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In Zeiten des Krieges

Die neue Oper des amerikanischen Komponisten Sidney Corbett erzählt die Geschichte zweier Zwillingsbrüder, die sich auf sehr individuelle Weise dem Verrohungsprozess im Krieg stellen. Entstanden ist sie nach der Romanvorlage von Agota Kristof.

Von Frieder Reininghaus | 17.03.2013
    An Kain und Abel erinnert die erste Szene der neuen Oper von Sidney Corbett. Doch die beiden namenlosen Brüder, die von ihren Angehörigen und vom Milieu übel behandelten Hauptfiguren, halten wie Pech und Schwefel zusammen in den knapp zwei Dutzend Szenen, in denen sie und ihre Denkformen allzeit auf der Bühne präsent sind. Heftige Herzlosigkeit mit tödlichen Folgen steht am Ende eines von der Zeit und vom Lebensraum bedingten Verrohungsprozesses: Die beiden Jungs machten ihn durch, nachdem sie bemerkten, dass während des Kriegs die Zehn Gebote noch weniger gelten als in Friedenszeiten. Weder das fünfte, das dem Morden Einhalt gebieten soll, noch die zum Schutz des Eigentums kodifizierten mosaischen Gesetze. Auch die im Buch Exodus festgeschriebene Artenschutzregelung für Mutter und Vater erscheint außer Kraft gesetzt – warum auch sollte von den jungen Leuten jemand geehrt und beschützt werden, der sich nie um sie kümmerte? Dem Vater, der sie auf dem Land bei der Großmutter aufstöbert, wohin sie evakuiert worden waren, nützt es nichts, dass er geltend macht, im Gefängnis eingesessen zu haben. Wohl aus politischen Gründen.

    Sozialisiert also von einem einzigen Buch – der Bibel – tragen die Adoleszenten in das große Heft ein, was ihnen widerfährt und was sie jeweils als einzig wahr erachten. Der Ausstatter Etienne Pluss ließ für die zweckdienlich zurückhaltende Inszenierung von Alexander May ein paar kahl-karge Stellwände über der von welken Blättern oder Brandresten übersäten leeren Bühnenfläche aufstellen. Die Wände mutieren zu einem zunächst unbeschriebenen überdimensionalen Buch: Auf den matt spiegelnden Flächen erscheint immer wieder ein Schriftzug. Ohnedies ist Corbetts neue Arbeit in hohem Maß auf Text ausgerichtet – auf das weithin mit Einzeltönen und kurzen Phasen vorgetragene, dann aber auch von Koloratur-Anflügen intensivierte und gesteigerte lakonische Wort. Über Lautsprecher eingeschaltet, verweist es immer wieder auf die Romanvorlage und die Ergründung dessen, was in Reflexion der Humanitätsgebote deren Anwendung lebenspraktisch außer Kraft setzt. Überlebenspraktisch.

    Der Tonsatz scheint von einem "stockenden Fluss" getragen, dessen inhärente Widersprüchlichkeit der Dirigent Andreas Hotz deutlich macht als differenziertes Kontinuum. In das sind die beiden dominierenden Partien der Zwillinge – der beiden vorzüglich angemessen agierenden Sopranistinnen Marie-Christine Haase und Susann Vent – integral eingeflochten. Auch die Partie des Mädchen schändenden Priesters, den Jan Friedrich Eggers ebenso treffsicher singt und spielt wie den sadomasochistisch veranlagten fremden Offizier. Hervorragend besetzt ist in Osnabrück auch die Partie von ‚Hasenscharte‘ mit Ariane Ernesti als junger Frau in der Opferrolle und mit Hasenoutfit.

    Sidney Corbett ist in Zusammenwirken mit seinem Librettisten, dem Osnabrücker Intendanten Ralf Waldschmidt, so etwas wie ein modernes "Lehrstück" gelungen, das Motive der Brechtschen "Maßnahme" aufgreift. Mit dem "Großen Heft" geht es allerdings nicht um Kollateralschäden derer, die welthistorisch gestaltend in den Gang der Geschichte eingreifen wollen, sondern um die am andern Ende der Prozesse, welche die große Kausalkette von Krieg und Terror auslöst. Wie zuletzt auf dem Balkan.