Der Weg zum Medizinmann führt mitten durch den Schauplatz eines Massakers. Über holprige Sandwege und Grashügel und vorbei an einer bescheidenen Gedenkstätte. Hier, am Fluss von Wounded Knee, ermordeten im Dezember 1890 amerikanische Soldaten 300 Ureinwohner vom Stamm der Lakota-Sioux.
Schwitzen und Beten
Der Medizinmann heißt Richard Marvin Two Dogs. Er gehört zum Stamm der Oglala-Lakota, die im Pine Ridge-Reservat leben, in der Prärie von South Dakota. Mittendrin in diesem großen Land, mehr als 2.000 Kilometer entfernt von West- und Ost-Küste. An diesem Vormittag trifft man Richard Two Dogs in der Pine Ridge Girls' School, wo Mädchen zwischen 11 und 15 Jahren in der Lakota-Tradition erzogen werden. Wie jede Woche, so gibt es auch heute eine Inipi, eine Schwitzhütten-Zeremonie.
Das ist eine spirituelle Reinigung, erklärt die elfjährige Destiny, mit Gesang und Gebeten. Der Medizinmann ist ein fester und vertrauter Teil der Gemeinschaft im Reservat. Er zelebriert Heilrituale in einer Holzhütte gegenüber der Schule, sagt Destiny. Im Sommer leitet er den Sonnentanz, eine hohe Zeremonie der Lakota.
"Die Armut ist riesig und das System ist bankrott"
Medizinmänner - und ein paar wenige Medizinfrauen - sind die spirituellen Führer unter amerikanischen Ureinwohnern. Seit einiger Zeit haben sie besonders starken Zulauf. Ein Grund: Das Gesundheitssystem in vielen Indianerreservaten befindet sich in einer desolaten Verfassung. Die zuständige Bundesbehörde, der Indian Health Service, ist hoffnungslos unterfinanziert, unterbesetzt und skandalgeplagt. Donald Warne ist Arzt und Medizin-Professor an der Universität von North Dakota. Und gehört selbst zum Stamm der Lakota.
"In den Reservaten in South Dakota ist der Gesundheitszustand der Menschen insgesamt schlecht, die Armut ist riesig, und das System ist bankrott. Wer Dritte-Welt-Bedingungen in der Gesundheitsversorgung studieren will, muss keinen Ozean überqueren, sondern kann sie gleich hier finden, im Herzen der Vereinigten Staaten."
Kein Zufall also, dass die Lebenserwartung eines Reservat-Bewohners in South Dakota etwa 20 Jahre unter der eines durchschnittlichen Amerikaners liegt, sagt Warne.
"Viele Lakota schenken den traditionellen Heilern mehr Vertrauen und Respekt als den Ärzten. Weil Medizinmänner enger mit unserer Kultur verbunden sind."
"Wir sind immer in Bereitschaft"
In der Mädchenschule hat die nächste Klasse begonnen. Richard Two Dogs sitzt vor einem Kamin aus Stein, im Hintergrund spielt die lokale Radiostation Lakota-Musik, und im Tausch gegen ein Tütchen Tabak beginnt der Medizinmann zu erzählen.
"Wir Medizinmänner sind Lehrer, Psychologen, Psychiater, Eheberater und Therapeuten - alles in einem. Wir sind immer in Bereitschaft, Tag und Nacht. Wenn jemand um 3 Uhr morgens an unsere Tür klopft, versuchen wir zu helfen."
Vor allem seien sie spirituelle Heiler, oder: "Übersetzer der Geister", wie Two Dogs sagt. Und als solche hätten sie wenig mit konventionellen Ärzten gemein.
"Nicht jeder kann ein Heiler oder ein Medizinmann sein. Häufig wird die spirituelle Gabe über Generationen weitergereicht. Ich selbst habe sie von meinem Onkel und meinem Großvater bekommen. Von ihnen habe ich auch gelernt, welche Heilwirkungen bestimmte Pflanzen haben und welche Lieder mit welchen Kräutern harmonieren."
"Echte Medizinmänner haben keine Kunden"
Anders als Ärzte verlangen traditionelle Heiler kein Honorar. Sie akzeptieren, was auch immer der Patient ihnen zum Dank geben kann. Doch genau wie bei Schulmedizinern, so gibt es auch unter Medizinmännern Quacksalber und Scharlatane, die Schwerkranken und Sinnsuchenden gegen viel Geld falsche Hoffnung bieten. Two Dogs zuckt mit den Schultern.
"Echte Medizinmänner haben keine Kunden und keine Anhängerschaft. Sie leben einfach unter den Leuten. Die Leute sehen, wenn Menschen geheilt werden. Und wissen deshalb, wer echt ist und wer nicht."
Die Krankheiten in den Reservaten haben sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Früher waren es vor allem Tuberkulose und Alkoholismus. Alkohol ist noch immer ein Problem. Hinzu kommen heute Drogen, besonders Opioide und Crystal Meth. Die Selbstmordrate unter amerikanischen Ureinwohnern liegt weit über dem nationalen Durchschnitt. Ebenso die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes zu erkranken.
Ein ganzheitlicher Ansatz
Seine Heilmethoden seien keine Magie, sagt Two Dogs. Sondern eine Frage der Perspektive. Eine Perspektive, die tief in der leidvollen Geschichte seiner Vorfahren verwurzelt ist.
"Wenn jemand erkrankt, an Diabetes zum Beispiel, dann sollten wir auch immer fragen, ob er vor Kurzem einen nahen Menschen verloren hat, ob er ein schweres Trauma erlitten hat. Nach unserer Lehre drückt sich unbewältigte Trauer in Krankheit aus."
Wer Wunderheilung sucht, soll wegbleiben
Medizinmänner schöpfen ihre Heilkraft aus der Landschaft, in der sie leben, aus der Erde und der Luft, erklärt Two Dogs. Und ihre Methoden greifen in der Regel auch nur bei Menschen, die die Rituale verstehen, wirklich verstehen. Leute, die aus aller Welt anreisen und einen Wunderheiler suchen, sollten sich gar nicht erst auf den Weg machen.
Sein Leben kreise darum, den Lakota zu helfen, sagt er. Und das wenige zu erhalten, was noch übrig sei von der Sprache, den Geschichten, den Ritualen. Er sei nicht rassistisch, wenn er keine Zeit für Menschen aus anderen Kulturen aufbringen wolle und könne. Denn er habe alle Hände voll zu tun mit seinen eigenen Leuten.
Auch im Rosebud-Reservat, etwa zwei Autostunden von Wounded Knee entfernt, suchen immer mehr Menschen Hilfe bei traditionellen Heilern. Darunter auch einige, die in den Großstädten und im Ausland gelebt haben. Leute wie William Bear Shield, Vorsitzender des Gesundheitskomitees der Sioux-Stämme. Er ist Veteran der US-Armee, war Anfang der 90er-Jahre im Golfkrieg.
Er habe mit einer ganzen Reihe von Beschwerden zu kämpfen, sagt er. Posttraumatische Belastungsstörung, Krebs, Arthritis, Rückenprobleme. Bear Shield ist ein großer und kompakter Mann mit einer kargen, fast ruppigen Aura. Ob er jemals selbst einen Medizinmann aufgesucht habe? Ja, er habe mit einigen gesprochen, sagt er. Irgendwie habe er einen Weg finden müssen, um mit seinen Problemen umzugehen. Aber mehr will er nicht erzählen.
Es geht um die Balance
Schulmediziner und Medizinmänner: Das müsse kein Gegensatz sein, sagt Donald Warne, der Arzt und Professor vom Stamm der Lakota. Doch leider seien die Kollegen aus der Schulmedizin oft wenig gewillt, die alten Heilmethoden zu integrieren, sagt er.
"Meine eigene Erfahrung hat mir gezeigt, dass diese beiden Welten durchaus zusammengehen. Traditionelle Heilmethoden haben einen ganzheitlichen Ansatz, da geht es darum, die spirituellen, mentalen, physischen und emotionalen Kräfte in der Balance zu halten."
"Es wird hier immer Medizinmänner geben"
Stammespolitiker Bear Shield ist überzeugt: Wenn Medizinmänner auch offiziell Teil des Gesundheitssystems in den Reservaten würden, ginge es den Menschen dort besser. Aber ihm seien die Hände gebunden, sagt er, weil nicht die Stämme die Krankenhäuser verwalten, sondern der Staat.
In der Pine Ridge Girls' School strömen die Mädchen aus den Klassenzimmern zur Mittagspause. Richard Two Dogs packt seinen Rucksack. Egal, wer die Gesundheitsversorgung in den Reservaten in Zukunft verwalte, sagt er, eines sei sicher:
"Krankheiten und Epidemien werden sich ändern, aber sie werden niemals verschwinden. Manche Leute werden weiter versuchen, unsere Heilmethoden auszulöschen. Doch wird es hier immer Medizinmänner geben. Sie werden bleiben."
Anmerkung der Redaktion: Die Recherchen für diesen Beitrag wurden unterstützt durch ein Holbrooke/IJP-Reisestipendium für Journalisten.