-Kommission in Wilna. Allerdings könne man diese Unterschiede in der litauischen Gesellschaft nicht einfach hinnehmen. Sicherlich, sagt der Baske Fernando Garces de los Fayos, Litauen habe im vergangenen Jahrzehnt ein breites Spektrum an Reformen bewerkstelligt. Im Gegensatz zu beispielsweise Polen oder Ungarn habe das Land mit der Unabhängigkeit 1991 ja erst einmal eigene Staatsstrukturen schaffen müssen. Nun aber, erinnert de los Fayos mit erhobenem Zeigefinger, ist das Land Teil Europas. Und für die EU, das müssten alle verantwortlichen Politiker wissen, seien allzu tiefe Gräben zwischen Alt und Jung oder zwischen Stadt und Land nicht akzeptabel. Litauen aber, zeigt sich de los Fayos optimistisch, wird auch diese Probleme lösen:
Die Menschen sind tüchtig und sehr gut ausgebildet. Ich meine, das ist eine der wichtigsten Ressourcen des Landes. Und, wenn ich das sagen darf, meiner Meinung nach hat Litauen ein größeres Potential als andere Staaten. Vielleicht sage ich das, weil ich hier lebe und die Litauer sehr mag, aber ich denke, es gibt hier einen großen Vorteil: Die Menschen sind nicht in ein oder zwei Städten konzentriert. Die Litauer leben über das ganze Land verteilt, es gibt viele kleine Städte, und auch die Industrie ist im Großen und Ganzen gleichmäßig angesiedelt. Wir von der Europäischen Union betrachten Litauen, was die Entwicklung und Förderung betrifft, natürlich als eine Region. Tatsächlich aber gibt es zahlreiche Mini-Regionen und darin liegt ein wichtiges Potential.
Der Optimismus des Kommissions-Vertreters in Wilna gründet sich nicht zuletzt auf die Erfahrungen, die er mit den litauischen Unterhändlern und Behörden während der Beitrittsverhandlungen in den vergangenen Jahren gesammelt hat. Diese könne er nur als konstruktiv und zielorientiert bezeichnen. Stets, berichtet de los Fayos, habe man sich auf litauischer Seite um sachgerechte Lösungen bemüht – selbst bei heiklen Fragen wie der Landwirtschaft. Nur ein Thema habe die Nerven auf beiden Seiten des Verhandlungstisches wirklich strapaziert – das Kernkraftwerk Ignalina:
Das Problem ist eindeutig: Der Reaktor besitzt keine Ummantelung und somit keinen ausreichenden Schutz. Alle technischen Experten haben stets unterstrichen, dass es keinen Weg gibt, dieses Problem zu lösen. Das kann man Litauen nicht zum Vorwurf machen, der Reaktor stammt ja aus der Sowjetzeit. Aber in der EU haben wir nun einmal gewisse Standards. Ich denke, jeder wird einsehen, dass die Schließung uns allen zugute kommt. Und ich glaube, die Region wird auch ohne das Kernkraftwerk eine Zukunft haben.
Ignalina – ein wahrlich heikles Thema. Das Kernkraftwerk deckt nahezu 80 Prozent des landeseigenen Strombedarfs. Außerdem erhält Litauen durch Exporte an seine Nachbarn wichtige Einnahmen. Hinzu kommt: Das Kernkraftwerk ist der Motor einer ganzen Region. In der Stadt Visaginas im äußersten Nordosten des Landes leben 30.000, zumeist russischsprachige Menschen. Sie kamen während der Sowjetzeit nach Litauen, um im Kraftwerk zu arbeiten. Schließt es, dann stirbt die Stadt, und die Einwohner bleiben ohne eine Perspektive zurück: Zwar bekamen sie – im Gegensatz zu den Russen in Estland und Lettland – mit der Unabhängigkeit des Landes sogleich einen litauischen Pass. Die meisten hier aber sprechen auch im Jahre 13 nach der Unabhängigkeit kein Litauisch und haben so auf dem nationalen Arbeitsmarkt keine Chance.
Kein Wunder also, dass sich die litauische Politik lange gegen die Schließung Ignalinas wehrte. Erst als die EU die Abschaltung der beiden Reaktoren zu einer Bedingung sine qua non für den Beitritt Litauens machte – aus Sicherheitsgründen, denn Ignalina ist im Kern baugleich mit dem Reaktor, der 1986 in Tschernobyl explodierte –, wurde ein Kompromiss erzielt.
Dass das kleine Litauen auch im großen Europa eine Rolle spielen kann, das hat das Land erst vor wenigen Wochen bei der Basketball-Europameisterschaft bewiesen. In Litauen der Volkssport Nummer Eins – manche würden sogar sagen: eine Art Religion – besiegte die Nationalmannschaft auf ihrem Weg ins Endspiel unter anderem Deutschland und Frankreich. Im Finale deklassierten die Litauer dann auch noch die bis dahin ungeschlagene Basketball-Großmacht Spanien:
Am 14. September 2003, kurz vor 23:00 Uhr, war Litauen endgültig in Europa angekommen – und ganz Wilna ein gelb-grün-rotes Fahnenmeer:
Dies ist ein symbolischer Sieg. Für unser kleines Land ist das unglaublich wichtig. Wir haben bewiesen, dass wir den anderen Ländern in der EU nicht unterlegen sind, dass wir zumindest eine Sache besser können als alle anderen – im Sport, im Basketball. Wir haben Euch daran erinnert, dass es uns gibt und auch, dass Ihr uns beachten solltet.
Die Kirche bedeutet viel für uns. Sie war die Institution, die uns auch in der dunklen Sowjetzeit Hoffnung gegeben hat, die die Partisanen unterstützt und die schließlich die Loslösung und Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten ermöglicht hat. Wir alle haben der Kirche viel zu verdanken.
Wir kommen hierher, vergessen den Alltag und unsere Sorgen. Die Kirche gibt uns Mut und Beistand. Wissen Sie, das Leben heute ist nicht so einfach. Früher, während der Sowjetzeit, gab es vieles umsonst, für die Wohnung haben wir keine Miete gezahlt. Das Leben war beschaulich. Heute ist alles sehr teuer. Und man traut sich auch gar nicht mehr vor die Tür: Überall wird geklaut und die Leute schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Die Politiker – die stopfen sich nur die eigenen Taschen voll. Die Armen sind ihnen egal.
Viele der Gläubigen verweilen auf dem kleinen Platz vor der Kirche. In kleinen Gruppen wird geplaudert, lamentiert, gestikuliert und gelacht. Nach etwa zehn Minuten kommt auch der Pfarrer aus der Kirche. Der große, schlanke Mann im schwarzen Talar mischt sich unter die Leute – schüttelt Hände, lauscht und spricht freundliche Worte.
Pfarrer Juozapas Pobrovolskas ist sich bewusst, dass die Stellung der litauischen Kirche herausragt – verglichen mit anderen Ländern in Europa. Nicht wenige Beobachter des litauischen EU-Referendums Anfang Mai meinen, erst der katholische Klerus habe es zugunsten des "Jas" entschieden. In einem Hirtenbrief, der in den Gottesdiensten am Sonntagmorgen verlesen wurde, riefen die Bischöfe dazu auf, für den Beitritt zur EU zu stimmen. Es gehe nicht darum, den Politikern einen Denkzettel zu verpassen, sondern um die Sicherung der Zukunft für die kommenden Generationen, hieß es in dem Text. Der Aufruf verfehlte seine Wirkung nicht. Am Ende machten 63,3 Prozent der Litauer ihr Kreuz, 91 Prozent von ihnen beim "Ja" – nach der Slowakei das zweibeste Ergebnis unter allen Beitrittstaaten.
Die Kirche lässt sich vom Leben der Menschen doch nicht trennen. Wir Pfarrer sitzen ja nicht abseits in irgendeiner Irrenanstalt, sondern verfolgen, was im Lande vor sich geht. Und es ist doch auch gut, dass die Kirche sich für die litauische Geschichte und den Alltag der Leute interessiert. Wenn uns jemand um Rat fragt, und sei es der Präsident, dann bekommt er eine vernünftige Antwort. Denn durch unsere Arbeit kennen wir die Menschen – nicht nur offiziell, sondern aus dem alltäglichen Miteinander. So gesehen haben wir Pfarrer schon etwas zu sagen.
Wenige Kilometer von Sirvintos entfernt. Auf einem Kartoffelacker setzt sich ein alter Traktor in Bewegung. Dahinter lockert ein etwa sechzigjähriger Mann mit einer kleinen Jäte weiter den Boden. Elf Frauen und Männer aus drei Generationen, die auf den ersten Blick wie eine Großfamilie wirken, sammeln die Kartoffeln mit flinken Händen auf. Jeder hat einen kleinen Korb. Ist er voll, kommen die Kartoffeln in einen großen weißen Sack aus Plastik.
Die Arbeit ist hart. In gebückter Haltung arbeitet sich die Gruppe Meter um Meter voran. Schon nach wenigen Minuten sind die Hemden der Männer verschwitzt. Immer wieder wischen sich die Frauen über die Stirn und rücken ihre Kopftücher zurecht. Alle paar Minuten muss sich jemand strecken und hält sich den Rücken. Erde rieselt dabei von Kleidern und Händen.
Es gibt ein altes Sprichwort: "Wer hart arbeitet, dem wird von Gott geholfen". Und diese Leute hier arbeiten wirklich hart. Und dann gibt es da noch eine andere Geschichte. "Ein Russe sagt stolz: Ich habe nichts gepflanzt und nichts geerntet, ich bekomme alles im Laden. Eines Tages kommt er in das Geschäft, die Regale sind leer – und der Mann wundert sich, warum.
Die Gruppe macht eine Pause. Mit großem Appetit werden die selbstgeschmierten Brote, Tomaten und sauren Gurken verzehrt. Heruntergespült wird das Essen mit frischem Wasser, Kaffee und selbstgebranntem Schnaps. Alle reden durcheinander, es wird viel gelacht, manch einer schläft in der Nachmittagssonne ein.
Die Szene wirkt in all ihrer Einfachheit idyllisch. Die Männer und Frauen sind keine Großfamilie, sondern Nachbarn. Jeder von ihnen besitzt ein kleines Stück Land. Man hilft sich gegenseitig, wo immer man kann:
Ich bin Krankenschwester in einem Krankenhaus und bekomme im Monat 500 Litas. Davon muss ich meine Steuern, meine Miete, das Telefon und all die anderen Dinge zahlen. Für das Essen bleiben 120 Litas – für die gesamte Familie. Würden wir hier auf dem Feld nicht wenigstens ein paar Kartoffeln und Kräuter anpflanzen, wären wir schon längst verhungert. Ich weiß gar nicht, wie es die Leute in der Stadt schaffen, zu überleben.
120 Litas – das sind weniger als 40 Euro. Auch in Litauen ist das wenig Geld. Ein Durchschnittslohn liegt bei etwa 1000 Litas, sprich 350 Euro, im Monat – weniger also als das, was derjenige, der in Deutschland einen Minijob annimmt, verdient. Kein Wunder also, dass gerade die Jungen ihr Glück andernorts versuchen. Zwanzig- bis Dreißigjährige sind auf dem Lande kaum zu sehen. Ganze Gegenden Litauens drohen zu vergreisen:
Die Jungen gehen alle in die Städte – vor allem nach Vilnius. Einige verlassen sogar das Land. Hier auf dem Lande bleibt fast niemand.
Es fehlt die Perspektive! Zwar wurden die Kolchosen nach der Unabhängigkeit Litauens aufgelöst, die Menschen erhielten ihr Land zurück. Allerdings fehlt vielen das Geld, es zu bewirtschaften. Auch die EU, sagt die Krankenschwester, bietet diesbezüglich wenig Hoffnung. Alle Agrar- und Strukturhilfen basieren auf dem Prinzip der Kofinanzierung. Mit anderen Worten: Beantragt man Zuschüsse, kommt man um einen finanziellen Eigenanteil nicht herum. Für die Menschen hier eine Utopie, sagt der ältere Herr. In seiner Stimme schwingen Zorn und Galgenhumor zugleich:
Die Regierung kümmert sich nur um sich selbst und ihre Posten. Vor Wahlen – da tun die Politiker immer so, als ob sie sich für die Probleme der einfachen Leute interessieren. Danach wollen sie am liebsten nicht gestört werden.
Eine Frau:
Abzocker sind das. Die verdienen vier Mal so viel wie ein normaler Bürger.
Die gesellschaftliche Situation heute ist nicht einfach: Wir hatten den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft, von einem Einparteiensystem zu einer parlamentarischen Demokratie zu bewerkstelligen. Und selbstverständlich haben wir in diesem Transformationsprozess einige, vielleicht auch zahlreiche Fehler gemacht, die die Menschen jetzt am eigenen Leibe spüren. Das müssen wir zugeben.
Litauens Präsident Rolandas Paksas, der von den einen verehrt, von anderen wiederum als politischer Populist bezeichnet wird, zeigt sich einsichtig. Dass der Reformprozess seines Landes grundsätzlich aber in die richtige Richtung geht – daran hegt Paksas keinen Zweifel:
Als ich noch Bürgermeister von Vilnius war, hatte ich stets einen innigen Wunsch für all diejenigen, die unzufrieden mit dem Reformprozess sind: Ich dachte, man müsste auf unserer schönsten Einkaufsstraße, dem Gedimino Prospekt, einen Supermarkt aus sowjetischer Zeit wiedereröffnen, damit jeder, der sich zu dieser Zeit zurücksehnt, dort noch einmal hineingehen, sich die leeren Regale sowie die äußerst robusten Verkäuferinnen anschauen kann, die ihm dann sagen, dass es nichts mehr gibt. Nur unter dem Ladentisch sei noch das ein oder andere vorhanden.
Angriff ist die beste Verteidigung. So hält es auch Algirdas Brazauskas, der 71-jährige Grandseigneur oder auch das Chamäleon der litauischen Politik. Ende der achtziger Jahre erster Mann der Kommunistischen Partei Litauens, dann erster gewählter Präsident des unabhängigen Landes und – nach seinem zwischenzeitlichen Abschied aus der Politik – heute Litauens Ministerpräsident, sozialdemokratischer wohlgemerkt. Die Behauptung, in keinem anderen der zehn Beitrittstaaten sei die Kluft zwischen Bürgern und Politik so groß wie in Litauen, ist schlichtweg falsch, sagt Brazauskas.
Unsere Gesellschaft erlebt zurzeit, was ich als eine Periode der guten Hoffnung bezeichnen möchte. Wir glauben, dass die EU-Mitgliedschaft unsere Demokratie festigen und unser Wirtschaftswachstum noch beschleunigen wird. Die Investitionen werden steigen, Litauen wird ein offneres Land und auch Europa wird sich Litauen gegenüber öffnen. Aber diese Erwartungen werden sich nicht schon in den kommenden zwei oder drei Jahren erfüllen. Uns steht eine Zeit bevor, in der vieles erst einmal nebulös verbleibt. Auf längere Sicht jedoch, davon bin ich überzeugt, wird es uns allen besser gehen.
Etwas anders sieht es Kestutis Petrauskis, der sich zunächst als kritischer Journalist einen Namen machte und heute an der Spitze des staatlichen litauischen Rundfunks steht. Die Vorteile der EU-Mitgliedschaft Litauens stehen für ihn außer Frage. Probleme sieht er hingegen in der Gesellschaft selbst. Litauen ist ein Land der Kontraste, sagt Petrauskis. Und ein Land, in dem derzeit der Turbokapitalismus regiert:
Das Land ist wirklich in einer sehr schnellen Entwicklung. Wir haben momentan die größten Wachstumsraten in Europa. Wir haben im ersten Quartal plus 9,5 Prozent erzielt, im zweiten Quartal mehr als sieben Prozent. Im gesamten Jahr wahrscheinlich wird es etwa um acht Prozent plus sein. Wenn man das vergleicht mit Deutschland, mit einem Nullwachstum oder sogar einem Minus, das ist schon ein unterschiedliches Bild.
Doch es gibt eben nicht nur Gewinner dieser Entwicklung, sagt Petrauskis nachdenklich. Vor allem die Alten und die Menschen auf dem Lande fielen der Dynamik des Wandels zum Opfer:
Nach den Jahren der Okkupation, der russischen Herrschaft und nach den Jahren des Kommunismus...: Keiner hier im Lande, oder sehr wenige im Lande, wollen wieder Egalität haben. Die Gesellschaft ist eigentlich gespalten. Die Jungen, die sehr erfolgreich sind, wollen nicht mehr auf die Alten aufpassen. Die Menschen, die in den Großstädten leben, die wollen nicht die Probleme von den Menschen, die irgendwo in den Agrargebieten leben, sehen. Ich würde ganz vereinfachen: Die Leute wollen reicher werden. Und das ist dieser Motor, der uns treibt, immer wieder etwas Neues zu machen, was Besseres zu machen, besser leben, besser verdienen. Wahrscheinlich ein Beispiel dafür: Es gab vor ein paar Jahren die Rede über die progressive Steuer. Und man wollte die progressive Steuer einführen, um eben diese Gleichheit zu erzielen. Aber sogar die Sozialdemokraten, die linken Parteien, haben das sofort abgelehnt und haben gesagt: Nein, das geht nicht, weil das ist ein Stopp für die Entwicklung – die Menschen, die besser arbeiten, die mehr arbeiten, müssen auch mehr verdienen. Und es wird noch, ich weiß es nicht, eine Generation dauern, bis die Rede über die Gleichheit wieder in Mode kommt.
Eine treffende Beobachtung, heißt es in der EU-Kommission in Wilna. Allerdings könne man diese Unterschiede in der litauischen Gesellschaft nicht einfach hinnehmen. Sicherlich, sagt der Baske Fernando Garces de los Fayos, Litauen habe im vergangenen Jahrzehnt ein breites Spektrum an Reformen bewerkstelligt. Im Gegensatz zu beispielsweise Polen oder Ungarn habe das Land mit der Unabhängigkeit 1991 ja erst einmal eigene Staatsstrukturen schaffen müssen. Nun aber, erinnert de los Fayos mit erhobenem Zeigefinger, ist das Land Teil Europas. Und für die EU, das müssten alle verantwortlichen Politiker wissen, seien allzu tiefe Gräben zwischen Alt und Jung oder zwischen Stadt und Land nicht akzeptabel. Litauen aber, zeigt sich de los Fayos optimistisch, wird auch diese Probleme lösen:
Die Menschen sind tüchtig und sehr gut ausgebildet. Ich meine, das ist eine der wichtigsten Ressourcen des Landes. Und, wenn ich das sagen darf, meiner Meinung nach hat Litauen ein größeres Potential als andere Staaten. Vielleicht sage ich das, weil ich hier lebe und die Litauer sehr mag, aber ich denke, es gibt hier einen großen Vorteil: Die Menschen sind nicht in ein oder zwei Städten konzentriert. Die Litauer leben über das ganze Land verteilt, es gibt viele kleine Städte, und auch die Industrie ist im Großen und Ganzen gleichmäßig angesiedelt. Wir von der Europäischen Union betrachten Litauen, was die Entwicklung und Förderung betrifft, natürlich als eine Region. Tatsächlich aber gibt es zahlreiche Mini-Regionen und darin liegt ein wichtiges Potential.
Der Optimismus des Kommissions-Vertreters in Wilna gründet sich nicht zuletzt auf die Erfahrungen, die er mit den litauischen Unterhändlern und Behörden während der Beitrittsverhandlungen in den vergangenen Jahren gesammelt hat. Diese könne er nur als konstruktiv und zielorientiert bezeichnen. Stets, berichtet de los Fayos, habe man sich auf litauischer Seite um sachgerechte Lösungen bemüht – selbst bei heiklen Fragen wie der Landwirtschaft. Nur ein Thema habe die Nerven auf beiden Seiten des Verhandlungstisches wirklich strapaziert – das Kernkraftwerk Ignalina:
Das Problem ist eindeutig: Der Reaktor besitzt keine Ummantelung und somit keinen ausreichenden Schutz. Alle technischen Experten haben stets unterstrichen, dass es keinen Weg gibt, dieses Problem zu lösen. Das kann man Litauen nicht zum Vorwurf machen, der Reaktor stammt ja aus der Sowjetzeit. Aber in der EU haben wir nun einmal gewisse Standards. Ich denke, jeder wird einsehen, dass die Schließung uns allen zugute kommt. Und ich glaube, die Region wird auch ohne das Kernkraftwerk eine Zukunft haben.
Ignalina – ein wahrlich heikles Thema. Das Kernkraftwerk deckt nahezu 80 Prozent des landeseigenen Strombedarfs. Außerdem erhält Litauen durch Exporte an seine Nachbarn wichtige Einnahmen. Hinzu kommt: Das Kernkraftwerk ist der Motor einer ganzen Region. In der Stadt Visaginas im äußersten Nordosten des Landes leben 30.000, zumeist russischsprachige Menschen. Sie kamen während der Sowjetzeit nach Litauen, um im Kraftwerk zu arbeiten. Schließt es, dann stirbt die Stadt, und die Einwohner bleiben ohne eine Perspektive zurück: Zwar bekamen sie – im Gegensatz zu den Russen in Estland und Lettland – mit der Unabhängigkeit des Landes sogleich einen litauischen Pass. Die meisten hier aber sprechen auch im Jahre 13 nach der Unabhängigkeit kein Litauisch und haben so auf dem nationalen Arbeitsmarkt keine Chance.
Kein Wunder also, dass sich die litauische Politik lange gegen die Schließung Ignalinas wehrte. Erst als die EU die Abschaltung der beiden Reaktoren zu einer Bedingung sine qua non für den Beitritt Litauens machte – aus Sicherheitsgründen, denn Ignalina ist im Kern baugleich mit dem Reaktor, der 1986 in Tschernobyl explodierte –, wurde ein Kompromiss erzielt.
Dass das kleine Litauen auch im großen Europa eine Rolle spielen kann, das hat das Land erst vor wenigen Wochen bei der Basketball-Europameisterschaft bewiesen. In Litauen der Volkssport Nummer Eins – manche würden sogar sagen: eine Art Religion – besiegte die Nationalmannschaft auf ihrem Weg ins Endspiel unter anderem Deutschland und Frankreich. Im Finale deklassierten die Litauer dann auch noch die bis dahin ungeschlagene Basketball-Großmacht Spanien:
Am 14. September 2003, kurz vor 23:00 Uhr, war Litauen endgültig in Europa angekommen – und ganz Wilna ein gelb-grün-rotes Fahnenmeer:
Dies ist ein symbolischer Sieg. Für unser kleines Land ist das unglaublich wichtig. Wir haben bewiesen, dass wir den anderen Ländern in der EU nicht unterlegen sind, dass wir zumindest eine Sache besser können als alle anderen – im Sport, im Basketball. Wir haben Euch daran erinnert, dass es uns gibt und auch, dass Ihr uns beachten solltet.