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Indien
Ein Mann für Wunder

Auf dem indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi, der nun seit hundert Tagen im Amt ist, ruhen große Hoffnungen. Aus ganz einfachen Verhältnissen schaffte er bis ganz nach oben. Auf große Reformen hat er aber bislang trotz drängender Probleme verzichtet.

Von Sandra Petersmann und Jürgen Webermann |
    Narendra Modi begrüßt seine Anhänger in Gujarat, Indien.
    Narendra Modi hat mit seiner hindu-nationalistischen Partei BJP die Wahlen in Indien gewonnen. (Picture Alliance / dpa / EPA / Divyakant Solanki)
    Im verschlafenen Tempelstädtchen Vadnagar trotten die heiligen Kühe gemächlich durch die engen Gassen. Junge Männer hocken mitten am Tag in Gruppen zusammen und spielen Karten. Das Leben plätschert dahin - entrückt vom Lärm und Stress einer indischen Großstadt.
    Vadnagar mit seinen bunten, zweigeschossigen Steinhäusern liegt im westindischen Bundesstaat Gujarat und hat heute knapp 30.000 Einwohner. Hier hat Indiens 15. Premierminister Narendra Modi seine Wurzeln. Hier kam er im September 1950 zur Welt. Die meisten Menschen sind stolz auf den berühmtesten Sohn ihrer Stadt. Viele trauen ihm wahre Wunder zu.
    "Modi wird aus Indien die Nummer 1 der Welt machen. Er will ein Indien, das so entwickelt ist wie die USA und Japan. Sein Schicksal war vorbestimmt. Er stammt aus ganz einfachen Verhältnissen, und jetzt ist er ein so wichtiger Mann."
    "Ich halte ihn für einen großartigen Mann. Das sehen auch viele Menschen in anderen Teilen Indiens so. Sie haben ihn gewählt, weil er ein ehrlicher und harter Arbeiter ist. Er macht das nicht für Geld. Modi würde für Indien sterben. Er ist unbestechlich."
    Als Schüler im Debattier-Klub
    Modis Vater betrieb einen Teestand am Bahnhof von Vadnagar, Sohn Narendra musste oft mit anpacken - vor der Schule und nach der Schule. Sein ehemaliger Lehrer Prahlad Patel erinnert sich an einen aufgeweckten Jungen. Er zeigt stolz auf ein Foto mit Goldrahmen. Der Schnappschuss hält den Moment fest, in dem sich Narendra Modi vor ein paar Jahren bei seinem Lehrer bedankte.
    "Narendra war sehr aufmerksam. Er interessierte sich besonders für Debatten und für die Theater-AG. Er war auch ein guter Sportler. Ich bin stolz auf ihn. Er ist ein fähiger Mann. Ich weiß nichts über das politische Geschäft. Aber ich weiß, dass er ein großartiger Redner ist. Als Schüler hat er an jeder Veranstaltung meines Debattier-Klubs teilgenommen."
    "Ihr müsst mit Jassud sprechen", sagt der alte Lehrer zum Abschied und weist den Weg durch die engen Gassen der Tempelstadt. Jassud Pathan war einer der besten Jugendfreunde des heutigen indischen Premierministers. Die Beiden gingen elf Jahre lang zusammen zur Schule. Ihre Wege trennten sich erst, als sie erwachsen wurden. Jassud wurde Bankangestellter, heute ist er pensioniert. Er schreibt seinem alten Freund noch immer regelmäßig Briefe - per Hand. Es sind Briefe über Korruption, Armut und über die marode indische Infrastruktur. Eine Antwort hat er nie bekommen.
    Der pensionierte Bankangestellte Jassud Pathan ging elf Jahre gemeinsam mit Narendra Modi zur Schule.
    Der pensionierte Bankangestellte Jassud Pathan ging elf Jahre gemeinsam mit Narendra Modi zur Schule. (S. Petersmann / J. Webermann / Deutschlandradio)
    Zuvor Regierungschef im Staat Gujarat
    "Ich finde es schade, dass Narendra für mich so unnahbar geworden ist. Ich habe ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob meine Nachrichten ihn überhaupt erreichen. Er wird sie wohl nur bekommen, wenn sein Sekretär sie weiterreicht."
    Modi verließ Vadnagar mit knapp 18 Jahren, ohne zurückzublicken. Er flüchtete damals vor einer Ehe, die seine Eltern für ihn arrangiert hatten. Sein einziges Bindeglied zu seinem Heimatort ist heute sein ältester Bruder Sombhai. Sombhai, bald 70, betreibt in Vadnagar ein Altenheim. Die Brüder sind sich sehr ähnlich. Beide haben einen auffallend breiten Brustkorb, aus dem eine volle Stimme dröhnt.
    "Mein Bruder Narendra ist ein sehr emotionaler Mann. Er ist höflich, zuvorkommend, und er kann andere nicht leiden sehen. Er hat sein Leben seinem Land gewidmet. Er lebt nur für seine Nation."
    Von 2001 bis zur Wahl 2014 war Narendra Modi Regierungschef im wirtschaftlich erfolgreichen Bundesstaat Gujarat. Als er erst wenige Monate im Amt war, brachen schwere Unruhen zwischen Hindus und Muslimen aus. Mehr als 1200 Menschen verloren damals ihr Leben, überwiegend Muslime. Bis heute gibt es den Vorwurf, dass der gläubige Hindu Modi den mordenden Hindu-Mob in Gujarat wüten ließ. International war es deswegen rund zehn Jahre lang isoliert.
    Der indische Premierminister bestreitet, für die Gewalt von 2002 verantwortlich zu sein. Mohammed Bhai, ein junger muslimischer Schmied, zuckt mit den Schultern. Er musste als Kind das Blutbad mit ansehen. Er sah, wie Menschen bei lebendigem Leib verbrannten.
    Der Optimismus kennt kaum Grenzen
    "Modi steht jetzt an der Spitze der Regierung, das Land gehört ihm. Wir Muslime können nichts mehr gegen ihn sagen. Modi wird sich entscheiden müssen, ob er die Reichen reicher machen will oder ob er den Armen helfen will. Ich denke, er wird sich für die Reichen entscheiden. Die Mehrheit der Muslime ist arm. Er ist gegen uns. Wir Muslime existieren für ihn nicht."
    Das sehen sie in den Zentralen der indischen Wirtschaft ganz anders, zum Beispiel im reichen Gurgaon, einer Satellitenstadt bei Neu-Delhi. Die großen Werkshallen der Firma Jumps Industries sind heraus geputzt. Arbeiter stehen an Schweißmaschinen, in einem anderen Abschnitt verpacken sie Anlasser für Autos und Armaturen.
    "So wie auf diesen Paletten gehen die Produkte dann raus, nach Europa oder den USA. Hier ist zum Beispiel ein Einzelteil für einen Traktor. Der geht nach Frankreich. Traktoren gehen immer. Denn Essen müssen wir ja egal, ob Krise ist, oder nicht."
    Sanjay Malhotra zeigt stolz den Betrieb, den er aufgebaut hat. Sanjay ist Mitte 40, seine Firma Jumps beliefert die Autoindustrie - Jumps ist ein klassisches mittelständisches Unternehmen mit 200 Beschäftigten.
    "Wir haben uns bisher auf den Export konzentrieren müssen, weil es in Indien nicht gut lief. Die Konjunktur wird aber bald hier anziehen, und davon werden wir profitieren. Unser Ziel ist 200 Prozent mehr Geschäft auf dem indischen Markt."
    200 Prozent Wachstum. Bei Sanjay Malhotra kennt der Optimismus seit der Verkündung der Wahlergebnisse Mitte Mai keine Grenzen.
    Indien für ausländische Investoren öffnen
    "Erstens wird Modis Amtszeit Wachstum versprechen. Zweitens werden wir durch das Wachstum mehr Autos verkaufen, was gut ist für meine Firma. Und drittens, glaube ich, dass Modi die Korruption genau so bekämpfen wird wie er es in seinem Heimatstaat Gujarat getan hat."
    Vor rund einem Jahr schien sich die indische Wirtschaft noch im Zustand der Panik zu befinden. Die Inflationsrate stieg. Die Rupie brach jeden Tag ein wenig mehr ein. All dies plus die überbordende Korruption führte letztlich zu Modis großem Wahlsieg. Die Menschen hatten die Nase voll von der Kongresspartei, die seit zehn Jahren regierte. Und Modi galt als derjenige, der aus seinem Heimatstaat Gujarat ein beliebtes Ziel für Investoren gemacht hat.
    Große Reformen hat er als Regierungschef aber noch nicht angekündigt. Modi will das Land ein bisschen mehr für ausländische Investoren öffnen. Er hat ihnen mehr Rechtssicherheit versprochen, um Vertrauen zu gewinnen. Aber das war es auch schon. Sanjay Malhotara stört der zögerliche Start nicht.
    "Naja, es ist noch etwas früh, über die neue Regierung zu urteilen. Aber sie haben noch keine Fehler begangen. Das finde ich gut. Die letzte Regierung hat die Wirtschaft in einem ziemlich schwierigen Zustand hinterlassen. Das muss die Regierung jetzt ändern, und deshalb geht sie eher vorsichtig vor."
    Die Erwartungen sind beängstigend hoch
    Im Winter, glaubt Sanjay, wird Modi seine großen Reformen ankündigen. Wachstum gleich Jobs gleich weniger Armut, dafür steht der neue Premierminister. Aber kann diese einfache Formel aufgehen? Dafür müssten vor allem Mittelständler wie Sanjay Malhotra neue Jobs schaffen. Auf die Frage danach, ob er in Arbeitsplätze investieren will, gibt Malhotra eine klare Antwort:
    "Arbeitsplätze? Nein. Wir werden mehr Maschinen kaufen."
    Sanjay überlegt daraufhin kurz. Vielleicht ist da doch ein Haken. Ihm kommt Barack Obama in den Sinn, von dem zu viele Menschen zu viel erwartet haben. So etwas, meint Sanjay, könnte Narendra Modi auch passieren.
    "Ja, die Erwartungen sind beängstigend hoch. Die Leute glauben, dass Modi ein Zauberer ist, ein Messias. Aber die Erwartungen kann er nicht erfüllen. Das ist ein großes Risiko."
    Wie groß die Herausforderungen für Modi tatsächlich sind, das zeigt sich nicht in den Glastürmen und in den klimatisierten Chefbüros, sondern vor allem auf dem Land, wo die meisten Inder leben. Zum Beispiel im Dorf Soda in Rajasthan, dem Zuhause von 7000 Menschen.
    Chhavi Rajawat passt auf den ersten Blick nicht so ganz hierher. Sie trägt türkisfarbene Sportschuhe, eine weiße Hose, darüber ein langes, blau-weißes Hemd und eine lässige Sonnenbrille. Chhavi springt über eine breite Pfütze, der Monsunregen hat einen staubigen Weg unter Wasser gesetzt. Eine alte Frau und ein junger Mann beklagen sich bitter.
    Eine ehrliche Bürgermeisterin mit vielen Feinden
    Ein paar Minuten diskutiert Chhavi mit der Alten. Dann erklärt sie das Problem.
    "Wir haben dort drüben die Straße ausgebessert, weil die früher immer unter Wasser stand. Jetzt will sie, dass wir auch den Weg hier ausbessern. Ich habe sie gebeten, geduldig zu sein. Wir brauchen Geld für den Ausbau. Aber das fehlt uns."
    Chhavi ist Bürgermeisterin von Soda, sie stammt aus einer einflussreichen Familie. Vor vier Jahren hat sie ihren gut bezahlten Job in einem Mobilfunk-Unternehmen aufgegeben, Chhavi war damals 33 Jahre alt. Jetzt erhält sie 40 Euro pro Monat, ein mickriges Gehalt für einen Posten, der nervenaufreibender kaum sein kann.
    Chhavi führt zu einem einfachen Rohbau an einem Wasserreservoir. Arbeiter haben gerade das Dach fertiggestellt. Dies soll ein Regierungsgebäude werden. Hier soll eines Tages ein Beamter sitzen, der Arbeiter aus der Staatskasse bezahlt, wenn sie zum Beispiel Dorfstraßen ausbauen. So will es die Regierung in Neu-Delhi. Chhavi soll den Beschluss eigentlich nur umsetzen. Aber sie und ihr Vater haben dies vor wenigen Wochen um ein Haar mit ihrem Leben bezahlt.
    Die Bürgermeisterin des indischen Dorfes Soda, Chhavi Rajawat (r), gab für ihr Amt einen gutbezahlten Job auf.
    Die Bürgermeisterin des indischen Dorfes Soda, Chhavi Rajawat (r), gab für ihr Amt einen gutbezahlten Job auf. (S. Petersmann / J. Webermann / Deutschlandradio)
    Der Mordversuch ereignete sich an einem Sonntag. Es war der 6. Juli. Chhavi und ihr Vater wollten den Fortschritt am Bau kontrollieren.
    "Es waren fünf Frauen und drei Männer. Sie griffen meinen Sekretär mit einer Axt an, er konnte das aber abwehren. Mein Vater war hier, weil er mich berät. Er wurde angegriffen und von einem Stein getroffen. Er sank bewusstlos zu Boden. Dann griffen sie mich an. Die Polizeistation ist nur fünf Minuten entfernt. Aber die Polizei ist nicht eingeschritten."
    Bei dem Angriff trug Chhavi blaue Flecken davon, ihr Vater kam mit einem Kieferbruch und einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Chhavi ist davon überzeugt, dass die Angreifer angestachelt wurden - von Politikern, die befürchten, dass die junge Bürgermeisterin selber in die große Politik gehen könnte. Oder von ihrem Vorgänger, dem sie Korruption vorwirft. Chhavi will eine ehrliche Bürgermeisterin sein. Aber damit hat sie sich mächtige Feinde geschaffen.
    Nicht nur wegen des kleinen Verwaltungsgebäudes muss Chhavi stets mit allen Mitteln kämpfen. Sie erzählt mehrere Stunden lang von Vorhaben, die stocken, von immer neuen Steinen, die ihr in den Weg gelegt werden. Sogar, wenn es um das wichtigste und sehr rare Gut für die Menschen in Soda geht: ums Wasser.
    Ein Damm mit der Hilfe von Coca-Cola
    "Wir sind abhängig von den höheren Behörden. Was uns bleibt, ist mit den Dorfbewohnern zu beschließen, was wichtig für uns ist. Für Soda waren das Projekte wie der Ausbau der Bewässerungssysteme. Also habe ich versucht, das den höheren Behörden klar zu machen. Das Geld floss dann aber für einen Kindergarten, den wir nicht benötigen. Wir haben viele Vorhaben nicht umsetzen können, weil es den Distrikt-Beamten, die die Anträge oder bewilligtes Geld weiter leiten sollen, einfach egal war."
    Chhavi steht auf einem Erdwall am Rande eines der Wasserbecken. Vor wenigen Jahren, als es den Wall noch nicht gab, hatte ein heftiger Monsunregen große Überschwemmungen verursacht und viele Lehmhäuser in Soda einstürzen lassen. Der Damm soll das Dorf schützen.
    "Jede Familie wollte sogar freiwillig arbeiten. Aber die Ingenieure der Regierung sagten, dass der Aushub des Reservoirs und der Dammbau ohne schwere Maschinen nicht möglich sind."
    Die Regierung in Neu-Delhi gibt Geld für solche Projekte aber nur frei, wenn ausschließlich Dorfbewohner im Einsatz sind und nicht schwere Maschinen. So wollte die alte, abgewählte Kongress-Regierung Arbeitsplätze für die arme Landbevölkerung schaffen. Chhavi hatte genug von dem Irrsinn, sie wollte einfach nur eine neue Flutkatastrophe vermeiden. Also sammelte sie in den großen Städten private Spenden. Am Ende bezahlte der Coca-Cola-Konzern den Großteil des Geldes für den Bau des Dammes.
    Manchmal fragt sich Chhavi, wie es um die Millionen Dörfer steht, die keine gebildete und gut vernetzte Bürgermeisterin haben. Die Folgen der ländlichen Vernachlässigung zeigen sich jeden Tag – in den Armenvierteln der großen Städte. Hierher ziehen Millionen junge Menschen, die in ihren Dörfern keine Perspektive mehr sehen.
    Arbeit, egal welche
    Endstation für viele ist Bara Tooti Chowk in der Altstadt von Neu Delhi: Mehrere Hundert Männer stehen am frühen Morgen dicht gedrängt in einer Schlange. So haben sie sich das Leben in der Stadt nicht vorgestellt.
    Die Männer warten auf dem Tagelöhnermarkt mit knurrendem Magen auf Arbeit. Auf dem Bau oder auf dem Großmarkt. Ganz egal, Hauptsache Arbeit. Shahid hat schon seit Tagen keinen einzigen Cent mehr verdient. Heute würde er für 100 Rupien arbeiten – für etwas mehr als einen Euro.
    "Als Tagelöhner findest du eben nicht jeden Tag Arbeit. Ich schaffe es zurzeit ein bis zweimal in der Woche. Ich sitze hier und warte solange ich kann. Und wenn keiner kommt, lege ich mich schlafen."
    Shahid und seine Freunde leben schon seit Wochen auf der Straße. Sie konnten die Miete für ihr winziges Zimmer nicht mehr bezahlen. Ihr ganzes Leben spielt sich rund um den Bara Tooti Chowk ab. Die meisten Männer haben ihre Familien in ihren Heimatdörfern zurückgelassen. Es wird erwartet, dass sie Geld nach Hause schicken.
    "Wir vertrauen keiner Regierung mehr. Was tut die Regierung denn für Menschen wie uns? Wieso bekämpft sie nicht die Korruption und die Macht der reichen Mafiabosse?"
    Ohne Lohn von der Baustelle gejagt
    Der Markt der Tagelöhner in Delhi spiegelt eine nationale Entwicklung wider: Die Bevölkerung ist extrem jung und wächst schnell. Gleichzeitig entwickelt sich Indien von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Doch die indischen Boomjahre haben in den Städten nicht genug Arbeitsplätze geschaffen. Fast 90 Prozent aller indischen Arbeitskräfte schuften im informellen Sektor. Ohne Schutz. Ohne Krankenversicherung. Ohne Arbeitnehmerrechte.
    "Wenn auf der Baustelle ein Unfall passiert, dann bist du geliefert. Und wenn du stirbst, dann bist du nicht mehr wert als ein toter Straßenköter. Es gibt kein System. Jeder kann uns ausbeuten."
    Nawabs linker Arm hängt schlaff in einer dreckigen Schlinge, die er aus einem alten Stück Stoff zusammengeknotet hat. Er ist vor ein paar Tagen von einem Baugerüst gefallen. Arm und Schulter sind mit Blutergüssen übersät. Die Hand ist geschwollen, vielleicht ist etwas gebrochen, doch Nawab war nicht beim Arzt. Er sagt, dass er es sich nicht leisten kann, morgens in der Schlange zu fehlen. Er muss vier Kinder ernähren. Sein letzter Auftraggeber jagte ihn nach dem Unfall ohne Lohn von der Baustelle.
    Bara Tooti Chowk in der Altstadt von Neu-Delhi: Männer warten auf dem Tagelöhner-Markt auf Auftraggeber.
    Bara Tooti Chowk in der Altstadt von Neu-Delhi: Männer warten auf dem Tagelöhner-Markt auf Auftraggeber. (S. Petersmann / J. Webermann / Deutschlandradio)
    Die indische Hauptstadt Neu Delhi und ihr Hinterland sind heute mit rund 22 Millionen Einwohnern das zweitgrößte Ballungsgebiet der Welt - nach Tokio. Delhis Bevölkerung wächst jährlich um drei Prozent. Viele Neuankömmlinge aber sind entweder gar nicht oder nur für ein paar Jahre zur Schule gegangen.
    Die Baubranche boomt nicht mehr
    Plötzlich werden die Männer unruhig. Zwei Arbeitgeber sind vorgefahren und wollen drei Leute anheuern. Sie suchen Lastenschlepper für eine Baustelle. Einer der Auftraggeber untersucht Schultern, Hände, Füße und Zähne. Die Männer müssen ihn auch anhauchen. Die, die nach Alkohol riechen, schickt er sofort weg. Von Modi ist der Auftraggeber enttäuscht:
    "Modi hat allen eine bessere Zukunft versprochen. Aber davon merken wir in der Baubranche nichts. Der Markt boomt nicht mehr so wie früher, und die Tagelöhner stehen sich die Beine in den Bauch. Vor ein paar Jahren konnten wir hier gar nicht genug Arbeiter finden. Wenn die Wirtschaft sich auch nur ein bisschen erholen würde, dann würden diese Männer hier nicht arbeitslos stehen."
    Der verletzte Nawab geht leer aus. Es ist der vierte Tag ohne Arbeit und ohne Geld.
    Indiens Premierminister Narendra Modi hat sich in seiner Startphase weder als radikaler Hindu-Nationalist noch als radikaler Wirtschaftsreformer präsentiert. Befürchtungen sind nicht eingetreten aber Hoffnungen bisher ausgeblieben. Und niemand weiß, wie viel Geduld vor allem die vielen jungen Menschen in Indien mit Modi haben werden.