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In der Seele eines Täters

Viel ist von der Provokation dieses Buches die Rede: Ein jüdischer Autor versetzt sich in einen SS-Mörder. Aber es geht gerade nicht darum, eine Bestie zum Reden zu bringen. Sicher, Aue ist überzeugter Nationalsozialist. Der Clou besteht aber darin, dass dieser Schöngeist fast wider Willen an die Einsatzorte des Schreckens gelangt. Was Aue passierte, könnte jedem passieren.

Von Wolfgang Schneider |
    Keine andere Regierung in der deutschen Geschichte konnte sich je auf solche enthusiastische Massenzustimmung verlassen wie das Hitler-Regime. Heute blicken die Nachgeborenen mit größter Befremdung auf die Nazi-Epoche und die mit ihr verbundenen Menschheitsverbrechen. Wie war es nur möglich? Wollen wir unsere Vorfahren nicht allesamt für unzurechnungsfähig erklären, wollen wir sie vielmehr verstehen und ihre Geschichte begreifen, dann müssen wir uns auch auf die Gedankengänge der Überzeugungstäter sowie der zahllosen Mitläufer versuchsweise einlassen. Die Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 spielte sich für die Zeitgenossen ja mit der gleichen Plausibilität ab, mit der wir unsere Gegenwart erleben.

    Solche "Plausibilität von einst" ist heute vielleicht nur noch mittels Literatur nachzuempfinden. Historische Romane sind Zeitreisen. Wie war das zum Beispiel, als die Wehrmacht 1941 in den ukrainischen Städten einmarschierte, die die Rote Armee kurz zuvor hastig geräumt hatte? Jonathan Littell schildert die Atmosphäre in Lemberg. Eine Stimmung, halb Volksfest, halb Pogrom:

    "Auf dem Bahnhof kam der Verkehr nur im Schritttempo voran, dann brachte ein Menschenauflauf ihn vollends zum Erliegen. Ich stieg aus dem Opel, um zu sehen, was los war. Die Leute schrien sich die Lunge aus dem Hals und klatschten; einige hatten aus einem Café Stühle oder Kisten geholt und sich daraufgestellt, um besser zu sehen, andere trugen Kinder auf den Schultern. Mühsam bahnte ich mir einen Weg. Inmitten der Menge stolzierten auf einer großen freien Fläche Männer mit Kostümen, die aus irgendeinem Theaterfundus oder Museum entwendet waren. Ein Mann trug eine Uniform von Budjonnys Roter Reiterarmee, aber mit Zylinder und Pelzkragen, und fuchtelte mit einer Mauser-Pistole herum; alle waren mit Knüppeln oder Gewehren bewaffnet. Zu ihren Füßen knieten mehrere Männer und leckten den Boden ab. Ab und zu versetzte ihnen einer der Kostümierten einen Fußtritt oder einen Schlag mit dem Gewehrkolben, die meisten bluteten stark; die Menge gröhlte noch lauter. Hinter mir stimmte ein Akkordeonspieler eine flotte Melodie an, sofort fielen Dutzende Stimmen ein... Ein Zuschauer zog mich am Ärmel und schrie mir wie rasend zu: ‚Jid, Jid kaputt!’"

    Unversehens sind wir als zeitreisende Leser hineintransplantiert in die Seele eines Täters. Max Aue heißt er, ein SS-Obersturmbannführer halbfranzösischer Herkunft, nach 1945 in Frankreich untergetaucht. Dort hat er sich dann ein zweites Leben als Unternehmer aufgebaut. Als Fabrikant von Spitzen, "diese entzückenden und geschmackvollen Schöpfungen", wie er schreibt. Ja, dieser Aue war immer ein Ästhet. Die Mordaktionen, an denen er im eroberten Osten teilnahm, verstörten ihn aus geschmacklichen Gründen: spritzende Körperflüssigkeiten, unzumutbare Gerüche. Als er einmal in Auschwitz aufgefordert wurde, einen Blick in die Gaskammern bei laufendem Betrieb zu riskieren, lehnte er mit lakonischem Degout ab: "Nicht nötig." Hier zeigt der Roman eine seltene, aber um so wirkungsvollere Anwandlung von Diskretion, die sonst gar nicht Littells Sache ist.

    "Ich atmete durch den Mund – umsonst, der Geruch drang mir in die Nase, süßlich, schwer, ekelhaft. Ich schluckte krampfhaft, um mich nicht übergeben zu müssen. ‚Ist es das erste Mal’, fragte der Hauptmann leise. Ich nickte. ‚Sie werden sich daran gewöhnen’, fuhr er fort, ‚aber vielleicht nie so ganz.’ Die Leichen lagen in einem großen, gepflasterten Hof, ohne jede Ordnung hier und da zu unregelmäßigen Haufen aufgeschichtet. Ein durchdringendes unaufhörliches Summen erfüllte die Luft: Tausende von dicken blauen Fliegen kreisten um die Kadaver, die Blutlachen, die Fäkalien. Meine Stiefel blieben am Pflaster kleben. Die toten Leiber waren schon aufgedunsen. Ich betrachtete ihre gelblich grüne Haut, ihre unförmigen Gesichter. Der Gestank war abscheulich... Kleine Gruppen von Wehrmachtssoldaten mit Gasmasken versuchten, die Haufen zu entwirren und die Leichen nebeneinanderzulegen. Einer von ihnen zog an einem Arm; der löste sich und blieb ihm in der Hand hängen; der Mann warf ihn mit einer Geste des Überdrusses auf einen anderen Haufen. ‚Es sind über tausend’, sagte der Hauptmann zu mir."

    Vor allem auf die Darstellung des Massakers in der Schlucht von Babi Yar verwendet Littell eine monströse Genauigkeit, die aus den nackten Zahlen – über 33.000 Ermordete – ein Lese-Erlebnis von Furcht und Schrecken macht. Auch wenn Max Aue gerne mit dem Zynismus kokettiert; er reagiert empfindlich auf seine Erlebnisse, mit Albträumen und ständigen psychosomatischen Übelkeitsattacken. Nie mehr kann er ein Wäldchen sehen, ohne an Erschießungen und Massengräber zu denken.

    Aue ist promoviert, Verfasser einer staatsrechtlichen Dissertation. Zwischen den Einsätzen geht er kulturellen Interessen nach, wandelt etwa in Pjatigorsk auf den Spuren Lermontovs. Littell schildert ein nationalsozialistisches Intellektuellen-Milieu, das von der Geschichtswissenschaft vielleicht erforscht wurde, in der breitenwirksamen Aufarbeitung aber bisher kaum präsent ist. Gemeint sind damit Verwaltungsfachleute mit atemberaubend schnellen Karrieren. Männer nicht der Musen, sondern der Maßnahmen.

    Auch bei den grässlichsten Gewalt-Exzessen sind hinter den Kulissen die Administratoren und Bürokraten am Werk. "Auch die Ausrottung erfordert ein Budget", äußerte Littell in einem Interview. Die Schnittstelle von Krieg und Bürokratie interessiert ihn verstärkt. Hier wird die Massenvernichtung eine Frage komplexer Organisation – und zugleich zu einem Feld des Ehrgeizes und der Karrieren.

    Geschickt operiert Littell auf einer Grenzlinie. Max Aue gehört einerseits zur SS-Elite, ist uns andererseits aber nahe genug für die Lektüre-Identifikation. Er ist umgeben von SS-Leuten, die bornierte Unsympathen oder Fanatiker sind. Oft kommt es zu Streitigkeiten – und in diesem Zusammenhang schlagen wir uns beim Lesen unweigerlich auf Aues Seite. Einmal, als ihn ein anderer Offizier als Homosexuellen diskreditieren will, äußert er mit schneidendem Hohn: "Ich bin nicht so leicht zu töten wie ein wehrloser Jude" – eine skandalöse Äußerung für die umstehenden SS-Männer. Und wir sind beeindruckt, wenn der Stalingrad-Rekonvaleszent in seinem Berliner Hotel nachts eine lärmende Party von Kriegsgewinnlern auflöst:

    "Mühelos fand ich die richtige Tür und klopfte. Ein angetrunkener Mann im Jackett kam an die Tür. ‚Ja, Herr Sturmbannführer, was kann ich für sie tun?’ Ich machte eine knappe Verbeugung und begann in möglichst neutralem Ton: ‚Ich wohne im Zimmer über Ihnen. Ich komme gerade aus Stalingrad zurück, wo ich schwer verwundet wurde und wo fast alle meine Kameraden gefallen sind. Ihre Feier stört mich. Ursprünglich wollte ich herunterkommen und Sie töten, aber ich habe mit einem Freund telefoniert, und er hat mir geraten, zuerst mit Ihnen zu sprechen. Hier bin ich also... Es wäre besser für uns alle, wenn ich nicht noch einmal herunterkommen müsste.’ Der Mann war bleich geworden: ‚Nein, nein...’ Er wandte sich um: ‚Gofi, stell die Musik ab! Abstellen!’ Er sah mich an: ‚Verzeihen Sie uns...’ ‚Danke.’ Als ich einigermaßen zufrieden die Treppe hinaufging, hörte ich ihn schreien: ‚Alles raus hier! Das war’s! Verzieht euch!’ Ich hatte bei ihm einen Nerv getroffen."

    Viel ist von der Provokation dieses Buches die Rede: Ein jüdischer Autor versetzt sich in einen SS-Mörder! Aber es geht gerade nicht darum, eine Bestie zum Reden zu bringen. Sicher, Aue ist überzeugter Nationalsozialist. Der Clou besteht aber darin, dass dieser Schöngeist, der als junger Mann lieber Literatur und Philosophie als Jura studiert hätte, fast wider Willen und nur durch die Verkettung diverser Umstände an die Einsatzorte des Schreckens gelangt. Was Aue passierte, könnte jedem passieren.

    1934 hat er sich auf Rat eines väterlichen Freundes bei der SS beworben. So blieben ihm die Studiengebühren erspart. Zum Sicherheitsdienst verpflichtet er sich, um einer karriere¬gefährdenden Anschuldigung in Sachen Paragraph 175 zu entgehen.
    Später versucht er dann wiederholt, einer Befassung mit den Konzentrationslagern zu entgehen. Alles vergeblich, und so landet er schließlich genau dort, wo er nicht hinwollte: Himmler schickt ihn nach Majdanek und nach Auschwitz, um Berichte über "Verbesserungsmöglichkeiten" in den Lagern zu verfassen. Heute würde man wohl von Qualitätssicherung sprechen.

    Während um ihn gemordet und vergast wird, die Luft süßlich stinkt nach den Tausenden, die täglich durch die Schlote der Krematorien gehen, regt Aue sich mächtig auf. Zuständig für den Arbeitseinsatz der Häftlinge, muss er miterleben, wie die Sklaven, die eigentlich fürs Reich schuften sollten, ohne Nutzeffekt vernichtet werden. Gewiss ist das bloß eine betriebsinterne Empörung, aber immerhin. Geklagt wird überhaupt viel in Auschwitz – von den Tätern. Millionen Menschen zu töten ist ein Pensum, das zum Burnout-Syndrom führen kann.

    Littell ist völliger Mangel an Humor und Ironie vorgeworfen worden; zu Unrecht. Im Kaukasus stößt Aues Einsatzgruppe auf das Völkchen der sogenannten "Taten" oder Bergjuden. Die Mordmaschine gerät ins Stocken. Abschlachten oder nicht? Handelt es sich, "rassisch" gesehen, um echte Juden, oder müssen sie zu den einwandfreien kaukasischen Bergvölkern gezählt werden? Fachausschüsse zur "Erkennung des Weltanschauungsgegners im Einsatzgebiet" werden tätig und diverse Gutachten geschrieben. Schließlich hält man eine Konferenz zum Thema ab, für die Spezialisten aus dem Reich eingeflogen werden. Über hundert Seiten geht das so – absurde Debatten im terminologischen Detail, dargeboten in einer Prosa, deren Monomanie an Thomas Bernhard erinnert. Und währenddessen zeichnet sich bereits die Einkesselung von Stalingrad und die Kriegswende ab. Eine fulminante Darstellung des Nazi-Wahnwitzes.

    In eindringlichen Passagen wird beschrieben, wie sich hinter den Fronten aus improvisierten Mordaktionen die Routine des Tötens entwickelt. Für Littell ist die Judenvernichtung nur im Zusammenhang mit den militärischen Operationen zu verstehen. Damit widerspricht er zum einen jenen Theoretikern des Holocaust, die ihn in quasi-religiöser und damit enthistorisierter Weise deuten. Zum anderen aber auch den Verfechtern der "sauberen" Wehrmacht, die die Verbrechen ganz allein der SS anlasten möchten. "Glücklicherweise erwiesen sich die Beziehungen zur Wehrmacht als ausgezeichnet", schreibt Aue mit höhnender Ironie. Immer wieder kommen Wehrmachtssoldaten zu den Massakern: "Exekutionstourismus".

    Dennoch: Die Akteure der Massenvernichtung sind keine abnormen Gestalten und Sadisten aus Veranlagung – das ist eine Grundthese des Romans. Sadismus ist vielmehr, von einigen pathologischen Fällen abgesehen, eine Folgeerscheinung:

    "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der SS-Soldat nicht gewalttätig oder sadistisch wird, weil er den Häftling nicht für ein menschliches Wesen hält; ganz im Gegenteil, seine Wut wächst und wandelt sich in Sadismus, sobald er merkt, dass der Häftling, weit davon entfernt, ein Untermensch zu sein, wie man ihn gelehrt hat, im Grunde genauso ein Mensch ist wie er selbst, und diese Widersetzlichkeit ist es, verstehen Sie, die der Wachsoldat unerträglich findet, dieses stumme Beharren des anderen, deshalb prügelt ihn der Wachsoldat, weil er versucht, ihm die ihnen gemeinsame Menschlichkeit auszutreiben. Wohlgemerkt, das klappt nicht. Je mehr der Wächter prügelt, desto klarer erkennt er, dass der Häftling nicht bereit ist, sich als Nichtmensch zu sehen. Am Ende bleibt ihm keine andere Möglichkeit, als ihn zu töten, was ein Eingeständnis seiner endgültigen Niederlage ist."

    Max Aue – das deutsche Wort "Auge" scheint in dem Namen anzuklingen – ist Littells Kameraauge, die Sonde, mit der er die Weltkriegsschrecken in enzyklopädischer Breite erkundet. Zum Roman wird das imponierende historische Panorama aber erst durch die Dramaturgie eines Familienthrillers, der sich an die Orestie anlehnt und etwa ein Viertel des Buches ausmacht. Aue, der Vatersucher und Mutterhasser, der seine Schwester Una liebt, hat während eines Fronturlaubs womöglich seinen Stiefvater und seine Mutter mit der Axt gemordet. Seitdem sind die kafkaesk-comichaften Detektive Clemens und Weser, seine beiden höchstpersönlichen Erinnyen oder Eumeniden, auf seinen Spuren.

    Das in angestrengter Verruchtheit inszenierte Inzest-Motiv samt der daran angekoppelten Homosexualität dient nicht nur dazu, der Hauptfigur ein pittoreskes, am Marquis de Sade geschultes Romanleben jenseits der Historie zu verleihen. Es markiert auch Aues innere Distanz zur korrekten national¬sozialistischen Moral. Er hat ständig Entlarvungen zu befürchten; auch das ein Moment, das ihn dem heutigen Leser näherzubringen vermag. Zugleich lässt sich Aues Misogynie, seine immer wieder hervorbrechende Frauenverachtung, als mentalitäts¬geschichtliches Zubehör nationalsozialistischer Männerbündlerei begreifen, wie sie im Klischee vom "schwulen Nazi" Populärkultur geworden ist.

    Hardcore-Realismus und Artifizialität gehen in diesem Roman eine ungewöhnliche Mischung ein. Mitten in der Agonie von Stalingrad – Aue wurde aufgrund mangelnder Entschlossenheit in der Judenvernichtung dorthin quasi strafversetzt – werden lange Gespräche geführt wie in einem russischen Roman. Da gibt es einen Dialog zwischen Aue und dem Politkommissar Ilja Semjonowitsch Prawdin. Zwei Todfeinde, die unter anderen Umständen gute Freunde hätten sein können, betreiben Totalitarismustheorie und einen sowjetisch-nationalsozialistischen Systemvergleich. Ein großer Dialog, der an Dostojewski oder Wassili Grossman erinnert; und ganz gewiss nicht "authentisch".

    Die Grenzen zwischen Doku-Fiction und Kolportage, zwischen phantasmagorischem Realismus und effektheischendem Splatter sind fließend. Littell versteht es, den Leser zu verunsichern: Befindet er sich gerade noch auf solidem realistischem Boden oder schon in tagtraumhaften Welten? Die Frage stellt sich etwa, wenn Aue mit einem hundertjährigen kaukasischen Juden ins Hochgebirge steigt, um dem Alten dort ein würdiges Grab zu schaufeln. Oder wenn sein Freund und Alter ego, der SS-Dandy Thomas, sich in Stalingrad nach einer Granatexplosion mit einiger Nonchalance selbst verarztet:

    "Ich sah, dass Thomas im Schnee liegen blieb, sein langer Mantel war mit Blut und Erde bespritzt; dampfend traten seine Gedärme wie klebrige schlüpfrige Schlangen aus seinem Bauch. Während ich ihn fassungslos ansah, richtete er sich mit ruckartigen, ungeschickten Bewegungen auf, wie ein Kleinkind, das gerade laufen lernt, fasste mit der behandschuhten Hand in seinen Bauch und zog scharfkantige Granatsplitter daraus hervor, die er in den Schnee warf. Diese Splitter waren noch fast weißglühend, so dass er sich trotz der Handschuhe die Finger verbrannte, an denen er nach jedem Stück bekümmert sog... Er schob die Darmschlingen in die Leibeshöhle zurück und zog die Fleischfalten seines Bauches darüber. "Leihst du mir deinen Schal?", fragte er mich; immer noch ganz Dandy, trug er nur einen Rollkragenpullover. Ich war aschfahl geworden und reichte ihm wortlos meinen Schal. Er steckte ihn unter seine Uniformfetzen, wickelt ihn sorgsam um den Bauch und verknotete ihn vorne fest... ‚Scheiße’, murmelte er, ‚tut das weh’. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und federte ein paarmal auf und ab, wagte schließlich zu hüpfen. ‚Gut, scheint zu halten.’"

    Wie sein Vorbild Stendhal ist Littell ein Schnellschreiber. Es kommt ihm nicht auf geschliffene oder originelle Formulierungen an, sondern auf eine atemlos vorangetriebene Sprache, auf Tempo-Stil. Bisweilen klingt der angestrebte "metallische Klang" seiner Prosa allerdings auch ziemlich blechern.

    Vor grellen Effekten – etwa einem Biss in Hitlers Knollennase in der leider unvermeidlichen Führerbunkerszene – schreckt Littell nicht zurück. Von gutem Geschmack zeugt das nicht, auch wenn Max Aue so aus purer Idiosynkrasie beinahe noch zum Widerständler wird. Es gibt – vor allem im letzten Drittel des Buches – dürre Strecken, wo der Autor uninspiriert an den Dokumenten und der historischen Chronologie entlangschreibt. Gelegentlich stößt man auf komplett verunglückte Formulierungen: "In dieser Nacht fiel ich in den Schlaf wie in ein dunkles, dickflüssiges und unruhiges, aber traumloses Wasser." Aber es gibt auch Sätze von komprimierter aphoristischer Kraft:

    "Nagel trat zu mir und erklärte nachdrücklich, indem er auf die Juden wies: ‚Das ist notwendig, verstehen Sie? Bei alldem darf das menschliche Leid überhaupt keine Rolle spielen.’ – ‚Sicher, aber trotzdem zählt es irgendwie.’ Genau das war es, was mir unbegreiflich blieb: die Kluft, die absolute Unverhältnismäßigkeit zwischen der Leichtigkeit, mit der es sich tötet, und der unendlichen Schwierigkeit, mit der gestorben wird. Für uns war es ein schmutziges Tagwerk unter vielen, für sie das Ende von allem."

    Perfekte Meisterwerke sind selten, auch dieser Roman ist keins. Aber er hat große, aufwühlende Szenen, in denen Geschichte mit ungeheurer Intensität vergegenwärtigt wird: Wenn etwa bei einer der ersten Erschießungsaktionen in einer Waldlichtung kein Platz für weitere Gräber ist – überall, wo die zum Tod verurteilten Juden schaufeln, stoßen sie schon auf Leichen; Hinterlassenschaften des NKWD. Oder wenn bei der Schilderung der Todesmärsche nach Auflösung des Lagers Auschwitz das Elend der ausgemergelten, durch den Schnee wankenden Gestalten kontrastiert wird mit einer beinahe satirischen Darstellung der Exkulpations¬strategien. Ringsum Horror – aber jeder, den Aue auf die desorganisierte Situation anspricht, reicht die Verantwortung weiter an einen anderen Offizier, Gruppenführer, Amtsrat oder Bahnvorsteher.

    Obsessiv schildert Littell, der Belletrist des Bestialischen, den Krieg als körperliches Geschehen. Solche Beschreibungen haben ihre Berechtigung, weil es nun einmal der Körper ist, der im Krieg leidet: unter völligem Mangel an Hygiene, verschlissener Kleidung, Hunger und Krankheit, extremen Wetterverhältnissen, Hitze oder schneidender Kälte. Und natürlich vor allem unter den vielfältigen Waffen, die nur einen Zweck haben: menschliche Körper möglichst nachhaltig zu zerfetzen. Dass die ersten deutschen Rezensenten des Romans über die Drastik, mit welcher Littell die Zerstörung von Körpern schildert, den Kopf geschüttelt und nach mehr Diskretion gerufen haben, erscheint deshalb merkwürdig.

    Littell habe nichts Neues zu sagen, lautete ein anderer Einwand. Alles doch längst bekannt! Aber seit wann müssen Romane neue Thesen entwickeln? Und nicht jeder ist vertraut mit den Standardwerken der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Holocaust-Forschung. Von daher leistet dieses Erzählwerk die Vermittlung einer großen Portion historischen Wissens – seit je eine willkommene Dienstleistung des historischen Romans. Wer als Menschenbruder wissen möchte, wie es gewesen ist und wie es dazu kommen konnte, sollte dieses Buch lesen. Langweilig ist es übrigens nicht, was bei 1400 Seiten etwas heißen will.


    Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
    Berlin Verlag
    1383 Seiten, 36 Euro