Gewaltige Kräfte zerren am modernen Menschen. Ständig hat er wegweisende Entscheidungen zu treffen: Ist das die richtige Frau für mich? Wie erzieht man sein Kind? Geht es im Leben um Glück oder um Sicherheit? Wann widerspreche ich den Imperativen des laufenden Geschäftslebens? Wer bin ich eigentlich? Aber sind das überhaupt die wichtigen, die richtigen Fragen? Stets werden wir verantwortlich gemacht für unsere Entscheidungen. Und es ist wahr: Wir haben die Entscheidung getroffen. Doch jeder weiß, für keine Wahl gibt es zwingende Gründe. Eigentlich wären Wahrheiten ein Spiel, doch sie werden als blutiger Ernst verhandelt. Der pseudomedizinische Name für diese Lebensumstände ist: Stress. Und wo der Stress tobt, da ist der Ruf nach Gelassenheit nicht fern. Und das ist der Ausgangspunkt der Überlegungen von Thomas Strässle:
"Gelassenheit ist schon ein Begriff, der in der Gegenwart auratisch überhöht ist. Wer möchte schon nicht gelassen sein? Wer möchte schon sich nicht gelassen zeigen? Man achte nur einmal darauf, wie in den Medien dieses Wort verwendet wird. Das ist immer eine Haltung der Souveränität, der Unantastbarkeit usw. Also es ist ein Wort, das eine enorme Konjunktur besitzt, aber eben als ein etwas unklar konturierter Zustand, nach dem man sich sehnt. Und da dachte ich, es ist eine noble Aufgabe für einen Geisteswissenschaftler wie mich, dieses Wort mal von seinen Ursprüngen her zu denken."
Überall auf Erden sucht man nach den Erhebungen der Gelassenheit, doch erstaunlicherweise scheint es ein deutsches Unternehmen zu sein. Ein genaues Pendant zum deutschen Wort "Gelassenheit" findet sich in keiner anderen Sprache. Das mag damit zu tun haben, dass Gelassenheit bereits im 13. Jahrhundert nicht nur als Wort im Deutschen auftaucht, sondern gleich als komplexer Heilsweg gedacht wird. Der Theologe und Mystiker Meister Eckhard definierte damals Gelassenheit als Technik, mit der man sich, einerseits, aus der Umklammerung des Irdischen befreit - um, andererseits, gelassen zu werden. Denn nur im Zustand der Gelassenheit kann man Gott begegnen:
"Er hat damit ein Wort in die Welt gesetzt, das unerhörte Wirkung entfaltet hat. Das aber natürlich auch schon seine Vorläufer hat in der Antike, wenn Sie an all die stoischen Konzepte denken: Ataraxie, Apathie - also das Sich-nicht-erstaunen-lassen. Aber der Punkt bei ihm ist der, dass in Gelassenheit zugleich eine aktivische und eine passivische Seite drin steckt, nämlich: etwas lassen und gelassen werden."
Die Gelassenheit, die Meister Eckhard sucht, ist eine verwegene und verwirrende Angelegenheit, denn zuletzt geht es ihm darum, sogar Gott zu lassen:
"Gott um Gottes willen lassen: Man lässt Gott, indem man ihn – wie er selbst es ja vorschreibt – von allen Begriffen, von allen Vorstellungen, von allen Bildern befreit, die zwangsläufig doch nur aus der geschaffenen Welt stammen können und Gott daher fundamental inadäquat sein müssen. Um die höchste Stufe der Gelassenheit, die wesenhafte Vereinigung mit Gott, zu erlangen, muss man selbst denjenigen lassen, dem man sich überlässt."
"Und die Gleichzeitigkeit, dieses Konzept gleichzeitig als einen aktiven und einen passiven Zustand zu denken, als Schwebezustand von Aktivität und Passivität, als lassen und gelassen werden, das ist neu bei ihm. Und das ist eigentlich die Grundstruktur, die paradoxe Grundstruktur, die seitdem das deutsche Wort Gelassenheit prägt und die Gelassenheit zu einem schwer zu bewahrenden und schwer zu erlangenden Zustand macht."
Man könnte sagen: Das ist die der Gelassenheit eigene Unruhe, dass sie etwas dafür tun muss, um zur Ruhe zu kommen. Diese Struktur der Gelassenheit zeigt Thomas Strässle am Beispiel ausgewählter deutschsprachiger Dichter und Denker - eben von Meister Eckhart über Schopenhauer bis Robert Walser oder Peter Sloterdijk. Und es geht dabei natürlich auch um die Fallen der Gelassenheit, wenn die Gelassenheit gewissermaßen sich selbst verfällt und zur bloßen "coolen" Distanz wird:
"Gelassenheit heißt auszuhalten die Spannung zwischen Involviertheit und Distanz und weder die eine noch die andere überhandnehmen zu lassen. Und Coolness wäre die reine Distanz, die sich jeder Involviertheit entledigt hat. Der Begriff taugt dazu, sich bewusst zu werden, wie man eigentlich zu den Dingen steht, die einen umgeben. Und das kann nicht einfach bedeuten, sich von allem zu verabschieden, sondern es kann bedeuten, sich in ein für einen selbst fruchtbringenderes Verhältnis zu Welt zu setzen."
Dem Züricher Literaturwissenschaftler stand sicher nicht der Sinn nach einem weiteren Beispiel verzweifelter Lebensberatungsliteratur, ihm ging es auch nicht um eine rein akademische Begriffsgeschichte. Thomas Strässle will vielmehr die komplexe Fülle des Begriffs anhand einer Tradition entfalten, die sehr viel weiter zurückreicht, als man vermutet hätte. Und so beschreibt er die Komplexität einer Haltung, der es eigentlich um die Minderung von Komplexität geht. Das heißt, wir müssen bestimmte Entscheidungen treffen, um dem laufenden Entscheidungsdruck zu entgehen.
"Ich halte es für mich damit, dass ich versuche, die Balance zu halten zwischen dem, was ich will und dem, was von mir verlangt wird. Etwas vom Praktikabelsten, auf das ich gestoßen bin im Rahmen meiner Recherchen, stammt von Friedrich Nietzsche, der sagt, die Voraussetzung der Gelassenheit ist, dass man sich selber Werte setzen kann. Nun ist Wert ein antiquiertes Wort, trotzdem finde ich es sehr praktikabel, wenn man sich sagt, worauf will ich meine Energien verwenden, worauf soll ich meine Interessen richten usw. also, dass man sich Rechenschaft darüber ablegt, was einem wichtig und was einem unwichtig ist, was einem etwas bedeutet und was nicht, was man bewältigen kann und was nicht. Das sind all die Abklärungen, die man treffen muss, bevor man in einen gelassenen Zustand geraten kann. "
Das Schöne an dem Buch von Thomas Strässle besteht gerade darin, dass er nicht nur über Gelassenheit schreibt, sondern dabei den Geist der Gelassenheit verbreitet. Am Ende spüren wir in aller Ruhe, was zu tun ist.
Thomas Strässle: "Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt", Hanser Verlag, München, 144 Seiten, 17,90 EURO
"Gelassenheit ist schon ein Begriff, der in der Gegenwart auratisch überhöht ist. Wer möchte schon nicht gelassen sein? Wer möchte schon sich nicht gelassen zeigen? Man achte nur einmal darauf, wie in den Medien dieses Wort verwendet wird. Das ist immer eine Haltung der Souveränität, der Unantastbarkeit usw. Also es ist ein Wort, das eine enorme Konjunktur besitzt, aber eben als ein etwas unklar konturierter Zustand, nach dem man sich sehnt. Und da dachte ich, es ist eine noble Aufgabe für einen Geisteswissenschaftler wie mich, dieses Wort mal von seinen Ursprüngen her zu denken."
Überall auf Erden sucht man nach den Erhebungen der Gelassenheit, doch erstaunlicherweise scheint es ein deutsches Unternehmen zu sein. Ein genaues Pendant zum deutschen Wort "Gelassenheit" findet sich in keiner anderen Sprache. Das mag damit zu tun haben, dass Gelassenheit bereits im 13. Jahrhundert nicht nur als Wort im Deutschen auftaucht, sondern gleich als komplexer Heilsweg gedacht wird. Der Theologe und Mystiker Meister Eckhard definierte damals Gelassenheit als Technik, mit der man sich, einerseits, aus der Umklammerung des Irdischen befreit - um, andererseits, gelassen zu werden. Denn nur im Zustand der Gelassenheit kann man Gott begegnen:
"Er hat damit ein Wort in die Welt gesetzt, das unerhörte Wirkung entfaltet hat. Das aber natürlich auch schon seine Vorläufer hat in der Antike, wenn Sie an all die stoischen Konzepte denken: Ataraxie, Apathie - also das Sich-nicht-erstaunen-lassen. Aber der Punkt bei ihm ist der, dass in Gelassenheit zugleich eine aktivische und eine passivische Seite drin steckt, nämlich: etwas lassen und gelassen werden."
Die Gelassenheit, die Meister Eckhard sucht, ist eine verwegene und verwirrende Angelegenheit, denn zuletzt geht es ihm darum, sogar Gott zu lassen:
"Gott um Gottes willen lassen: Man lässt Gott, indem man ihn – wie er selbst es ja vorschreibt – von allen Begriffen, von allen Vorstellungen, von allen Bildern befreit, die zwangsläufig doch nur aus der geschaffenen Welt stammen können und Gott daher fundamental inadäquat sein müssen. Um die höchste Stufe der Gelassenheit, die wesenhafte Vereinigung mit Gott, zu erlangen, muss man selbst denjenigen lassen, dem man sich überlässt."
"Und die Gleichzeitigkeit, dieses Konzept gleichzeitig als einen aktiven und einen passiven Zustand zu denken, als Schwebezustand von Aktivität und Passivität, als lassen und gelassen werden, das ist neu bei ihm. Und das ist eigentlich die Grundstruktur, die paradoxe Grundstruktur, die seitdem das deutsche Wort Gelassenheit prägt und die Gelassenheit zu einem schwer zu bewahrenden und schwer zu erlangenden Zustand macht."
Man könnte sagen: Das ist die der Gelassenheit eigene Unruhe, dass sie etwas dafür tun muss, um zur Ruhe zu kommen. Diese Struktur der Gelassenheit zeigt Thomas Strässle am Beispiel ausgewählter deutschsprachiger Dichter und Denker - eben von Meister Eckhart über Schopenhauer bis Robert Walser oder Peter Sloterdijk. Und es geht dabei natürlich auch um die Fallen der Gelassenheit, wenn die Gelassenheit gewissermaßen sich selbst verfällt und zur bloßen "coolen" Distanz wird:
"Gelassenheit heißt auszuhalten die Spannung zwischen Involviertheit und Distanz und weder die eine noch die andere überhandnehmen zu lassen. Und Coolness wäre die reine Distanz, die sich jeder Involviertheit entledigt hat. Der Begriff taugt dazu, sich bewusst zu werden, wie man eigentlich zu den Dingen steht, die einen umgeben. Und das kann nicht einfach bedeuten, sich von allem zu verabschieden, sondern es kann bedeuten, sich in ein für einen selbst fruchtbringenderes Verhältnis zu Welt zu setzen."
Dem Züricher Literaturwissenschaftler stand sicher nicht der Sinn nach einem weiteren Beispiel verzweifelter Lebensberatungsliteratur, ihm ging es auch nicht um eine rein akademische Begriffsgeschichte. Thomas Strässle will vielmehr die komplexe Fülle des Begriffs anhand einer Tradition entfalten, die sehr viel weiter zurückreicht, als man vermutet hätte. Und so beschreibt er die Komplexität einer Haltung, der es eigentlich um die Minderung von Komplexität geht. Das heißt, wir müssen bestimmte Entscheidungen treffen, um dem laufenden Entscheidungsdruck zu entgehen.
"Ich halte es für mich damit, dass ich versuche, die Balance zu halten zwischen dem, was ich will und dem, was von mir verlangt wird. Etwas vom Praktikabelsten, auf das ich gestoßen bin im Rahmen meiner Recherchen, stammt von Friedrich Nietzsche, der sagt, die Voraussetzung der Gelassenheit ist, dass man sich selber Werte setzen kann. Nun ist Wert ein antiquiertes Wort, trotzdem finde ich es sehr praktikabel, wenn man sich sagt, worauf will ich meine Energien verwenden, worauf soll ich meine Interessen richten usw. also, dass man sich Rechenschaft darüber ablegt, was einem wichtig und was einem unwichtig ist, was einem etwas bedeutet und was nicht, was man bewältigen kann und was nicht. Das sind all die Abklärungen, die man treffen muss, bevor man in einen gelassenen Zustand geraten kann. "
Das Schöne an dem Buch von Thomas Strässle besteht gerade darin, dass er nicht nur über Gelassenheit schreibt, sondern dabei den Geist der Gelassenheit verbreitet. Am Ende spüren wir in aller Ruhe, was zu tun ist.
Thomas Strässle: "Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt", Hanser Verlag, München, 144 Seiten, 17,90 EURO