Den Schriftsteller Robert Stripling darf man sich als einsamen, romantisch affizierten Wanderer vorstellen, der auf seinen Streifzügen durch das Dickicht der Städte und durch die Landschaften seiner Kindheit Augenblicke der wahren Empfindung sammelt. Ausgangspunkte seiner poetisch hochsensiblen Expeditionen sind eine zugewucherte Waldhütte in Österreich, eine kleine, dunkle Wohnung in Frankfurt-Griesheim, ein abgelegenes Hotel in Rom und andere randständige Orte. Und damit Beobachterpositionen, von denen aus das von „Weltsucht“ angetriebene Ich sich in die Gegenwart hineintastet und dabei „jede Kleinigkeit festhalten“ will.
Augenblicke der wahren Empfindung
Robert Stripling ist ein Autor, der den traditionellen Formen von „Fiktion“, „Biografie“ oder „Erzählung“ zutiefst misstraut. Er kultiviert dagegen in seinem neuen Werk, seinem „Album“, das mehrere Teile umfassen wird, die stark assoziative, von Erinnerungsfragmenten, sprachspielerischen Einfällen und sinnlichen Wahrnehmungen inspirierte Aufzeichnung, die sich in wilden Vor- und Rückblenden quer durch die Zeiten und Räume bewegt. Allein an dem jetzt vorliegenden ersten Teil seines „Albums“, einem aus Wahrnehmungssplittern komponierten Mosaik einer Lebenserzählung, hat der Autor zehn Jahre lang gearbeitet.
Mit seiner forcierten Entschlossenheit zur ästhetischen Verwandlung der Welt liefert Stripling ein wuchtiges literarisches Statement ab. Die gesammelten Werke des Frühromantikers Novalis und das „Passagen-Werk“ des Philosophen Walter Benjamin fungieren dabei als Türöffner zu einer poetischen Welterkundung die, wie es an einer Stelle heißt, ihrem eigenen Sensorium „bis ins Märchenhafte, Märenumnachtete“ vertraut. Diese Form ästhetischer Weltaneignung ähnelt sehr den Prosagedichten und „magischen Blättern“ Friederike Mayröckers, zu deren stilistischen Eigenheiten es auch auffällige Parallelen gibt. Das betrifft etwa Striplings Manier, sich an imaginäre Gesprächspartner zu wenden, seine verschlungenen Satzperioden mit dem Einschub „sage ich“ auszustatten oder ans Ende eines unabgeschlossenen Satzes ein beiläufiges „usw.“ anzuhängen.
„…ich liebe die Welt, ich liebe den unerklärlich erfüllenden POETISCHEN ZUSTAND.
Dass Maria Sibylla Merian, sage ich zu Ana B., den Atlantik überquerte: um 1700, ins niederländische Kolonialgebiet Surinam – Südamerika, ‚spiegelglatter Ozean‘, sage ich, Ozonschicht!, wie Merian & ihre Tochter die Raupen des Tabakschwärmers, HELLSEEGRÜN, zwischen aufrecht wachsenden Blütenständen, ‚abpausten‘, Pigmentbilder oder Stunden/Stauden, das dichte Gestrüpp; alles abzeichnen, sage ich, damit es festgehalten sei: eine Art göttlicher Huldigung, einer Huldigung der Schöpfung usf.“
Dass Maria Sibylla Merian, sage ich zu Ana B., den Atlantik überquerte: um 1700, ins niederländische Kolonialgebiet Surinam – Südamerika, ‚spiegelglatter Ozean‘, sage ich, Ozonschicht!, wie Merian & ihre Tochter die Raupen des Tabakschwärmers, HELLSEEGRÜN, zwischen aufrecht wachsenden Blütenständen, ‚abpausten‘, Pigmentbilder oder Stunden/Stauden, das dichte Gestrüpp; alles abzeichnen, sage ich, damit es festgehalten sei: eine Art göttlicher Huldigung, einer Huldigung der Schöpfung usf.“
Ein Andachts-Buch der Angst
Das „Album“ erweist sich letztlich als „eine Art Andachts-Buch“, um ein von Stripling adoptiertes Benjamin-Zitat auf sein eigenes Werk anzuwenden. Freilich lässt sich Robert Stripling nicht auf die Rolle eines sprachbegeisterten Neo-Romantikers reduzieren. In seine sorgsam geflochtene Textur hat er auch eine Geschichte der Gewalt eingearbeitet.
Repräsentativ für diese dunkle Seite seines „Albums“ ist die Figur des Vaters, der an markanten Stellen des Buches seinen Auftritt hat: als ein zur unkontrollierten Aggression gegen seine Angehörigen neigender Alkoholiker. In einer Szene grölt der Vater das berüchtigte Horst-Wessel-Lied, „ein Geprügelter“, heißt es hier, „der selbst zum Prügelnden wurde“. Davon geprägt ist die Scham des Sohnes, dass der Vater sich als Betrunkener selbst erniedrigt:
„...wenn nachts Vaters Faust auf den Stubentisch oder der massive, gläserne Aschenbecher NIEDERGING, Kawumm!, die hustende Gruft, ich meine, sein Husten tief aus dem Rachen & die knisternde Kaminglut, während er in regelmäßigen Abständen in den Keller schlurfte, eine weitere Flasche, ‘was weiß ich!‘, schlafe, Vater, schlafe….“
Aufzeichnungen aus der Wundergrotte
Für das Eintauchen in die „Wundergrotte“ der Welt hat sich Robert Stripling ein ungewöhnliches Wappentier ausgesucht: Es ist die Vogelspinne, wie sie von der Naturforscherin Maria Sibylla Merian um 1700 auf einer Bildtafel gezeichnet wurde, als ein sehr gefräßiges Tier, das gerade einen Kolibri verspeist. Das achtäugige Tier imaginiert Stripling zugleich als Wesen einer unheimlichen Einflüsterung, das den Kopf des Dichters belagert:
„…die Spinne klettert aus meinem Ohr, aus unendlich engem Strom geschnitten, der mich durchzieht & an den Tag bindet, wie Licht…“
Das bedrohliche Bild der Vogelspinne ist ambivalent. Einerseits verweist sie auf die Angstbilder aus der eigenen Kindheit, von denen der Dichter eingeholt wird. Andererseits verkörpert sie den euphorischen Schöpfungsprozess des „Albums“. Denn Robert Stripling bedient die generative Vorstellung, dass sich das schreibende Ich im Textgewebe wie eine Spinne auflöst.
Robert Striplings „Album“ reaktiviert die zutiefst romantische Phantasie, dass sich Traum und Welt, Bild und Klang, Klang und Wort zum „einigen, einzigen Kreis“ verbinden. Ein im besten Sinne anachronistisches Konzept, ohne Zweifel. Aber ohne romantische Emphase werden wir auch in Zukunft nicht auskommen.
Robert Stripling: „Unter Stunden. Album I“
Kookbooks Verlag, Berlin 2022
236 Seiten, 28 Euro.
Kookbooks Verlag, Berlin 2022
236 Seiten, 28 Euro.