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"In Tibet herrscht faktisch ein Kriegsrechtszustand"

Der Gesandte des Dalai Lama für Europa, Kelsang Gyaltsen, steht den Olympischen Spielen ambivalent gegenüber. Es sei paradox, dass in der Hauptstadt ein fröhliches Sportfest abgehalten werde, während in anderen Teilen des Landes Kriegsrechtszustände herrschen.

Kelsang Gyaltsen im Gespräch mit Elke Durak | 06.08.2008
    Elke Durak: In China habe sich viel bewegt, erklärte IOC-Präsident Rogge in dieser Woche und ergänzt, die Verwirklichung von Menschenrechten sei noch immer unzureichend. Gleichzeitig weist die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt am Main darauf hin, China wolle Nonnen und Mönche, die vor Monaten öffentlich protestiert hatten, Erziehungsmaßnahmen unterziehen. Das sei einer offiziellen Internetseite der chinesischen Regierung zu entnehmen.
    Ich habe mit dem Gesandten des Dalai Lama in Europa Kelsang Gyaltsen gesprochen. Er ist auch einer der Chefunterhändler für die Gespräche mit Peking. Meine erste Frage an ihn war: Was ist denn unter solchen Erziehungsmaßnahmen zu verstehen?

    Kelsang Gyaltsen: Das sind Maßnahmen: Es nennt sich die patriotische Erziehungskampagne. Diese eigentlichen Indoktrinationskurse werden in allen Klöstern, an allen Arbeitsplätzen, in Schulen und an der Arbeitsstätte abgehalten. Bei dieser Kampagne müssen die Tibeter den Dalai Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt Tibets, denunzieren und ihre totale Loyalität gegenüber der Kommunistischen Partei und gegenüber der chinesischen Herrschaft in Tibet zum Ausdruck bringen. Diese Kampagne läuft eigentlich seit Jahren und seit den Unruhen im März und April in Tibet sind diese patriotischen Erziehungsmaßnahmen intensiviert worden, verschärft worden. Das führt dazu, dass eben viele Tibeter sich weigern, den Dalai Lama zu denunzieren und zu kritisieren, und das führt wiederum zu neuen Verhaftungen, so dass heute in Tibet faktisch eigentlich immer noch ein Kriegsrechtszustand herrscht, obwohl die chinesische Regierung - wahrscheinlich wegen der Olympischen Spiele in Peking - offiziell nicht den Zustand in Tibet als Kriegsrecht deklarieren will. Aber faktisch ist die Situation für die Tibeter in Tibet sehr, sehr bedrückend und wir wissen zum Beispiel auch, wenn ein Tibeter in den größeren Städten von einem Teil der Stadt in einen anderen reisen möchte oder gehen muss, dass er dafür spezielle Genehmigungen einholen muss und dass dies mit viel, viel Schwierigkeiten verbunden ist. Und dass die meisten Klöster eigentlich von Sicherheitskräften umlagert sind, belagert sind. In einigen der größeren Klöster können die Mönche das Kloster nicht verlassen und Außenstehende können auch das Kloster nicht betreten.

    Durak: Herr Gyaltsen, und trotzdem haben Sie kürzlich erst wieder Gespräche geführt mit Vertretern Pekings. Mit welchem Ziel?

    Gyaltsen: Es ist die Politik des Dalai Lama, in Gesprächen mit der chinesischen Regierung eine einvernehmliche Lösung für das Tibet-Problem zu finden. In dieser Bemühung hat der Dalai Lama klar gemacht, dass er nicht eine Trennung und die Unabhängigkeit Tibets anstrebt, sondern eine echte Autonomie für das tibetische Volk im Rahmen des chinesischen Staatsverbandes, so dass es dem tibetischen Volk in seiner eigenen Heimat möglich ist, die eigene Kultur, Sprache, Religion und Identität zu bewahren, was zurzeit akut von den Entwicklungen in Tibet bedroht ist.

    Durak: Das erkennt Peking doch aber nicht an. Weshalb also führen sie immer noch diese Gespräche, obwohl ja seit März, seit den Aufständen das, was Sie vorher beschrieben haben, stattfindet? Die Tibeter können ihre Meinung nicht frei äußern und vieles andere. Weshalb führen sie dann diese Gespräche weiter?

    Gyaltsen: Es ist die Politik des Dalai Lama, gewaltlos und durch einen Dialog eine Lösung des Tibet-Problems anzustreben und zu suchen.

    Durak: Ist das nicht ein einseitiger Dialog?

    Gyaltsen: Ich glaube man muss die Situation in China auch als Gesamtsituation ansehen. Es ist schon richtig, dass die Politik der chinesischen Regierung in Tibet sehr, sehr repressiv ist und auch sehr, sehr unnachgiebig in diesen Gesprächen ist. Aber gleichzeitig sehen wir auch in China Entwicklungen, die sehr, sehr positiv sind.

    Durak: Welche?

    Gyaltsen: Beispielsweise noch vor 20 Jahren war das Tibet-Bild der Chinesen zumeist, dass Tibet rückständig, abergläubisch, primitiv, unterentwickelt ist. Heute hat sich dieses Tibet-Bild unter den Chinesen sehr, sehr stark positiv gewandelt. Beispielsweise bei den letzten größeren Unruhen in Tibet, das war 1987, ’88 und ’89, gab es noch keine einzige chinesische Stimme, die die Unterdrückungspolitik der chinesischen Regierung in Tibet kritisiert hat. Aber bei den jüngsten Unruhen im März und im April in Tibet haben sich viele chinesische Intellektuelle in einem offenen Brief sehr, sehr kritisch zu der Politik der chinesischen Regierung in Tibet geäußert. Chinesische Anwälte haben sich öffentlich bereit erklärt, Tibeter, die bei den Demonstrationen verhaftet wurden, zu verteidigen. Eben das sind die positiven Entwicklungen in China, die auf der gesellschaftlichen Ebene in Bezug auf Tibet stattfinden. Deshalb ist es für uns wichtig, dass wir der chinesischen Bevölkerung und den Chinesen klar machen, dass wir Tibeter nicht Antichinesen sind und dass unsere Bewegung nicht antichinesisch ist. Deshalb suchen wir im Gespräch eine einvernehmliche Lösung mit der chinesischen Regierung.

    Durak: Inwieweit können Ihnen die europäischen Staaten beispielsweise dabei helfen?

    Gyaltsen: Die Hilfe der europäischen Staaten ist sehr, sehr wichtig, weil offensichtlich vermag unsere, also die Stimme der Tibeter alleine nicht, die chinesische Regierung zu bewegen, eine andere Politik in Tibet zu betreiben. Und da die chinesische Regierung die Ambition hat, auch in der Welt eine führende und wichtige Rolle zu spielen - das belegen ja gerade die Olympischen Spiele, wie groß diese Ambition ist -, ist es für die chinesische Regierung wichtig, wie die Welt über sie denkt, wie die anderen Regierungen über China denken. Aus diesem Grund kann die Haltung der europäischen Regierungen eine große Hilfe sein, um eine einvernehmliche Lösung für die Tibet-Frage zu finden.

    Durak: Herr Gyaltsen, die Olympischen Spiele stehen unmittelbar bevor. Freuen Sie sich auf diese Spiele?

    Gyaltsen: Mein Verhältnis zu den Olympischen Spielen ist sehr, sehr ambivalent. Obwohl seine Heiligkeit der Dalai Lama von Beginn an stets die Olympischen Spiele in Peking 2008 unterstützt hat, haben natürlich die Ereignisse im März und April in Tibet und die darauf folgenden brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der chinesischen Regierung in Tibet dazu geführt, dass meine Empfindungen gegenüber den Spielen sehr, sehr ambivalent sind. Auf der einen Seite wissen wir, dass die Bevölkerung, die Chinesen selbst, die Olympischen Spiele als eine große Ehre für das chinesische Volk und für China betrachtet, die Olympischen Spiele in China abhalten zu können. Aber gleichzeitig sehen wir auch die Bemühungen der chinesischen Regierung, diese Spiele auch politisch zu instrumentalisieren für ihre politischen Zwecke.

    Durak: Aber so richtig freuen auf irgendwelche sportlichen Ereignisse mit chinesischen Sportlern können Sie sich vielleicht doch ein wenig?

    Gyaltsen: Im Moment, solange die Situation in Tibet so ist wie sie ist - und ich habe Ihnen vorhin erklärt: In fast allen Teilen Tibets herrscht faktisch ein Kriegsrechtszustand - -

    Durak: Da fällt es Ihnen schwer?

    Gyaltsen: Ich meine es ist wirklich eine sehr, sehr paradoxe Situation, wenn in der Hauptstadt eines Landes fröhliche Olympische Spiele abgehalten werden, während gleichzeitig in anderen Teilen des Landes Kriegsrechtszustände herrschen.

    Durak: Kelsang Gyaltsen, Gesandter des Dalai Lama in Europa und einer der beiden Chefunterhändler für die Gespräche mit China. Herr Gyaltsen, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

    Gyaltsen: Ich danke Ihnen.