Die Nationalhymne Indiens wurde in der Geschichte der Olympischen Sommerspiele selten gespielt: neun Mal. Das sind genauso viele Goldmedaillen wie beispielsweise Südkorea allein bei den Spielen von Rio geholt hat. Die liefen aus indischer Sicht enttäuschend, einmal Silber, einmal Bronze. Damit liegt das Land mit der zweitgrößten Bevölkerung der Erde nur auf Rang 50 im historischen Medaillenspiegel.
Strategie und Zugänge zum Sport fehlen
Eine der Ursachen sei die schlechte Talentförderung, sagt der indische Sozialwissenschaftler Balbir Singh Aulakh: "In Deutschland wurde nach den schlechten Ergebnissen des Fußballnationalteams Anfang des Jahrtausends das Nachwuchssystem umgebaut. Das erforderte eine langfristige Planung – vor allem für die Talententwicklung an der Basis. In Indien fehlt eine solche Strategie."
Parallelen zu Westeuropa lassen sich nur bedingt ziehen. Von der Fläche ist Indien etwa neunmal so groß wie Deutschland. Die Einwohnerzahl ist 16 Mal höher. Rund ein Drittel der indischen Bevölkerung lebt in Armut. Für sehr viele Menschen ist Sport ein Luxusgut. Eine Beschäftigung in der Freizeit, die sie kaum haben. Auch die Zugänge innerhalb der sozialen Klassengesellschaft spielen eine wichtige Rolle, erläutert Balbir Singh Aulakh: "Im Mumbai gibt es abgeschottete Wohnviertel für Wohlhabende. Es gibt Mittelklasse-Gegenden und Slums. Begegnungen zwischen diesen Gruppen finden kaum statt. Der physische Platz für Sport ist gering. Es ist es schwer, überregionale Sportgemeinschaften zu entwickeln. Sport ist eine Aufgabe der lokalen Behörden."
Hinzu kommt: Eine nationale Strategie wird durch die Bürokratie erschwert. Indien hat 28 Bundesstaaten und über 600 Distrikte. Darunter bestehen weitere Verwaltungsebenen. Die lokalen Behörden bewerben Sport selten als Gesundheitsvorsorge oder Integration.
Indiens Milliardäre mischen international kaum mit
Im alles überstrahlenden Kricket wird deutlich: Sport gilt für viele Menschen als Unterhaltung, die man im Fernsehen konsumiert. Nicht als zentrales Hobby oder als Möglichkeit, der Armut zu entkommen, sagt die indische Sportjournalistin Sharda Ugra: "Der indische Markt ist sehr groß. Mehr als 600 Millionen Menschen besitzen ein Handy, auf dem sie theoretisch Spiele verfolgen könnten. Trotzdem überlegen sich indische Unternehmer fünfmal, ob sie als Sponsoren in den Sport einsteigen sollten. Denn die Verbandsstrukturen sind wirklich schlecht."
Im Spitzensport gelten Russland, China und die Golfstaaten als geopolitische Schaltzentralen der Zukunft. Indien mischt kaum mit. Obwohl das Kapital vorhanden wäre: In Indien leben laut dem US-Magazin Forbes 140 Milliardäre. Doch es gibt Ausnahmen: In der nordamerikanischen Basketballliga NBA ist der indisch-stämmige Softwareunternehmer Vivek Ranadivé Mehrheitseigner der Sacramento Kings. In der Rennsportserie Formel E ist mit Mahindra Racing ein Team aus Mumbai vertreten.
Und im Fußball? "In Indien hat Fußball eine längere Geschichte als Kricket. In den Siebziger Jahren haben Stars wie Pelé hier an Turnieren teilgenommen, doch das ist Geschichte", erklärt Sportjournalistin Ugra. "In den vergangenen Jahren haben europäische Klubs wie Manchester United auch in Indien Station gemacht. Aber langfristige Partnerschaften sind nicht entstanden. Die meisten Stadien gehören dem Staat. Und die lokalen Fußballverbände werden miserabel geführt. Niemand möchte etwas mit diesen Leuten zu tun haben."
Sportklubs werden wie Unterhaltungsmarken geführt
Das liegt auch daran, dass etliche erfolgreiche Klubs in Kricket oder Fußball wie Unterhaltungsmarken geführt werden durch Unternehmer, ehemalige Spieler oder Bollywood-Größen. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass die City Football Group 2019 einen Verein in Mumbai erworben hat. Die Investorengruppe aus den Vereinigten Arabischen Emiraten möchte ein internationales Fußballnetzwerk knüpfen, für Talentförderung, Geopolitik und Handelsbeziehungen.
Für Olympia ist aber noch einmal etwas ganz anderes gefordert. "Indien hat sich in den Achtziger Jahren um die Austragung der Olympischen Spiele beworben und ist gescheitert", erinnert der indische Historiker Kausik Bandyopadhyay. "Für einen neuen Anlauf muss Indien viel größer denken. Olympia könnte ein wichtiger Impuls für die Wirtschaft sein. Aber wie andere Beispiele zeigen: Olympia kann auch zu einem finanziellen Debakel führen. Indien muss langfristig planen, aber das war hier noch nie der Fall."
2012 hat das IOC das Nationale Olympische Komitee Indiens vorübergehend suspendiert, wegen Einmischung aus der Politik. 2016 reiste der indische Sportminister mit einer Delegation zu den Sommerspielen nach Rio, ohne Akkreditierung. Es kam zu einem Konflikt mit Sicherheitspersonal. Nun in Tokio möchte das indische Team wieder Goldmedaillen für sich sprechen lassen. Es wären die ersten seit 2008.