Mangiram steigt aus seinem nagelneuen Range Rover, das Handy am Ohr. Er trägt eine weiße Jeans und putzt sich mit einem Tuch in der freien Hand den Staub von den Lackschuhen. Hier in Nathupur sieht es aus wie in den meisten indischen Kleinstädten und Dörfern: dicht gedrängte kleine Läden mit bunten Plakaten. Davor Müllberge, Rikschas, Menschen und Kühe. Die Häuser haben flache Dächer und vom Monsun angekratzte Wände. Die Straßen sind an vielen Stellen nicht geteert.
Der Bauer und der Immobilienkonzern
Mangiram kennt hier jeden. Er ist so etwas wie der Bürgermeister von Nathupur, einem Dorf, das zum Distrikt Gurgaon gehört. Direkt vor den Toren der indischen Hauptstadt Neu-Delhi:
"Eigentlich war ich Bauer. Mein Vater war auch Bauer. Alle waren entweder Bauern oder bei der Armee, das war damals die einzige Alternative."
Wenn Mangiram von damals spricht, dann meint er die Zeit vor den Wirtschaftsreformen von 1991. Rund um Nathupur beackerten die Bauern ihre Felder, viele noch mit Zugochsen:
"Es gab hier nur sehr wenige Häuser. Aber die Firma DLF hatte hier bereits Land gekauft und plante, die Gegend zu entwickeln."
DLF, das steht für "Delhi Land & Finance". Eine Firma, die vor 1991 in Indien kaum einer kannte, die aber große Pläne hatte. Für Einkaufszentren, moderne Bürotürme und Autobahnen. Alles in Gurgaon. Eine kühne Vision in einem Land, in dem die Wirtschaft fast so sozialistisch organisiert war wie im ehemaligen Ostblock.
Kühne Visionen von 1991
Im Juli 1991 präsentierte Manmohan Singh im indischen Parlament die Haushaltspläne der Regierung. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler mit Abschlüssen von den britischen Elite-Universitäten Cambridge und Oxford war erst seit wenigen Tagen Finanzminister. Manmohan Singh musste nach Wegen suchen, um Indien aus einer gigantischen Schuldenkrise zu führen. Das Land hatte sogar einen Teil seiner nationalen Goldreserven als Pfand nach London ausfliegen müssen. Finanzminister Singh verkündete, dass Indien ausländische Investoren ins Land lassen und bürokratische Hürden abbauen werde. Vorher mussten Firmen buchstäblich für jede einzelne Schraube, die sie importieren wollten, einen Antrag bei der Zentralregierung stellen.
Manmohan Singhs Reformen erlaubten es der Baufirma DLF, Bauer Mangirams Heimatdistrikt Gurgaon zu entwickeln:
"Wir waren arm und verkauften unser Land an DLF. Wir hatten einfach keine andere Möglichkeit. Wir haben für einen halben Hektar 45.000 Rupien bekommen. Mein Gott, jetzt ist das gleiche Stück Land 50 Millionen Rupien wert, das Tausendfache! Wir hätten uns nicht im Ansatz erträumen können, was danach hier passiert ist. So viel Entwicklung. Wir haben hier jetzt eine Cyber City."
Cyber City auf dem ehemaligen Acker
Die Cyber City liegt direkt neben Mangirams Dorf Nathupur. Glasfassaden, Bürotürme, eine Skyline. An den Türmen prangen die Logos von Mitsubishi, der Royal Bank of Scotland, der Wirtschaftsberatungsfirma KPMG, des mächtigen amerikanischen Finanzhauses Blackrock. Auch der Schweizer Konzern Nestlé hat seine Indien-Zentrale hier bauen lassen. Einige hundert Meter weiter, direkt an der achtspurigen Autobahn, residiert Google. Der ehemalige Bauer Mangiram hat zwar kein Land mehr, besitzt aber mindestens 20 Häuser in Nathupur.
Mangiram kassiert stattliche Mieten. Er betreibt auch eine Tankstelle, einen Stein-bruch, der durch den Bauboom gute Profite abwirft, und zusammen mit seinem Sohn Sunil eine Immobilienfirma. Sunil ist ausgerechnet 1991, dem Jahr der Wirtschaftsreformen, zur Welt gekommen. Ihr Heimatdistrikt Gurgaon ist zum Symbol des gigantischen Wandels in Indien geworden.
Die Call-Center-Revolution
Der Mann, der aus Manmohan Singhs Reformen eine echte Revolution gemacht hat, heißt Raman Roy. Auch er ist in Gurgaon zu Hause. Raman hat unter anderem in London studiert. In Indien leistete er danach Pionierarbeit:
"1991 wollte niemand von Indien aus arbeiten. Sie haben uns ausgelacht. Es gab ja keine Handys. Für Telefonate mussten wir immer eine Leitung bestellen. Das war unglaublich teuer. Und nach drei Minuten brach die Leitung zusammen. Meine Chefs sagten mir: Raman, wir können nicht mal drei Minuten mit dir telefonieren. Und du willst in Indien für uns einen Teil unserer Buchhaltung erledigen? Du hast doch einen Knall."
Raman Roy arbeitete damals bei American Express. Er kämpfte für seine Idee.
"Vor den Wirtschaftsreformen bekamen wir hier in Indien einfach keine IBM Computer. Aber American Express konnte nur auf IBM Rechnern arbeiten. Daran wären wir fast gescheitert. Aber wir fanden eine komplizierte Lösung. American Express verdiente ja mit seinen Kreditkarten praktisch dadurch, dass ausländische Besucher Devisen brachten und dass das alles gegen indische Rupien verrechnet wurde. Es war erlaubt, die Gewinne aus diesem Währungstausch für Importe einzusetzen. So konnten wir die ersten IBM Rechner nach Neu-Delhi schaffen. Wir bekamen damals gerade mal 20 Computer."
Junge und ehrgeizige Mitarbeiter
Was Raman Roy außerdem hatte, waren junge, ehrgeizige und vor allem billige Mitarbeiter. Auch die Zeit war auf seiner Seite. Sein Team konnte in Indien immer dann an den Computern sitzen, wenn in den USA gerade Nacht war. Das alles war aus Sicht von American Express derart effizient, dass das Unternehmen tatsächlich Teile seiner Buchhaltung nach Indien auslagerte. Ein zaghafter Anfang, für Raman Roy aber ein Riesenschritt. Mitte der 90er-Jahre nahm Roy sein Team dann mit zu General Electric, damals einer der größten Konzerne weltweit. GE stellte Kühlschränke und Medizintechnik her. In Indien wollte die Finanzdienstleistungs-Sparte von GE einen Teil ihrer Buchhaltung erledigen lassen, ähnlich wie American Express.
Raman Roy sorgte dafür, dass GE ein Bürohaus in Gurgaon bezog:
"All die Hochhäuser hier standen damals noch nicht. Das waren alles Felder. Es gab keine Infrastruktur. Telefonanschlüsse per Kupferkabel. Wir waren also die Ersten, die eine riesige Satellitenschüssel aufs Dach gestellt haben, damit wir mit Amerika sprechen konnten.
Wir haben 18 Stunden am Tag gearbeitet. Es war so ein Rausch, so eine Riesenchance. Alle lieben dich, deine Angestellten, dein Boss in Amerika, deine Firma. Alles Gute dieser Welt kam einfach zu uns, Boni, dicke Autos, teure Urlaube. Alles. Die Eltern meiner Mitarbeiter hatten noch nie ein Flugzeug gesehen. Und wir schickten diese Kids nach Australien zur Fortbildung. Sie waren Helden."
USA-Reise als Erweckungserlebnis
Einer dieser Trips, diesmal in die USA, wurde für Raman Roy selbst zum Erweckungserlebnis:
"Wir haben bei General Electric riesige Call Center gesehen, in denen die Kundenanfragen am Telefon bearbeitet wurden. Das waren riesige Gebäude. Riesige Parkplätze. Du musstest von deinem Auto erst einmal fünf Minuten laufen, bis du den Gebäudeeingang erreicht hattest. Das fanden wir faszinierend. Und wir dachten uns, warum sollten wir das nicht auch machen?"
Junge, gut Englisch sprechende Inder, besser ausgebildet als jeder Call Center Mitarbeiter in den USA und dazu auch noch viel billiger. Das war Raman Roys Idee. Sein Problem: Mit der Riesensatellitenschüssel auf dem Dach ließen sich zwar Telefonate führen, aber nur mit einer langen Verzögerung. Aber Raman Roy besorgte ein paar leistungsstarke Computer, die Stimmpakete noch schneller über den Satelliten schicken konnten. Und er belagerte die Büros des indischen Telekommunikations-Ministeriums. Roy brauchte eine Genehmigung für sein Vorhaben:
"Ich erinnere mich noch, wie ein skeptischer Bürokrat fragte: Wofür brauchen Sie denn das alles? Bauen Sie etwa ein Spionagecenter auf?"
Raman Roy bekam seine Lizenz. Das war 1998.
Hunderttausende Call Center folgen
Raman Roy öffnete also Indiens erstes internationales Call Center. Hunderttausende weitere Call Center für die Kunden von Firmen aus den USA und anderen englischsprachigen Ländern sollten folgen. Kein Wirtschaftszweig in Indien schuf so schnell so viele neue Arbeitsplätze: Mehr als 1,5 Millionen Menschen arbeiten inzwischen in indischen Call Centern. Auch Raman Roy eröffnete schon bald nach seinem Erfolg bei General Electric seine eigene Firma:
"Ich nahm wieder meine 20 Mitstreiter mit, mit denen ich schon bei American Express gearbeitet hatte. Wir hatten nach fünf Jahren 18.000 Angestellte. Wir haben jeden Tag hundert Mitarbeiter eingestellt."
Der indische Call Center Pionier verkaufte seine Firma nach einigen Jahre wieder. Doch anstatt sich mit dem Gewinn zur Ruhe zu setzen, baute Raman Roy ein neues Unternehmen auf, dieselbe Branche, Datenverarbeitung für große Konzerne. Er residiert in einem schicken Glasbau in Gurgaon. Roy ist noch lange nicht fertig mit seinem ganz persönlichen ökonomischen Feldzug.
Auf dem Markt der Wanderarbeiter
Endstation Bara Tooti Chowk in Old Delhi, dem alten Teil der indischen Hauptstadt. Es ist 9 Uhr morgens. Noch immer keine Arbeit. Die Uhr tickt erbarmungslos auf dem Markt der Wanderarbeiter. Hunderte warten hier auf Arbeit. Wird es wieder ein Tag ohne Lohn für Bhagirath?
"Wenn es Arbeit gibt, nehme ich sie an. Wenn nicht, sitze ich hier und warte auf Arbeit. Ich habe nichts gelernt."
So hat sich Bhagirath das Leben in der großen Stadt nicht vorgestellt. Der scheue 21-Jährige ist seit fünf Jahren in Delhi. Er stammt aus einem kleinen Dorf in Bihar, dem ärmsten indischen Bundesstaat. Dort hat er schon als Kind auf ausgelaugten Feldern geschuftet:
"Hier in der Stadt ist alles so schnell. Das war am Anfang schlimm für mich. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. So viele Menschen und Häuser. So viel Lärm und Dreck. So viele Sachen, die man kaufen kann. Ich hatte Heimweh. Meine Mutter hat mir gesagt, dass ich durchhalten muss. Ich hatte oft Angst, dass mich ein Auto überfährt."
Eine Wasserpumpe für 20 Familien
In Bhagiraths Dorf gibt es bis heute keine einzige Toilette. 20 Familien teilen sich eine Wasserpumpe. Das Dorf ist erst seit einem Jahr an das Stromnetz angeschlossen. Fast alle jungen Männer sind Wanderarbeiter wie Bhagirath:
"Meine Familie hatte mehrere Kredite beim Geldverleiher aufgenommen. Mein Vater war sehr krank und brauchte viel Medizin. Ich musste die Schule früh verlassen. Wir haben uns immer mehr Geld geliehen. Am Ende waren es fast 50.000 Rupien, dann starb mein Vater. Ich habe es geschafft, fast alle Schulden zurückzuzahlen. Es fehlen noch 15.000 Rupien."
Der Vater starb an Tuberkulose. Bhagirath und seine Familie haben den Schuldenberg in fünf Jahren von 655 Euro auf knapp 200 Euro schrumpfen können. Der durchschnittliche Monatsverdienst eines männlichen Wanderarbeiters in Delhi liegt bei 80 Euro. Davon müssen Männer wie Bhagirath ihre Miete, ihr Essen, ihre Kleidung und ihre alten Handys bezahlen, mit denen sie Kontakt zu ihren Familien halten.
Boomregion Delhi mit 22 Millionen Menschen
1991 hatte der Stadtstaat Delhi, zu dem die indische Hauptstadt gehört, etwas mehr als 9 Millionen Einwohner. 2001 waren es schon mehr als 13 Millionen. Den letzten Zensus gab es 2011. Danach hatte der Staat Delhi fast 17 Millionen Einwohner. Und zählt man die Satellitenstädte wie Gurgaon dazu, dann sind es sogar fast 22 Millionen.
Die Reformen von 1991 haben nicht nur einen Wirtschaftsboom, sondern auch einen Migrationsboom ausgelöst. Die größten Anziehungspunkte für Arbeitsmigranten sind die Megametropolen Delhi und Mumbai. Der Sog hält an, ohne dass der indische Staat in der Lage ist, für ausreichend Arbeitsplätze zu sorgen. Jeder zweite der 1,3 Milliarden Inder ist jünger als 25 Jahre. Um diesen Menschen eine Perspektive zu bieten, bräuchte Indien 15 Millionen neue Arbeitsplätze pro Jahr.
Aber die wirtschaftliche Öffnung von Manmohan Singh, der zwischen 2004 und 2014 auch indischer Premierminister war, ist stecken geblieben. Weitere einschneidende Reformen wie 1991 blieben bisher aus, während die Bevölkerung rasant wächst.
Nach einer Erhebung der Landesregierung zieht es jedes Jahr mindestens 75.000 neue Wanderarbeiter nach Delhi, das sind 205 pro Tag. Der Stadtstaat stößt an seine Grenzen. Die Slums wuchern, das Wasser wird knapper. Soziale Spannungen nehmen zu. Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Migranten in Delhi sorgen für mehr als 23 Prozent des Bevölkerungswachstums.
Der Bauer und der Traum von Gurgaon
In Nathupur in Gurgaon hat der ehemalige Landwirt Mangiram Besuch in seinem Büro. Ein älteres Ehepaar sorgt sich um sein kleines Anwesen, denn davor lagern Schutt und Stahl, Überreste aus Mangirams Bauprojekten. Es wird so viel gebaut in Gurgaon, dass Mangiram kaum noch nachkommt in seinen Steinbrüchen. Das Paar möchte, dass Mangiram den Schutt endlich wegräumt.
Mangiram schmeichelt dem Pärchen, er verteilt Komplimente und süßen Tee. Etwas verlegen sitzen die beiden da. In Nathupur, diesem Dorf inmitten der Glastürme von Gurgaon, kommt an Mangiram niemand vorbei:
"Für mich ist Gurgaon ein einziger Traum, der wahr geworden ist. Die S-Bahn, die Schnellbahn, die neue 16-spurige Autobahn, die sie bauen. Einfach perfekt."
Die Nöte der alten Einwohner wie die des Paares auf der Couch in seinem Büro erwähnt Mangiram nicht. Er sieht nur die Wohlstandsoase Gurgaon. Das ist der indische Kapitalismus. Ungehemmt und radikal. Mangiram, der ehemalige Bauer ohne Schulabschluss, gehört zu den Gewinnern.