Sie trug ihr glattes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der Pony fiel ihr fast bis in die Augen. Und mit kleinen Zwischenschritten hüpfte sie zum Käfig, wie es ein fünf Jahre jüngeres Mädchen getan hätte. Mit dem Rücken zu uns stellte sie sich auf Zehenspitzen, öffnete den Käfig und holte den Vogel heraus. Ich konnte nicht sehen, was sie tat. Der Vogel fiepte, sie fuchtelte einen Moment lang mit den Händen, vielleicht versuchte der Vogel zu entkommen. Als sich Sara zu uns umdrehte, war der Vogel nicht mehr da. Ihr Mund, ihre Nase, ihr Kinn und ihre beiden Hände waren blutverschmiert. Sie lächelte beschämt, ihr riesiger Mund verzog und öffnete sich, und ihre roten Zähne ließen mich mit einem Satz aufspringen.
Ein Auszug aus einer Erzählung von Samanta Schweblin mit dem Titel "Der Mund voller Vögel". Die Geschichte über ein Mädchen, das lebendige Vögel verspeist, zählt zu den stärksten Erzählungen in dem jetzt auf Deutsch erschienenen Band der argentinischen Autorin. Eine Geschichte, die nicht nur aufgrund der bizarren Idee und der schockierenden Beschreibung lange nachklingt, sondern auch deshalb, weil Samanta Schweblin keinerlei Erklärung für das merkwürdige Verhalten des Mädchens anbietet. Ihre Kunst besteht vielmehr darin, das eigentümliche Geschehen bewusst in der Schwebe zu halten. Dies gilt auch für die übrigen Erzählungen des Bandes "Die Wahrheit über die Zukunft". Alle Geschichten bergen ein Geheimnis, das nicht aufgelöst wird, alle weisen einen beunruhigenden Unterton auf. Schweblin, die zur jungen Autorengeneration Argentiniens zählt, lebt in Buenos Aires:
"Mich interessiert die Dunkelheit. Ich möchte klar und präzise schreiben, und es gefällt mir, wenn das Dunkle im alltäglichen Leben aufscheint. Das hat aber nichts mit dem Genre des Horrors zu tun, vielleicht geht es etwas in Richtung fantastische Literatur, es ist aber auch nicht rein fantastisch, denn alle Geschichten in diesem Buch könnten so passiert sein. Mehr als der Horror an sich interessiert mich das Risiko, dass so etwas geschehen könnte. Dieser große Zweifel – könnte das wirklich passieren, ja oder nein? Ich mag die fantastische Literatur sehr, aber in meinen Texten achte ich darauf, mich immer genau auf der Grenze zwischen dem Realen und dem Fantastischen zu bewegen und nie daneben zu treten."
Tatsächlich bewegen sich die insgesamt 14 Erzählungen genau auf der Grenze zwischen Normalität und Neurose, zwischen Marotte und Monstrosität: Da hebt einer stoisch eine Grube aus und wartet auf den Mann, für den sie bestimmt ist. Ein anderer muss einen Hund erschlagen, um seine Eignung für einen Job zu beweisen. In einer Erzählung geht es um ein junges Paar, das mit merkwürdigen Ritualen seine Fruchtbarkeit steigern will. In einer anderen hat sich ein Mann zwischen den Regalen eines Spielwarenladens häuslich niedergelassen, um auf diese Weise seiner Mutter zu entkommen. Mit ihren wunderbar mehrdeutigen Erzählungen setzt Samanta Schweblin auf ganz eigene Weise die argentinische Tradition der fantastischen Literatur fort und erweist sich dabei als ausgezeichnete Stilistin. Sie legt Wert auf schnörkellose Schilderungen und vertraut ganz auf die Macht der Sprache.
"Meiner Ansicht nach muss es zwischen Leser und Autor einen Pakt geben. Und zwar dergestalt, dass wenn ich sage, etwas ist weiß, dann ist es absolut weiß. Wenn ich sage, etwas ist weiß, dann bedeutet das, es ist weißer, als wenn ich gesagt hätte, etwas ist sehr weiß. Es geht um das tatsächliche Gewicht der Worte, und es ist entscheidend, dass sich der Leser darauf verlassen kann. Im Gegensatz zum Roman sollte eine Erzählung meiner Ansicht nach nichts Überflüssiges enthalten."
Auf die Erzählungen in diesem Band trifft dies durchweg zu – was im Übrigen auch der stilsicheren Übersetzung von Angelica Ammar zu verdanken ist. Samanta Schweblin knüpft mit ihren sorgfältig komponierten Texten auch an die lange argentinische Tradition der Kurzgeschichte an, die mit Namen wie Borges, Bioy Casares und Cortázar verbunden ist. Das Genre gilt am Rio de la Plata nicht als Fingerübung, sondern genießt höchste Wertschätzung: Wahre Meisterschaft beweist man hier nicht durch einen komplexen Roman sondern durch prägnante Erzählungen. Mehr als drei Jahre lang arbeitete die 32-Jährige an ihrem zweiten Erzählband. Sie schätzt das Genre der Kurzgeschichte wegen seiner Dynamik:
"Für mich ist die Geschwindigkeit einer Erzählung ganz entscheidend. Der Begriff der Geschwindigkeit wird häufig abgewertet und mit negativen Dingen in Verbindung gebracht. Meiner Ansicht nach kann man jedoch durch ein unmittelbares und genaues Erzählen erreichen, dass ein Text eine sehr kraftvolle Dynamik erhält. Man sollte schon vom ersten Wort an wissen, worauf es hinausläuft, denn sonst fängt man an, in die Breite zu gehen, und das interessiert mich nicht. Ich mag es am liebsten, wenn einem die Erzählung einen Schlag versetzt, wenn man am Ende "Oh" sagt und das Buch erst einmal weglegt, wenn man etwas anderes tun muss und erst später weiterlesen kann."
Samanta Schweblins faszinierende Erzählungen entwickeln eine starke Sogwirkung und erzeugen in vielen Fällen einen "Oh-Effekt". So endet zum Beispiel die Geschichte "Der Mund voller Vögel" damit, dass Saras Vater, den das grausame Ritual seiner Tochter zutiefst anekelt, in einer Tierhandlung Nachschub besorgt. Doch nicht immer steht am Ende ein Paukenschlag. Oft gelingt es der argentinischen Autorin, die gewohnte Wahrnehmung ins Rutschen zu bringen, indem sie die realistische Ebene nur ganz leicht verschiebt. Wie zum Beispiel in der kürzesten Erzählung des Bandes: Da warten Eltern vor einer Schule auf ihre Kinder und unterhalten sich über deren Zartheit und hübsche Kleider. Als der Unterricht endet, stürmen jedoch keine Kinder aus der Schule – sondern Schmetterlinge. Samanta Schweblin:
"Für mich hat das Ende den intensivsten Geschmack. Es ist wie bei einem Glas Wein, da hat auch der letzte Schluck einen ganz besonderen Geschmack! Und das Schöne an einem Erzählband ist, dass er mindestens ein Dutzend dieser letzten Tropfen Wein enthält, die für mich die stärksten und die reizvollsten sind!"
Samanta Schweblin: "Die Wahrheit über die Zukunft". Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 130 Seiten, 19,80 Euro.
Ein Auszug aus einer Erzählung von Samanta Schweblin mit dem Titel "Der Mund voller Vögel". Die Geschichte über ein Mädchen, das lebendige Vögel verspeist, zählt zu den stärksten Erzählungen in dem jetzt auf Deutsch erschienenen Band der argentinischen Autorin. Eine Geschichte, die nicht nur aufgrund der bizarren Idee und der schockierenden Beschreibung lange nachklingt, sondern auch deshalb, weil Samanta Schweblin keinerlei Erklärung für das merkwürdige Verhalten des Mädchens anbietet. Ihre Kunst besteht vielmehr darin, das eigentümliche Geschehen bewusst in der Schwebe zu halten. Dies gilt auch für die übrigen Erzählungen des Bandes "Die Wahrheit über die Zukunft". Alle Geschichten bergen ein Geheimnis, das nicht aufgelöst wird, alle weisen einen beunruhigenden Unterton auf. Schweblin, die zur jungen Autorengeneration Argentiniens zählt, lebt in Buenos Aires:
"Mich interessiert die Dunkelheit. Ich möchte klar und präzise schreiben, und es gefällt mir, wenn das Dunkle im alltäglichen Leben aufscheint. Das hat aber nichts mit dem Genre des Horrors zu tun, vielleicht geht es etwas in Richtung fantastische Literatur, es ist aber auch nicht rein fantastisch, denn alle Geschichten in diesem Buch könnten so passiert sein. Mehr als der Horror an sich interessiert mich das Risiko, dass so etwas geschehen könnte. Dieser große Zweifel – könnte das wirklich passieren, ja oder nein? Ich mag die fantastische Literatur sehr, aber in meinen Texten achte ich darauf, mich immer genau auf der Grenze zwischen dem Realen und dem Fantastischen zu bewegen und nie daneben zu treten."
Tatsächlich bewegen sich die insgesamt 14 Erzählungen genau auf der Grenze zwischen Normalität und Neurose, zwischen Marotte und Monstrosität: Da hebt einer stoisch eine Grube aus und wartet auf den Mann, für den sie bestimmt ist. Ein anderer muss einen Hund erschlagen, um seine Eignung für einen Job zu beweisen. In einer Erzählung geht es um ein junges Paar, das mit merkwürdigen Ritualen seine Fruchtbarkeit steigern will. In einer anderen hat sich ein Mann zwischen den Regalen eines Spielwarenladens häuslich niedergelassen, um auf diese Weise seiner Mutter zu entkommen. Mit ihren wunderbar mehrdeutigen Erzählungen setzt Samanta Schweblin auf ganz eigene Weise die argentinische Tradition der fantastischen Literatur fort und erweist sich dabei als ausgezeichnete Stilistin. Sie legt Wert auf schnörkellose Schilderungen und vertraut ganz auf die Macht der Sprache.
"Meiner Ansicht nach muss es zwischen Leser und Autor einen Pakt geben. Und zwar dergestalt, dass wenn ich sage, etwas ist weiß, dann ist es absolut weiß. Wenn ich sage, etwas ist weiß, dann bedeutet das, es ist weißer, als wenn ich gesagt hätte, etwas ist sehr weiß. Es geht um das tatsächliche Gewicht der Worte, und es ist entscheidend, dass sich der Leser darauf verlassen kann. Im Gegensatz zum Roman sollte eine Erzählung meiner Ansicht nach nichts Überflüssiges enthalten."
Auf die Erzählungen in diesem Band trifft dies durchweg zu – was im Übrigen auch der stilsicheren Übersetzung von Angelica Ammar zu verdanken ist. Samanta Schweblin knüpft mit ihren sorgfältig komponierten Texten auch an die lange argentinische Tradition der Kurzgeschichte an, die mit Namen wie Borges, Bioy Casares und Cortázar verbunden ist. Das Genre gilt am Rio de la Plata nicht als Fingerübung, sondern genießt höchste Wertschätzung: Wahre Meisterschaft beweist man hier nicht durch einen komplexen Roman sondern durch prägnante Erzählungen. Mehr als drei Jahre lang arbeitete die 32-Jährige an ihrem zweiten Erzählband. Sie schätzt das Genre der Kurzgeschichte wegen seiner Dynamik:
"Für mich ist die Geschwindigkeit einer Erzählung ganz entscheidend. Der Begriff der Geschwindigkeit wird häufig abgewertet und mit negativen Dingen in Verbindung gebracht. Meiner Ansicht nach kann man jedoch durch ein unmittelbares und genaues Erzählen erreichen, dass ein Text eine sehr kraftvolle Dynamik erhält. Man sollte schon vom ersten Wort an wissen, worauf es hinausläuft, denn sonst fängt man an, in die Breite zu gehen, und das interessiert mich nicht. Ich mag es am liebsten, wenn einem die Erzählung einen Schlag versetzt, wenn man am Ende "Oh" sagt und das Buch erst einmal weglegt, wenn man etwas anderes tun muss und erst später weiterlesen kann."
Samanta Schweblins faszinierende Erzählungen entwickeln eine starke Sogwirkung und erzeugen in vielen Fällen einen "Oh-Effekt". So endet zum Beispiel die Geschichte "Der Mund voller Vögel" damit, dass Saras Vater, den das grausame Ritual seiner Tochter zutiefst anekelt, in einer Tierhandlung Nachschub besorgt. Doch nicht immer steht am Ende ein Paukenschlag. Oft gelingt es der argentinischen Autorin, die gewohnte Wahrnehmung ins Rutschen zu bringen, indem sie die realistische Ebene nur ganz leicht verschiebt. Wie zum Beispiel in der kürzesten Erzählung des Bandes: Da warten Eltern vor einer Schule auf ihre Kinder und unterhalten sich über deren Zartheit und hübsche Kleider. Als der Unterricht endet, stürmen jedoch keine Kinder aus der Schule – sondern Schmetterlinge. Samanta Schweblin:
"Für mich hat das Ende den intensivsten Geschmack. Es ist wie bei einem Glas Wein, da hat auch der letzte Schluck einen ganz besonderen Geschmack! Und das Schöne an einem Erzählband ist, dass er mindestens ein Dutzend dieser letzten Tropfen Wein enthält, die für mich die stärksten und die reizvollsten sind!"
Samanta Schweblin: "Die Wahrheit über die Zukunft". Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 130 Seiten, 19,80 Euro.