Berlin, im vergangenen November. In einem Festsaal erschallt die Klang-Installation, die christliche Glocken und ein moslemischer Gebetsruf vereint – eine solche Verschmelzung der Religionen gelingt bisher nur mittels Tonmischpult. In dem Saal halten sich über 1000 Moslems auf, die meisten sind Deutsch-Türken, und offenkundig findet die Klanginstallation bei ihnen freundlichen Beifall.
300 junge Leute mit Migrationshintergrund stehen auf der Bühne, sie sind festlich gekleidet und werfen ihre Doktorandenhüte in die Höhe, während im Saal der Beifall rauscht. Man feiert die schulischen und auch akademischen Abschlüsse, die die jungen Leute mit besten Zensuren erreicht haben. Diese Abiturienten und Akademiker stehen für eine steigende Zahl junger Deutsch-Türken der dritten Generation, die allmählich ins Licht der Medien rücken. Ihre Gemeinsamkeit: die Suche nach ihrer Identität und – daraus resultierend – der Drang nach Bildung und Karriere. In Berlin sind sie leicht zu finden; hier liegt die drittgrößte türkische Gemeinde Europas außerhalb der Türkei. Auch die 300 jungen Moslems, deren schulische Leistungen auf der Bühne gefeiert werden, gehören zu ihnen. Der Titel der Veranstaltung: "Vorbilder schaffen". Träger der Veranstaltung ist der Verein Mahdi – das Wort steht für "Muslime aller Herkünfte in Deutschland". Berliner Moscheevereine sind die Initiatoren. Man will den Integrationsprozess junger Deutschtürken unterstützen, indem man Nachhilfe anbietet, gemeinsam Sport treibt, bei Behördengängen hilft und junge Leute in Gesprächsgruppen motiviert, einen akademischen Abschluss anzustreben. Mitorganisator ist der 25-jährige Student Mehdi Chahrour, der auf seinem Laptop den Klang christlichen Geläuts mit dem islamischen Gebetsruf abgemischt hat.
Mehdi Chahrour sitzt in einem Cafe in Berlin-Kreuzberg und bearbeitet auf seinem tragbaren Computer die Internetseite seines Vereins. Er ist sportlich gekleidet, hat sensible Augen und spricht leise. Wen er mit seiner Organisation ansprechen will? Grundsätzlich zwei Gruppen, erklärt er. Da wären einmal die Integrationsverweigerer.
"Den jungen Emigranten, der durch Viva und MTV glaubt, der böse Gangster-Rapper ist ein Vorbild. Er muss genau so werden. Da wollen wir sagen: Es gibt auch einen anderen Weg, der auch 'cool' ist. Schau mal hier auf der Bühne; da stehen sie. Das ist eine Botschaft – die zweite Botschaft: Mehrheitsgesellschaft, pass auf! Herr Sarrazin passen Sie auf! Wir können uns bilden, unsere Gene sind in Ordnung. Hier ist der Beweis: allein in den letzten Jahren über 600 Menschen ausgezeichnet. Das sind die, die wir mobilisiert haben - als kleiner Verein. Und die Zahl ist natürlich noch viel höher."
"Mahdi" ist ein arabisches Wort. Der Mahdi ist nach traditionell islamischer Glaubensauffassung der von Gott gesandte Messias, der in der Endzeit das Unrecht auf der Welt beseitigen wird. Die Organisation Mahdi hat sich das Ziel gesetzt, eine Brücke für den interkulturellen und interreligiösen Dialog zu schaffen. Dazu bietet man Veranstaltungen und Dialoge mit anderen Kulturen an. Umso mehr erstaunt es, ausgerechnet auf der Internetseite dieses Vereins die Botschaft zu lesen: "Mein Vorsatz für 2012: Integrationsverweigerung". Wie geht aber dieser Vorsatz der Integrationsverweigerung zusammen bei einem jungen Mann, dessen Augen vor Ehrgeiz leuchten? Die Parole weckt auf den ersten Blick eher beunruhigende Assoziationen, meint Mehdi und lächelt verschmitzt:
"Hinterhöfe und Burka und was man sich so alles vorstellt unter dem Begriff 'Integrationsverweigerung', nur weil er so von den Medien geprägt ist. Mit Integrationsverweisung meine ich: Ich brauche mich nicht zu integrieren, ich bin schon da. Ich will mitspielen auf Augenhöhe – und das ist gerade für mich mein Anliegen. Deswegen gibt es Mahdi, Muslime aller Herkünfte deutscher Identität. Ländername ist für viele ein Widerspruch, ungewollt zu hören: Muslim und deutsche Identität, das geht gar nicht. Dass es geht, dafür brauchen wir keine Studien und so, wir sind der lebende Beweis dafür. Wir glauben, dass wir zwar in der Theorie dieselben Rechte und Pflichten haben, aber noch nicht auf Augenhöhe mitdiskutieren dürfen."
Mehdi Chahrour ist einer von jenen jungen Deutschtürken, die ein und dasselbe Lebensgefühl verbindet: die Suche nach der eigenen Identität und das Gefühl, mit der deutschen Gesellschaft noch nicht auf einer Augenhöhe zu stehen. Die Suche nach dem Platz in der Gemeinschaft resultiert häufig aus dem Gefühl, nirgendwo richtig angekommen zu sein. Wo ist ihre Heimat? In Deutschland? In der Türkei? Man wird sie besser verstehen, wenn man sich die Nöte der ersten Generation vor Augen führt – und eben diese Nöte sind Thema im Ballhaus-Theater in der Naunynstraße, direkt neben den schäbigen Mietskasernen in Kreuzberg, wo vor 50 Jahren die Geschichte der Türken in Berlin begonnen hat. Hier, in diesen Billigquartieren, lebten die ersten Gastarbeiter. Der Titel der Produktion, die sich mit dem Nebeneinander von Deutschen und Türken auseinandersetzt: "Szenen einer Scheinehe". Eine Szene zeigt einen alten türkischen Mann, der auf der Bühne 39 Jägermeister-Flaschen aufstellt.
"36, 37, 38, 39. Für jedes Weihnachten in Berlin eine Jägermeister-Flasche. Insgesamt 39. 39 verdammte Jahre. Ich war Gastarbeiter in Deutschland. Arbeiter bin ich nicht mehr, Gast bin ich immer noch."
Jede Flasche steht für ein verlorenes Jahr in Deutschland, für ungewohnte Arbeit, Heimweh und schließlich die Gewissheit, dass es keine Rückkehr gibt. Der Regisseur dieses Stückes, Hakan Savas Mican, ein Türke der zweiten Generation, hat genau diesen Effekt bei seinen Eltern erlebt.
"Wobei sie nicht mal wussten, dass sie die Heimat verloren haben. Sie haben immer von einer fiktiven Heimat geträumt - die ganze Zeit. Und 40 Jahre später haben sie gesagt, na gut, diese Heimat ist weg. Das ist genau wie im Stück eben. Dann merkt unser alter Mann, dass sein Olivenhain in der Türkei schon längst gefällt ist, und trotzdem hat er davon geträumt - die ganze Zeit."
Er selbst spürte ebenfalls diese Zerrissenheit, bis er eine merkwürdige Beobachtung machte.
"Ich lebe seit 13 Jahren in Deutschland, dieses Ankommen dauerte eine Weile. Seit ein paar Jahren sage ich, dass ich Berliner bin, dass ich mich hier in dieser Stadt wohlfühle und hier weiter leben will. Seitdem geht es mir viel besser."
Und das verbindet den Regisseur mit Mehdi Chahrour von der Organisation Mahdi – und zahlreichen anderen Deutschtürken der dritten Generation:
"Bei dem Begriff Heimat, der vielleicht in Deutschland wiedererkannt wurde, hat man sich langsam davon vielleicht distanziert, denn zum einen ist Deutschland Lebensmittelpunkt und Heimat, und ich erlaube niemandem, mir diese Heimat zu nehmen."
Weil Heimat viel mehr sei als ein Zustand, den ein Türke der dritten Generation wahrnimmt, findet Mehdi Chahrour die Frage nach dem Lebensgefühl eines Migranten etwas befremdlich.
"Ich glaube, Integration funktioniert erst dann, wenn wir das Wort Integration nicht mehr verwenden, ja? In Partizipation umdrehen und wenn der Migrantenstämmige oder der Türkischstämmige, Arabischstämmige, dass derjenige dann über Sport, Kultur, Wirtschaft, dass er in dieser Gesellschaft ankommt, und auch über diese Themen sprechen kann, darf und soll - und vorbereitet wird."
Und nun berichtet Mehdi von einer Begegnung mit einem Berliner Kommunalpolitiker, der ihn nach dem Stand seiner Integration sowie nach seinem Lebensgefühl in Deutschland befragt. Mehdi aber war wichtiger, dem Mann seine Vorstellungen über die Stadtteilarbeit in Sachen Bildung zu vermitteln. Diese Argumente aber wollte der gut meinende Politiker gar nicht hören. Und genau das irritiert Mehdi: Fragen nach dem Stand seiner Integration findet er grotesk.
"Es ist Ausdruck einer Zerrissenheit, die entsteht. Es macht mein Tagesgefühl: Wie geht es Dir? Was machst Du? Bist Du heute integriert – ja oder nein? Es kann sein, ich hatte einen Termin bei der Ausländerbehörde, wurde schlecht behandelt und fühle mich nicht mehr integriert, hatte aber in der Uni einen Top-Termin mit Kommilitonen, wie sagt man - bist Du nicht doch integriert? Also, wie so ein Pendel oder wie so eine Frequenz geht man hoch und runter. Und das erleben wir in zehn Jahren, hoffe ich, dass es einen Verein wie den unsrigen nicht mehr geben muss, denn dann brauchen wir dieses Thema nicht."
Ortswechsel – In der Chausseestraße sind die Räume von ""Juma"" angesiedelt. ""Juma"" steht für "Jung - Muslimisch - Aktiv". Das ist ebenfalls ein Verein, der sich für die Bildung und Karriere junger Deutschtürken starkmacht. Die Träger der ""Juma"" sind die regionalen Arbeitsstellen für Bildung und Integration. Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft des Senats für Inneres und Sport. Angesprochen werden junge Leute zwischen 15 und 25 Jahren, die in Moschee-Gemeinden organisiert sind.
In Arbeitsgruppen diskutieren sie mit Politikern, Medienvertretern und Wissenschaftlern. So stand unlängst ein Besuch des Bundestages auf dem Programm. Auf der Internetseite des Vereins finden sich Fotos, die junge Leute in T-Shirts zeigen. Diese Shirts sind mit der Aufschrift Nein-Eleven versehen, wobei das "Nein" in deutscher Sprache ausgeschrieben steht. Eine klare Abgrenzung gegen jede Form von Terrorismus. Direkt nebenan, in einem der zahlreichen Cafés, treffen sich zwei junge Deutschtürken, Hilal Aybike und Ufuk Erdukan. Beide sind Anfang 20, Ufuk hat große, dunkle Augen, er tritt betont höflich auf und spricht auffallend kultiviert. Hilal Aybike ist eher unkompliziert und temperamentvoll, sie wirkt wie eine junge Frau, die überall auf der Welt zuhause sein kann. Und dennoch teilen beide Studenten dieses Gefühl der intensiven Suche nach einer Zugehörigkeit zu einer Mentalität, einer Gruppe oder einem Volk.
"Diese Problematik wird dann immer ganz stark, wenn ich dann auch im Ausland bin, aber dann im Land meiner Eltern, sozusagen, in der Türkei. Da heißt es dann immer sofort: 'Ah, der Deutsche ist da# oder #die Deutschen sind da#, und wir sind dann plötzlich so mit der Situation konfrontiert: Wir waren doch dort Türken und dachten, jetzt wieder in der Heimat zu sein. Und dann werden wir als Ausländer, als eben Deutsche bezeichnet. Und leider Gottes haben wir dann auch hier die Situation, dass, wenn wir uns irgendwo vorstellen, präsentieren, man dann sofort gefragt: #Woher kommst du ursprünglich?# Dann sagt man, ja, aus der Türkei. #Ah, Du bist also dann Türke.# Man will ja schon eine Zugehörigkeit haben, aber das ist schwer, wenn man immer nur darauf begrenzt wird, woher man ursprünglich kommt."
Hilal Aybike muss lächeln, als sie diese Sätze hört. Sie ist schon einen Schritt weiter.
"Wenn ich in der Türkei bin, dann gibt es Sachen, die vermisse ich zum Beispiel im öffentlichen Verkehr deutsche Pünktlichkeit, eine Eigenschaft, die ich vollkommen übernommen habe, ist deutsche Pünktlichkeit. Aber wenn ich dann hier bin, da gibt es Sachen, da bin ich doch eher etwas türkisch, und ich finde, es ist auch nichts Schlimmes, wenn ich beide Kulturen kombiniere, denn das macht mich flexibel."
Aus dieser Zerrissenheit, dieser Vielschichtigkeit der Möglichkeiten und auch Unmöglichkeiten heraus erwächst ein Ehrgeiz, den Organisationen wie die "JUMA" auffängt. Die jungen Leute erleben eine neue Variante von Horizonterweiterung, und erleben an sich und anderen Veränderungen ihres Weltbildes. Ufuk hat es am Beispiel seines Bruders erlebt.
"...dass er, seitdem er an diesem Projekt teilnimmt, mit einer ganz anderen Mentalität sozusagen – es ist die Sichtweise, die er sich angeeignet hat; es ist so die Art und Weise, wie er Dinge betrachtet, dass er nicht nur eben diesen Tunnelblick besitzt für das Eine, was er bisher immer vermittelt bekommen hat, sondern er lernt dadurch eben viele Menschen kennen, er lernt Professoren kennen, er lernt andere Menschen kennen, die das eben teilen."
Ufuk beschreibt das Lebensgefühl eines ehrgeizigen Deutschtürken der dritten Generation, ein Bild, das sich an Bildung und Karriere orientiert. Es hebt sich deutlich ab von jenen, die ihre Integrationsverweigerung demonstrativ zur Schau stellen, etwa in der Betonung der Migrantensprache, einem aggressiveren Auftreten in der Öffentlichkeit oder in der Kleidung. Diese beiden Gruppen junger Deutschtürken prallen gelegentlich aufeinander. Wie, erfährt man im Gespräch mit Redakteurinnen der "Deutsch-Türkischen Nachrichten" in der Lietzenburger Straße, einem Wohnhaus aus der Gründerzeit. In den hohen Räumen mit Stuck an der Decke hat die Redaktion Internet-Zeitung "Deutsch-Türkische Nachrichten" Quartier bezogen. Die Redaktion besteht vornehmlich aus jungen, bildungsorientierten Deutsch-Türken und wird auch von solchen gelesen. Zweierlei wird angeboten: selbst recherchierte Beiträge und Interviews ebenso wie eine Auswahl von Artikeln mit Türkei-Bezug, die in den deutschen Zeitungen und Zeitschriften erscheinen und hier wiedergegeben werden. Hier arbeiten die Journalistinnen Merve Durmus, 24, und Ceyda Nurtsch, 32 Jahre alt. Beide haben einen offenen Blick, treten selbstbewusst auf und zugleich bescheiden. Merve trägt ein Kopftuch, Ceyda trägt ihr Haar offen. Sie erzählt, was ihr Vater in Istanbul erlebt hat. Zehn Jahre war er Lehrer an der Deutschen Schule in Istanbul, einer Schule, die von leistungsorientierten türkischen Jugendlichen besucht wird.
Genau an dieser Schule gab es unlängst einen Zwischenfall, den Ceyda Nurtsch für bezeichnend hält. Es war, als eine Klasse mit jungen, eher bildungsfernen Türken aus Deutschland dieser Schule in Istanbul einen Besuch abgestattet hat. Die Geschichte steht für den Bruch zwischen zwei Gruppen einer Generation.
"Die türkischstämmigen Schüler hatten also dementsprechend ihre Türkei-T-Shirts an und vielleicht Ketten mit dem Halbmond drauf und dann diese prägnanten Frisuren, gefärbte Haare und fielen eben in dieser türkischen, elitären Schule extrem auch als Alemandes auf, also als Türken aus Deutschland. Die elitären Schüler der deutsch-türkischen Schule wollten diesen 'Prolos' deutlich machen, dass sie nicht zu ihnen gehören, und als diese Klasse aus Deutschland einen Klassenraum betrat, ist die gesamte Klasse aufgestanden und hat die türkische Nationalhymne mit voller Inbrunst gesungen. Das hat diese türkisch-stämmigen Schüler vollkommen fertiggemacht und ein Junge ist weinend rausgerannt."
Was sagt diese Geschichte für die Journalistin Merve Durmus aus?
"Das sagt auf jeden Fall aus, dass man gerade als Jugendlicher, wenn man hier in Deutschland aufwächst und vielleicht türkische Eltern hat, dass man da schon auf einer Suche ist und sich versucht, einer Seite zugehörig fühlen zu müssen. Ich glaube, das liegt aber auch daran, dass einem das so vorgeschrieben wird in einer Art und Weise, dass man ständig gefragt wird, was bist du denn, als was fühlst du dich denn? Woher kommst du? Und da fühlt man sich natürlich dann genötigt, dass man sich für eine Seite entscheidet, bis man dann sieht, dass man das eigentlich gar nicht muss."
Hat sie dies auch am eigenen Leib erfahren? Wie ging sie als Jugendliche mit dem Problem um?
"Ja, ich habe das genau wahrscheinlich wie alle anderen auch durchgemacht. Ich hatte diese Phase mit 15, 16, 17, dass ich gesagt habe, ich bin Türkin. Und ich weiß noch, mein Zahnarzt hatte mich das gefragt, und ich habe ganz stolz gesagt: Natürlich bin ich Türkin. Und er hat mich dann gefragt: Wieso denn, wie kommen sie denn darauf? Und ich meinte: Ja, weil mich Andere so sehen. Und wenn mich heute jemand fragt, mit 24, ob ich Deutsche bin, dann sag' ich 'Ja', und wenn ich gefragt werde, ob ich Türkin bin, dann sage ich auch 'Ja'."
Ceyda Nurtsch hat einen deutschen Vater und eine türkische Mutter – was sie als Kind für "ganz normal" hielt, bis man die Türkei verließ und nach Deutschland kam:
"Erst als ich nach Deutschland zum Studium gekommen bin, wurde ich mit diesen Fragen konfrontiert, und fand die auch sehr kleinkariert. Also, gerade wenn man aus so einer Metropole wie Istanbul kommt, wo alle sich als Weltenbürger fühlen - ich will nicht sagen alle, aber die Menschen, mit denen man eben so in diesem internationalen Umfeld zu tun hat - und dann kommt man, und diese Art zu denken, das man sozusagen eine Schublade auswählen muss, fand ich auch provinziell, ehrlich gesagt."
Merve Durmus sieht ihre Kollegin etwas fragend an: Nein, sie hat nichts dagegen, nach ihrer Herkunft gefragt zu werden. Allerdings fragt sie sich, ob solche Fragen noch zeitgemäß sind.
"Ich denke, dass es auch ganz normal ist, dass man versucht, sein Gegenüber zu benennen, dass man versucht zu definieren, der ist das und das. Aber eigentlich müssten wir jetzt im Zuge der Globalisierung erkennen, dass das überhaupt nicht mehr möglich ist. Man kann sein Gegenüber nicht mehr so klar benennen, vor allem, wenn das Menschen sind, die hier aufgewachsen sind, aber andere Wurzeln haben oder ganz verschiedene Wurzel haben. Es muss ja nicht immer sein, dass beide Eltern türkisch sind."
Und so klingt es nur logisch, dass viele Deutsch-Türken der dritten Generation ihre Identität gefunden haben.
"Ich habe auch das Gefühl, dass viele Migranten – sag ich mal –, der dritten Generation jetzt versuchen, aus dieser Sackgasse rauszugehen. Die wird 'Postmigrantische Generation' mittlerweile genannt. Die sagen: Wir sind Postmigranten. Wir lassen uns nicht mehr diktieren, dass wir uns überlegen müssen, wer wir sind – also, wir lassen uns nicht vorschreiben, dass wir uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen haben. Sollen die Frage doch die Leute beantworten, die sie selber stellen. Wir machen jetzt unser Ding. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft – akzeptiert oder auch nicht, ist egal -, wir sind einfach so und wir leisten unseren Beitrag."
In der Chausseestraße, dem Sitz des Bildungsvereins "Juma", haben junge Deutschtürken ebenfalls zu einem neuen Selbstwertgefühl gefunden. Der Student Ufuk Erdukan setzt auf Erfolg und Karriere:
"Wir wollen ganz klar etwas erreicht haben, wo dann irgendwann vielleicht die nächste Generation hinaufschauen kann und sagen kann: Wow, dieser Bruder hat es 'gepackt' und er ist vielleicht teilweise unter den gleichen Umständen aufgewachsen, groß geworden wie ich. Und wenn er das schafft, kann ich es auch schaffen, das heißt, so eine Art Vorbildfunktion will ich dann einnehmen anhand dessen, was ich dann im Berufsleben ausübe."
Hilal Aybike setzt noch eines drauf – und bringt eine ganz alltägliche Beobachtung ins Spiel:
"Wir haben auch Projekte gemacht mit Greenpeace, wo wir für Umweltschutz waren. Es war so schön zu sehen, wie wir alle durch den Park gelaufen sind, Müll aufgesammelt haben und die
Leute informiert haben. Da war ein ganzer Haufen von jungen Frauen mit Kopftuch. Dieses Bild – es ist neu – aber ich wünsche mir, dass dieses Bild irgendwann Normalität ist. Dass man jetzt denkt – okay, seltsam und dann: Wow, das ist schön, und irgendwann denkt man: Das ist Normalität, das ist Berlin – das ist Deutschland!"
300 junge Leute mit Migrationshintergrund stehen auf der Bühne, sie sind festlich gekleidet und werfen ihre Doktorandenhüte in die Höhe, während im Saal der Beifall rauscht. Man feiert die schulischen und auch akademischen Abschlüsse, die die jungen Leute mit besten Zensuren erreicht haben. Diese Abiturienten und Akademiker stehen für eine steigende Zahl junger Deutsch-Türken der dritten Generation, die allmählich ins Licht der Medien rücken. Ihre Gemeinsamkeit: die Suche nach ihrer Identität und – daraus resultierend – der Drang nach Bildung und Karriere. In Berlin sind sie leicht zu finden; hier liegt die drittgrößte türkische Gemeinde Europas außerhalb der Türkei. Auch die 300 jungen Moslems, deren schulische Leistungen auf der Bühne gefeiert werden, gehören zu ihnen. Der Titel der Veranstaltung: "Vorbilder schaffen". Träger der Veranstaltung ist der Verein Mahdi – das Wort steht für "Muslime aller Herkünfte in Deutschland". Berliner Moscheevereine sind die Initiatoren. Man will den Integrationsprozess junger Deutschtürken unterstützen, indem man Nachhilfe anbietet, gemeinsam Sport treibt, bei Behördengängen hilft und junge Leute in Gesprächsgruppen motiviert, einen akademischen Abschluss anzustreben. Mitorganisator ist der 25-jährige Student Mehdi Chahrour, der auf seinem Laptop den Klang christlichen Geläuts mit dem islamischen Gebetsruf abgemischt hat.
Mehdi Chahrour sitzt in einem Cafe in Berlin-Kreuzberg und bearbeitet auf seinem tragbaren Computer die Internetseite seines Vereins. Er ist sportlich gekleidet, hat sensible Augen und spricht leise. Wen er mit seiner Organisation ansprechen will? Grundsätzlich zwei Gruppen, erklärt er. Da wären einmal die Integrationsverweigerer.
"Den jungen Emigranten, der durch Viva und MTV glaubt, der böse Gangster-Rapper ist ein Vorbild. Er muss genau so werden. Da wollen wir sagen: Es gibt auch einen anderen Weg, der auch 'cool' ist. Schau mal hier auf der Bühne; da stehen sie. Das ist eine Botschaft – die zweite Botschaft: Mehrheitsgesellschaft, pass auf! Herr Sarrazin passen Sie auf! Wir können uns bilden, unsere Gene sind in Ordnung. Hier ist der Beweis: allein in den letzten Jahren über 600 Menschen ausgezeichnet. Das sind die, die wir mobilisiert haben - als kleiner Verein. Und die Zahl ist natürlich noch viel höher."
"Mahdi" ist ein arabisches Wort. Der Mahdi ist nach traditionell islamischer Glaubensauffassung der von Gott gesandte Messias, der in der Endzeit das Unrecht auf der Welt beseitigen wird. Die Organisation Mahdi hat sich das Ziel gesetzt, eine Brücke für den interkulturellen und interreligiösen Dialog zu schaffen. Dazu bietet man Veranstaltungen und Dialoge mit anderen Kulturen an. Umso mehr erstaunt es, ausgerechnet auf der Internetseite dieses Vereins die Botschaft zu lesen: "Mein Vorsatz für 2012: Integrationsverweigerung". Wie geht aber dieser Vorsatz der Integrationsverweigerung zusammen bei einem jungen Mann, dessen Augen vor Ehrgeiz leuchten? Die Parole weckt auf den ersten Blick eher beunruhigende Assoziationen, meint Mehdi und lächelt verschmitzt:
"Hinterhöfe und Burka und was man sich so alles vorstellt unter dem Begriff 'Integrationsverweigerung', nur weil er so von den Medien geprägt ist. Mit Integrationsverweisung meine ich: Ich brauche mich nicht zu integrieren, ich bin schon da. Ich will mitspielen auf Augenhöhe – und das ist gerade für mich mein Anliegen. Deswegen gibt es Mahdi, Muslime aller Herkünfte deutscher Identität. Ländername ist für viele ein Widerspruch, ungewollt zu hören: Muslim und deutsche Identität, das geht gar nicht. Dass es geht, dafür brauchen wir keine Studien und so, wir sind der lebende Beweis dafür. Wir glauben, dass wir zwar in der Theorie dieselben Rechte und Pflichten haben, aber noch nicht auf Augenhöhe mitdiskutieren dürfen."
Mehdi Chahrour ist einer von jenen jungen Deutschtürken, die ein und dasselbe Lebensgefühl verbindet: die Suche nach der eigenen Identität und das Gefühl, mit der deutschen Gesellschaft noch nicht auf einer Augenhöhe zu stehen. Die Suche nach dem Platz in der Gemeinschaft resultiert häufig aus dem Gefühl, nirgendwo richtig angekommen zu sein. Wo ist ihre Heimat? In Deutschland? In der Türkei? Man wird sie besser verstehen, wenn man sich die Nöte der ersten Generation vor Augen führt – und eben diese Nöte sind Thema im Ballhaus-Theater in der Naunynstraße, direkt neben den schäbigen Mietskasernen in Kreuzberg, wo vor 50 Jahren die Geschichte der Türken in Berlin begonnen hat. Hier, in diesen Billigquartieren, lebten die ersten Gastarbeiter. Der Titel der Produktion, die sich mit dem Nebeneinander von Deutschen und Türken auseinandersetzt: "Szenen einer Scheinehe". Eine Szene zeigt einen alten türkischen Mann, der auf der Bühne 39 Jägermeister-Flaschen aufstellt.
"36, 37, 38, 39. Für jedes Weihnachten in Berlin eine Jägermeister-Flasche. Insgesamt 39. 39 verdammte Jahre. Ich war Gastarbeiter in Deutschland. Arbeiter bin ich nicht mehr, Gast bin ich immer noch."
Jede Flasche steht für ein verlorenes Jahr in Deutschland, für ungewohnte Arbeit, Heimweh und schließlich die Gewissheit, dass es keine Rückkehr gibt. Der Regisseur dieses Stückes, Hakan Savas Mican, ein Türke der zweiten Generation, hat genau diesen Effekt bei seinen Eltern erlebt.
"Wobei sie nicht mal wussten, dass sie die Heimat verloren haben. Sie haben immer von einer fiktiven Heimat geträumt - die ganze Zeit. Und 40 Jahre später haben sie gesagt, na gut, diese Heimat ist weg. Das ist genau wie im Stück eben. Dann merkt unser alter Mann, dass sein Olivenhain in der Türkei schon längst gefällt ist, und trotzdem hat er davon geträumt - die ganze Zeit."
Er selbst spürte ebenfalls diese Zerrissenheit, bis er eine merkwürdige Beobachtung machte.
"Ich lebe seit 13 Jahren in Deutschland, dieses Ankommen dauerte eine Weile. Seit ein paar Jahren sage ich, dass ich Berliner bin, dass ich mich hier in dieser Stadt wohlfühle und hier weiter leben will. Seitdem geht es mir viel besser."
Und das verbindet den Regisseur mit Mehdi Chahrour von der Organisation Mahdi – und zahlreichen anderen Deutschtürken der dritten Generation:
"Bei dem Begriff Heimat, der vielleicht in Deutschland wiedererkannt wurde, hat man sich langsam davon vielleicht distanziert, denn zum einen ist Deutschland Lebensmittelpunkt und Heimat, und ich erlaube niemandem, mir diese Heimat zu nehmen."
Weil Heimat viel mehr sei als ein Zustand, den ein Türke der dritten Generation wahrnimmt, findet Mehdi Chahrour die Frage nach dem Lebensgefühl eines Migranten etwas befremdlich.
"Ich glaube, Integration funktioniert erst dann, wenn wir das Wort Integration nicht mehr verwenden, ja? In Partizipation umdrehen und wenn der Migrantenstämmige oder der Türkischstämmige, Arabischstämmige, dass derjenige dann über Sport, Kultur, Wirtschaft, dass er in dieser Gesellschaft ankommt, und auch über diese Themen sprechen kann, darf und soll - und vorbereitet wird."
Und nun berichtet Mehdi von einer Begegnung mit einem Berliner Kommunalpolitiker, der ihn nach dem Stand seiner Integration sowie nach seinem Lebensgefühl in Deutschland befragt. Mehdi aber war wichtiger, dem Mann seine Vorstellungen über die Stadtteilarbeit in Sachen Bildung zu vermitteln. Diese Argumente aber wollte der gut meinende Politiker gar nicht hören. Und genau das irritiert Mehdi: Fragen nach dem Stand seiner Integration findet er grotesk.
"Es ist Ausdruck einer Zerrissenheit, die entsteht. Es macht mein Tagesgefühl: Wie geht es Dir? Was machst Du? Bist Du heute integriert – ja oder nein? Es kann sein, ich hatte einen Termin bei der Ausländerbehörde, wurde schlecht behandelt und fühle mich nicht mehr integriert, hatte aber in der Uni einen Top-Termin mit Kommilitonen, wie sagt man - bist Du nicht doch integriert? Also, wie so ein Pendel oder wie so eine Frequenz geht man hoch und runter. Und das erleben wir in zehn Jahren, hoffe ich, dass es einen Verein wie den unsrigen nicht mehr geben muss, denn dann brauchen wir dieses Thema nicht."
Ortswechsel – In der Chausseestraße sind die Räume von ""Juma"" angesiedelt. ""Juma"" steht für "Jung - Muslimisch - Aktiv". Das ist ebenfalls ein Verein, der sich für die Bildung und Karriere junger Deutschtürken starkmacht. Die Träger der ""Juma"" sind die regionalen Arbeitsstellen für Bildung und Integration. Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft des Senats für Inneres und Sport. Angesprochen werden junge Leute zwischen 15 und 25 Jahren, die in Moschee-Gemeinden organisiert sind.
In Arbeitsgruppen diskutieren sie mit Politikern, Medienvertretern und Wissenschaftlern. So stand unlängst ein Besuch des Bundestages auf dem Programm. Auf der Internetseite des Vereins finden sich Fotos, die junge Leute in T-Shirts zeigen. Diese Shirts sind mit der Aufschrift Nein-Eleven versehen, wobei das "Nein" in deutscher Sprache ausgeschrieben steht. Eine klare Abgrenzung gegen jede Form von Terrorismus. Direkt nebenan, in einem der zahlreichen Cafés, treffen sich zwei junge Deutschtürken, Hilal Aybike und Ufuk Erdukan. Beide sind Anfang 20, Ufuk hat große, dunkle Augen, er tritt betont höflich auf und spricht auffallend kultiviert. Hilal Aybike ist eher unkompliziert und temperamentvoll, sie wirkt wie eine junge Frau, die überall auf der Welt zuhause sein kann. Und dennoch teilen beide Studenten dieses Gefühl der intensiven Suche nach einer Zugehörigkeit zu einer Mentalität, einer Gruppe oder einem Volk.
"Diese Problematik wird dann immer ganz stark, wenn ich dann auch im Ausland bin, aber dann im Land meiner Eltern, sozusagen, in der Türkei. Da heißt es dann immer sofort: 'Ah, der Deutsche ist da# oder #die Deutschen sind da#, und wir sind dann plötzlich so mit der Situation konfrontiert: Wir waren doch dort Türken und dachten, jetzt wieder in der Heimat zu sein. Und dann werden wir als Ausländer, als eben Deutsche bezeichnet. Und leider Gottes haben wir dann auch hier die Situation, dass, wenn wir uns irgendwo vorstellen, präsentieren, man dann sofort gefragt: #Woher kommst du ursprünglich?# Dann sagt man, ja, aus der Türkei. #Ah, Du bist also dann Türke.# Man will ja schon eine Zugehörigkeit haben, aber das ist schwer, wenn man immer nur darauf begrenzt wird, woher man ursprünglich kommt."
Hilal Aybike muss lächeln, als sie diese Sätze hört. Sie ist schon einen Schritt weiter.
"Wenn ich in der Türkei bin, dann gibt es Sachen, die vermisse ich zum Beispiel im öffentlichen Verkehr deutsche Pünktlichkeit, eine Eigenschaft, die ich vollkommen übernommen habe, ist deutsche Pünktlichkeit. Aber wenn ich dann hier bin, da gibt es Sachen, da bin ich doch eher etwas türkisch, und ich finde, es ist auch nichts Schlimmes, wenn ich beide Kulturen kombiniere, denn das macht mich flexibel."
Aus dieser Zerrissenheit, dieser Vielschichtigkeit der Möglichkeiten und auch Unmöglichkeiten heraus erwächst ein Ehrgeiz, den Organisationen wie die "JUMA" auffängt. Die jungen Leute erleben eine neue Variante von Horizonterweiterung, und erleben an sich und anderen Veränderungen ihres Weltbildes. Ufuk hat es am Beispiel seines Bruders erlebt.
"...dass er, seitdem er an diesem Projekt teilnimmt, mit einer ganz anderen Mentalität sozusagen – es ist die Sichtweise, die er sich angeeignet hat; es ist so die Art und Weise, wie er Dinge betrachtet, dass er nicht nur eben diesen Tunnelblick besitzt für das Eine, was er bisher immer vermittelt bekommen hat, sondern er lernt dadurch eben viele Menschen kennen, er lernt Professoren kennen, er lernt andere Menschen kennen, die das eben teilen."
Ufuk beschreibt das Lebensgefühl eines ehrgeizigen Deutschtürken der dritten Generation, ein Bild, das sich an Bildung und Karriere orientiert. Es hebt sich deutlich ab von jenen, die ihre Integrationsverweigerung demonstrativ zur Schau stellen, etwa in der Betonung der Migrantensprache, einem aggressiveren Auftreten in der Öffentlichkeit oder in der Kleidung. Diese beiden Gruppen junger Deutschtürken prallen gelegentlich aufeinander. Wie, erfährt man im Gespräch mit Redakteurinnen der "Deutsch-Türkischen Nachrichten" in der Lietzenburger Straße, einem Wohnhaus aus der Gründerzeit. In den hohen Räumen mit Stuck an der Decke hat die Redaktion Internet-Zeitung "Deutsch-Türkische Nachrichten" Quartier bezogen. Die Redaktion besteht vornehmlich aus jungen, bildungsorientierten Deutsch-Türken und wird auch von solchen gelesen. Zweierlei wird angeboten: selbst recherchierte Beiträge und Interviews ebenso wie eine Auswahl von Artikeln mit Türkei-Bezug, die in den deutschen Zeitungen und Zeitschriften erscheinen und hier wiedergegeben werden. Hier arbeiten die Journalistinnen Merve Durmus, 24, und Ceyda Nurtsch, 32 Jahre alt. Beide haben einen offenen Blick, treten selbstbewusst auf und zugleich bescheiden. Merve trägt ein Kopftuch, Ceyda trägt ihr Haar offen. Sie erzählt, was ihr Vater in Istanbul erlebt hat. Zehn Jahre war er Lehrer an der Deutschen Schule in Istanbul, einer Schule, die von leistungsorientierten türkischen Jugendlichen besucht wird.
Genau an dieser Schule gab es unlängst einen Zwischenfall, den Ceyda Nurtsch für bezeichnend hält. Es war, als eine Klasse mit jungen, eher bildungsfernen Türken aus Deutschland dieser Schule in Istanbul einen Besuch abgestattet hat. Die Geschichte steht für den Bruch zwischen zwei Gruppen einer Generation.
"Die türkischstämmigen Schüler hatten also dementsprechend ihre Türkei-T-Shirts an und vielleicht Ketten mit dem Halbmond drauf und dann diese prägnanten Frisuren, gefärbte Haare und fielen eben in dieser türkischen, elitären Schule extrem auch als Alemandes auf, also als Türken aus Deutschland. Die elitären Schüler der deutsch-türkischen Schule wollten diesen 'Prolos' deutlich machen, dass sie nicht zu ihnen gehören, und als diese Klasse aus Deutschland einen Klassenraum betrat, ist die gesamte Klasse aufgestanden und hat die türkische Nationalhymne mit voller Inbrunst gesungen. Das hat diese türkisch-stämmigen Schüler vollkommen fertiggemacht und ein Junge ist weinend rausgerannt."
Was sagt diese Geschichte für die Journalistin Merve Durmus aus?
"Das sagt auf jeden Fall aus, dass man gerade als Jugendlicher, wenn man hier in Deutschland aufwächst und vielleicht türkische Eltern hat, dass man da schon auf einer Suche ist und sich versucht, einer Seite zugehörig fühlen zu müssen. Ich glaube, das liegt aber auch daran, dass einem das so vorgeschrieben wird in einer Art und Weise, dass man ständig gefragt wird, was bist du denn, als was fühlst du dich denn? Woher kommst du? Und da fühlt man sich natürlich dann genötigt, dass man sich für eine Seite entscheidet, bis man dann sieht, dass man das eigentlich gar nicht muss."
Hat sie dies auch am eigenen Leib erfahren? Wie ging sie als Jugendliche mit dem Problem um?
"Ja, ich habe das genau wahrscheinlich wie alle anderen auch durchgemacht. Ich hatte diese Phase mit 15, 16, 17, dass ich gesagt habe, ich bin Türkin. Und ich weiß noch, mein Zahnarzt hatte mich das gefragt, und ich habe ganz stolz gesagt: Natürlich bin ich Türkin. Und er hat mich dann gefragt: Wieso denn, wie kommen sie denn darauf? Und ich meinte: Ja, weil mich Andere so sehen. Und wenn mich heute jemand fragt, mit 24, ob ich Deutsche bin, dann sag' ich 'Ja', und wenn ich gefragt werde, ob ich Türkin bin, dann sage ich auch 'Ja'."
Ceyda Nurtsch hat einen deutschen Vater und eine türkische Mutter – was sie als Kind für "ganz normal" hielt, bis man die Türkei verließ und nach Deutschland kam:
"Erst als ich nach Deutschland zum Studium gekommen bin, wurde ich mit diesen Fragen konfrontiert, und fand die auch sehr kleinkariert. Also, gerade wenn man aus so einer Metropole wie Istanbul kommt, wo alle sich als Weltenbürger fühlen - ich will nicht sagen alle, aber die Menschen, mit denen man eben so in diesem internationalen Umfeld zu tun hat - und dann kommt man, und diese Art zu denken, das man sozusagen eine Schublade auswählen muss, fand ich auch provinziell, ehrlich gesagt."
Merve Durmus sieht ihre Kollegin etwas fragend an: Nein, sie hat nichts dagegen, nach ihrer Herkunft gefragt zu werden. Allerdings fragt sie sich, ob solche Fragen noch zeitgemäß sind.
"Ich denke, dass es auch ganz normal ist, dass man versucht, sein Gegenüber zu benennen, dass man versucht zu definieren, der ist das und das. Aber eigentlich müssten wir jetzt im Zuge der Globalisierung erkennen, dass das überhaupt nicht mehr möglich ist. Man kann sein Gegenüber nicht mehr so klar benennen, vor allem, wenn das Menschen sind, die hier aufgewachsen sind, aber andere Wurzeln haben oder ganz verschiedene Wurzel haben. Es muss ja nicht immer sein, dass beide Eltern türkisch sind."
Und so klingt es nur logisch, dass viele Deutsch-Türken der dritten Generation ihre Identität gefunden haben.
"Ich habe auch das Gefühl, dass viele Migranten – sag ich mal –, der dritten Generation jetzt versuchen, aus dieser Sackgasse rauszugehen. Die wird 'Postmigrantische Generation' mittlerweile genannt. Die sagen: Wir sind Postmigranten. Wir lassen uns nicht mehr diktieren, dass wir uns überlegen müssen, wer wir sind – also, wir lassen uns nicht vorschreiben, dass wir uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen haben. Sollen die Frage doch die Leute beantworten, die sie selber stellen. Wir machen jetzt unser Ding. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft – akzeptiert oder auch nicht, ist egal -, wir sind einfach so und wir leisten unseren Beitrag."
In der Chausseestraße, dem Sitz des Bildungsvereins "Juma", haben junge Deutschtürken ebenfalls zu einem neuen Selbstwertgefühl gefunden. Der Student Ufuk Erdukan setzt auf Erfolg und Karriere:
"Wir wollen ganz klar etwas erreicht haben, wo dann irgendwann vielleicht die nächste Generation hinaufschauen kann und sagen kann: Wow, dieser Bruder hat es 'gepackt' und er ist vielleicht teilweise unter den gleichen Umständen aufgewachsen, groß geworden wie ich. Und wenn er das schafft, kann ich es auch schaffen, das heißt, so eine Art Vorbildfunktion will ich dann einnehmen anhand dessen, was ich dann im Berufsleben ausübe."
Hilal Aybike setzt noch eines drauf – und bringt eine ganz alltägliche Beobachtung ins Spiel:
"Wir haben auch Projekte gemacht mit Greenpeace, wo wir für Umweltschutz waren. Es war so schön zu sehen, wie wir alle durch den Park gelaufen sind, Müll aufgesammelt haben und die
Leute informiert haben. Da war ein ganzer Haufen von jungen Frauen mit Kopftuch. Dieses Bild – es ist neu – aber ich wünsche mir, dass dieses Bild irgendwann Normalität ist. Dass man jetzt denkt – okay, seltsam und dann: Wow, das ist schön, und irgendwann denkt man: Das ist Normalität, das ist Berlin – das ist Deutschland!"