Die Studentenkneipe ist voll. Hier trifft sich Michail Kapustin gern mit Besuchern. Das Lokal im Souterrain ist nur ein paar Schritte entfernt vom jüdischen Viertel in Bratislava. In der Kneipe fällt Kapustin kaum auf. 37 Jahre ist er alt. In der Slowakei fühlt er sich längst heimisch.
"Ich arbeite im ganzen Land und reise viel. Morgen mache ich mich wieder auf den Weg. Nicht immer leben Juden in den Städten, die ich besuche, aber oft gibt es dort ein jüdisches Kulturerbe, einen Friedhof zum Beispiel."
"Ich hatte Angst vor den Antworten"
In der Kneipe läuft ein Eishockey-Spiel, übertragen auf eine Großbild-Leinwand: Die Slowakei spielt gegen Russland, ausgerechnet. Vor vier Jahren kam Michail Kapustin nach Bratislava, sein Slowakisch ist längst flüssig. Es ist das Happy End einer Geschichte, die mit einer aufsehenerregenden Flucht begann: Kapustin war Rabbi auf der Krim - bis zum Jahr 2014, als die Russen die ukrainische Halbinsel annektierten.
"Ich finde, Religion und Staat müssen getrennt sein, das ist ein Pfeiler der demokratischen Gesellschaft. Nie habe ich deshalb öffentlich Wahlen kommentiert oder das politische Geschehen in der Ukraine. Aber als ich gesehen habe, dass die russische Armee auf die Krim kommt, war das etwas anderes als Politik. Ich war und bin Bürger der Ukraine, und aus meiner Sicht war es nicht richtig, was geschah. Ich habe einen offenen Brief geschrieben über das, was auf der Krim passierte, ein paar Sätze nur."
Ein paar Sätze, in denen er den Einmarsch der Russen kritisierte. Auf den nüchternen Brief brach eine Lawine los: Rabbi Michail Kapustin wurde beschimpft, zum Teil sogar von eigenen Bekannten. Andere sprachen ihm Mut zu. Und vor allem: Journalisten aus aller Welt riefen an, um aus erster Hand zu erfahren, wie sich das Leben, wie sich das jüdische Leben unter russischer Okkupation verändert. Eine Schlüsselerfahrung für ihn sei das Live-Gespräch in einem örtlichen Fernsehsender gewesen, erinnert sich Michail Kapustin:
"Ich habe auf keine Frage geantwortet. Es ist nicht schwer, auf Fragen zu antworten; es ist viel schwerer, nicht auf sie zu antworten. Ich war auch davor öfters live im Fernsehen, aber es war das erste Mal, dass ich Angst hatte vor den Antworten, weil ich dachte: Alles, was ich sage, kann gegen die Juden verwendet werden. Ich fühlte mich sehr unzufrieden, nicht sagen zu können, was ich denke - das ist für einen Rabbi das Schwerste."
Eine individuelle Entscheidung
Schnell merkte Michail Kapustin, dass sich das Leben auf der Krim ändert - und längst ist auch das Leben der jüdischen Gemeinden anders als vor der Annexion.
"Die meisten Juden auf der Krim sind assimiliert, sind Teil der Mehrheitsgesellschaft. Viele Leute haben gewartet, was am nächsten Tag passiert - klar, es gab auch Gruppen, die eine der beiden Seiten unterstützt haben, aber die meisten haben abgewartet. So war das auch bei den Juden. Und wie alle anderen sind sie nach dem Referendum über die Zugehörigkeit zu Russland aufs Amt gegangen, haben russische Pässe bekommen und wurden Teil der russischen Krim. Jetzt ist die Krim faktisch russisch, und die jüdische Gemeinschaft auf der Krim hat ihre verschiedenen Dach-Organisationen in Russland."
Rabbi Kapustin entschied sich, die Krim mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern zu verlassen - genauso wie auch sein Amtskollege, ein orthodoxer Rabbiner. Seiner Gemeinde teilte er die Entscheidung einen Tag vor der Abreise mit, fast vier Jahre liegt das jetzt zurück. Manche unterstützten ihn, andere kritisierten die Entscheidung - und damit könne er gut leben, sagt Kapustin. Für ihn ist es bereits die zweite Flucht in seinem Leben: Beim ersten Mal war er noch ein Kind, elf Jahre alt; damals flüchteten seine Eltern vor dem Krieg in Georgien und wählten ausgerechnet die Krim als neuen Lebensmittelpunkt. Die Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen, sei individuell, betont Kapustin.
"Es ist ja nicht mehr so wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wo ein chassidischer Rabbi gesagt hat: Es ist Zeit, aus Russland abzureisen, wir gehen jetzt in die USA - und alle haben ihre Koffer gepackt und sind am nächsten Tag gegangen. Ich gehöre nicht zu den Rabbinern, die das so handhaben. Ich will auch so eine Autorität gar nicht haben."
Doppelter Neuanfang
Ohnehin erfuhr er, welche Sprengkraft sein Fall offenbar für die russische Propaganda hatte: Im Beitrag eines kreml-treuen Fernsehsenders hieß es, der Rabbiner flüchte vor ukrainischen Nationalisten - komplett erlogen, sagt Michail Kapustin und lacht: Auf der Flucht vor ukrainischen Nationalisten hätte er sich ja wohl kaum in Kiew niedergelassen. Dort im Exil bekam er nach einigen Wochen das Angebot, in die Slowakei zu wechseln.
"Ich kannte niemanden in Bratislava und wusste nicht viel über die Slowakei. Ein paarmal war ich im benachbarten Tschechien, aber hier war alles für mich neu. So bin ich mit der Familie nach Bratislava gekommen, sie zeigten mir das jüdische Leben in der Gemeinde und boten mir an, hierzubleiben."
Es ist ein doppelter Neuanfang - für ihn und für die jüdische Gemeinde in Bratislava. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es dort einmal einen Reform-Rabbiner, aber seither nur Orthodoxe. Das ändert sich jetzt mit Kapustin. Mit seinem orthodoxen Kollegen ist er für die Gemeinde zuständig, in der orthodoxe wie liberale Juden gleichermaßen aktiv sind - in Bratislava gibt es nur diese eine Gemeinde.
"Ich mache keinen Unterschied, ob das meine Juden sind oder nicht. Die Leute können auswählen, sie können in den einen oder in den anderen Gottesdienst gehen - Hauptsache, sie kommen überhaupt."
"Gute Karten für die Zukunft"
Und das ist ihm gelungen, dem jungen Rabbiner: Er hat es offenbar geschafft, neuen Schwung in die jüdische Gemeinde der Slowakei zu bringen. Er hält Vorlesungen an der Uni, er geht in Schulklassen, er reist durchs Land - so viel Aktivität tut der Gemeinde spürbar gut. Für ihn sei die Slowakei so etwas wie ein goldener Mittelweg, sagt Kapustin: Er habe während seiner Ausbildung in London das westliche Judentum kennengelernt und auf der Krim die östlichen Traditionen. Hier in Bratislava könne er von beiden Erfahrungen zehren - allein schon wegen der Mitglieder, die aus allen Himmelsrichtungen stammten.
"Es gibt Programme für Familien, für kleine Kinder, auch für Studenten. Es sind verschiedene Generationen aktiv. Dieses Jahr habe ich eine Bar Mitzwa und eine Bat Mitzwa, im Frühling fange ich an, die Schüler der nächsten Jahrgänge vorzubereiten. In den vergangenen Jahren hatte ich stets Trauungen, dieses Jahr vielleicht auch. Wir haben gute Karten für die Zukunft."
Er hoffe, dass für seine Kinder die Slowakei zur Heimat werde, sagt Michail Kapustin schließlich. Im Fernsehen geht gerade die Live-Übertragung des Hockey-Spiels zu Ende. Das slowakische Team hat die Russen geschlagen. Ein symbolträchtiges Ergebnis, findet Kapustin und schmunzelt.