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In dubio pro Video

Oftmals sind die einzigen Bilder, die aus Syrien und anderen abgeriegelten Staaten an die Öffentlichkeit gelangen, verwackelte Aufnahmen von Handykameras. TV-Redakteure haben verschiedene Strategien entwickelt, um Authentizität und Wahrheitsgehalt von Aufnahmen zu verifizieren, die sie im Internet finden.

Von Nikolaus Steiner |
    Es sind verwackelte Bilder einer Handykamera: Männer demonstrieren, plötzlich fallen Schüsse. Die Männer fliehen, die Masse löst sich auf. Es sind Bilder, die am Abend in einem Nachrichtenbeitrag in den Tagesthemen zu sehen sind.

    O-Ton Jörg Armbruster:

    "In der Nacht zum Montag schon waren Syrer wieder auf die Straße gegangen und hatten nach dem Blutsonntag gegen das Regime in Damaskus demonstriert."

    Angeblich zeigt das Handyvideo den Einsatz der syrischen Armee gegen friedliche Demonstranten. Angeblich. Kein Journalist war bei der Demonstration vor Ort, trotzdem läuft es am Abend in allen deutschen Nachrichtensendungen. Eine riskante Entscheidung der Redaktionen, meint der Leipziger Journalistikprofessor Martin Welker.

    "Die Gefahrendimension ist sicher, dass das Material manipulierbar ist. Dass es nie ganz klar ist, aus welcher Quelle es tatsächlich stammt, dass die Authentizität des Materials teilweise unklar und dass sich dadurch die Redaktion auf ein gefährliches Feld der Halbwahrheiten begibt und der manipulierten Fakten."

    Woher wissen die Nachrichtenredakteure, wer und was auf dem Bild zu sehen ist?

    "Wir gucken dann Stück für Stück die Indizien an, die wir finden können, zu sagen: Ist das tatsächlich dort aufgenommen? Ist das tatsächlich in dieser Sprache? Ist das an diesem Ort? Sehen wir tatsächlich das, was wir haben?"

    Erklärt Michael Wegener. Er ist Social-Media-Redakteur bei der Tagesschau in Hamburg und durchforstet mit seinen Kollegen Twitter, YouTube und Facebook nach neuen Videos und versucht deren Herkunft zu überprüfen. Dieser "Verifikationsprozess" läuft in vier Stufen ab. Stufe Eins: Redaktionelle Verifikation.

    "Was ist auf dem Bild zu sehen, stimmt das mit dem Material aus anderen Quellen überein, was haben wir an Agenturmeldungen? An Bildagenturen? Was gibt es für andere Quellen im Internet? Kann das sein? Stimmen die Zeit- und Ortsangaben, sprechen die Leute wirklich mit dem Akzent und so weiter."

    Der zweite Schritt ist die sogenannte "Quellenverifikation". Die zentrale Frage: Wie glaubhaft ist die Quelle, also die Person, die das Video ins Netz geladen hat?

    "Wir gucken uns an: Wie lange postet der schon? Wie viele Follower hat er? Ist der neu in der Landschaft? Und wenn man das eine Zeit lang gemacht hat, kriegt man ein sehr gutes Gefühl?"

    Der dritte Schritt ist der Abgleich mit Experten. Das können zum Beispiel Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sein, Deutsche, die schon lange in der Region leben oder die jeweiligen ARD-Korrespondenten.

    "Denen zeigen wir das Video und sagen dann: Schauen Sie doch mal drauf, was sagen Sie dazu? Kann das so sein?"

    Der vierte und letzte Schritt ist die technische Verifikation, das heißt die Social-Media-Redakteure prüfen, ob das Video technisch manipuliert und bearbeitet wurde. Aber selbst wenn alle Indizien darauf hinweisen, dass das Video echt ist - einhundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Deshalb passieren Fehler, wie beim ZDF:

    "Wir hatten eingeräumt, dass wir die Quelle nicht kennen. Dass wir nicht einordnen können, woher die Bilder stammen und wann sie gemacht wurden. Und später stellte sich heraus, dass die Bilder eben nicht aus Syrien stammen, sondern - wahrscheinlich - aus dem Irak."

    Wegener:

    "Ich denke, man muss ehrlich sein gegenüber dem Zuschauer, man muss transparent sein, alles was darüber hinaus geht, ist nicht zulässig, das können wir einfach nicht 100 Prozent verifizieren und dann müssen wir das sagen."

    Aber reicht es aus journalistischer Sicht aus, den Konjunktiv und Begriffe wie "scheinbar, offenbar, mutmaßlich" zu benutzen? Obwohl es überhaupt nicht sicher ist, dass die Videos auch das zeigen, was sie zeigen sollen?

    "Die Frage ist dann immer, die man sich stellen muss: Zeigt man es denn überhaupt? Und was rechtfertigt es, das Bildmaterial zu zeigen. Hier muss für jede Nachrichtenlage, für jede Nachrichtenrelevanz auch abgewogen werden, ob es gezeigt werden soll oder nicht."

    Das Fernsehen ist nun mal auf Bilder angewiesen. Und wenn keine ausländischen Journalisten zum Beispiel nach Syrien reisen dürfen, dann greifen die Redaktionen gerne auf das kostenlose Videomaterial aus dem Internet zurück. Auf der anderen Seite sind die Videos für Bürger in autoritären Staaten oftmals die einzige Möglichkeit, auf die Brutalität und Unterdrückung von Diktatoren aufmerksam zu machen.

    Deshalb ist es wichtig, dass Fernsehredakteure geschult werden, um die Herkunft und Echtheit eines Online-Videos zu überprüfen.

    "Einige Jahre war hier ja Onlinerecherche als Teufelszeug klassifiziert. Das ist natürlich genau der falsche Weg, sondern man muss die neuen Möglichkeiten annehmen."

    Social-Media-Recherche ist für Michael Wegener und seine Kollegen bereits Fernsehalltag, allerdings gilt das noch nicht für alle Nachrichtenredakteure.

    "Ich denke, dass es wichtig ist, dass es noch mehr Offenheit gibt für die Felder der sozialen Medien, dass das ein ganz normaler Bestandteil der täglichen Arbeit wird."

    Das Internet bietet den Fernsehredakteuren viele neue Bildquellen und stellt damit hohe Anforderungen an den Fernsehjournalismus. Ob das Handyvideo, das am Abend in einem Nachrichtenbeitrag in der Tagesschau läuft, wirklich aus Syrien stammt, werden die Zuschauer wohl erst viel später erfahren.