Die Schüler tragen weiße Gewänder und weiße Kappen auf dem Kopf. Sie sitzen auf dem Boden, vor ihnen steht eine kleine Holzbank, auf der der Koran in arabischer Sprache liegt. Die Schüler lernen ihn auswendig. Alle wiegen dabei ihren Oberkörper vor und zurück.
Derzeit besuchen mehr als 4000 Jungen und junge Männer die berühmte islamische Hochschule "Darul Uloom" in der staubigen Kleinstadt Deoband im Norden Indiens. Sie gehört zu den weltweit führenden konservativen theologischen Zentren des Islam. Die Lehre, die von hier ausgeht, heißt Deobandismus, ihre Anhänger heißen Deobandis.
In einem Klassenzimmer fehlt der Lehrer. Die Jungs studieren die Reporterin aus Deutschland neugierig. Frauen bekommen die Schüler von "Darul Uloom" nur selten zu sehen. Und wenn, dann sind sie vollverschleiert. Sie tragen entweder eine schwarze Burka mit Augengittern oder einen Niqab, der einen schmalen, offenen Sehschlitz lässt.
Mohamadullah Qasmi war früher Schüler in Deoband. Heute leitet der 38-Jährige die Abteilung für Online-Fatwa. Eine Fatwa ist eine islamische Rechtsauskunft, um religiöse und rechtliche Probleme zu klären. Pro Jahr kämen rund 10.000 Online-Anfragen aus aller Welt, erzählt Mohamadullah stolz. Auf die Frage, was für ihn den Kern des Deobandismus ausmacht, antwortet er selbstbewusst.
"Das Denken ist unverfälscht. Der Islam und seine Lehre waren in vielerlei Hinsicht verschmutzt. Hier in Indien wurden die Muslime zum Beispiel durch hinduistische Traditionen und durch die britischen Kolonialherren beeinflusst. In Deoband entstand deswegen eine puristische Bewegung, um den Islam von den unislamischen Einflüssen zu befreien, die in ihn eingedrungen waren. Wir sind zur wahren Essenz des Islam zurückgekehrt. Und das ist die Nähe zu Gott."
Schule des moderaten Islam?
Der Muezzin ruft zum Abendgebet. Deoband, die unscheinbare Kleinstadt im Norden Indiens, hat rund 100.000 Einwohner. Etwa 60 Prozent sind Muslime, der Rest Hindus. Die Stadt ist nicht für religiöse Konflikte bekannt. Der weißbärtige Mufti Abdul Qasim Nomani ist für das Tagesgeschäft der Koranschule verantwortlich.
"Wir sind sehr vernünftige Menschen. Ich betone es immer wieder: unsere islamische Lehre hier in Deoband ist moderat. Der Islam lehrt uns Frieden, in Deoband lernt niemand zu kämpfen. Wir folgen nur dem Kern unserer Religion, wir kämpfen nicht."
Doch nach jedem Terroranschlag in Indien gibt es Versuche, in Deoband nach Spuren zu suchen. Rechte, Hindu-nationalistische Politiker setzen die ultrakonservative Lehre der Deobandis mit Extremismus gleich. Bislang hat noch kein indischer Geheimdienst einen Beleg dafür gefunden. Mufti Nomani fühlt sich durch den ständigen Generalverdacht gekränkt.
"In den USA, in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland sind die meisten Bürger Christen. Richtig? Wenn einer von ihnen in der Welt Schaden anrichtet, sagt ihr dann, dass das ganze Christentum Schuld an dem Verbrechen ist? Oder behauptet ihr dann, dass das Christentum den Kampf lehrt? Nein, das tut ihr nicht! Dann geht es in euren Argumenten um einen verirrten Einzeltäter oder um Politik. Aber sobald es um den Bürger eines muslimischen Landes geht, ist es immer nur eine Frage der Religion."
Bekenntnis zur säkularen indischen Demokratie
Die Deobandis waren Teil des Befreiungskampfes gegen die britischen Kolonialherren. Man habe gemeinsam mit Mahatma Gandhi versucht, die Aufspaltung Indiens und die Staatsgründung der Islamischen Republik Pakistan zu verhindern, betont Mufti Nomani. Man bekenne sich zur säkularen indischen Demokratie.
"Hier in Indien leben wir alle ganz überwiegend friedlich zusammen. Die Situation ist unter Kontrolle, weil wir in einer Demokratie leben. Dieses demokratische Fundament haben wir uns alle gemeinsam erarbeitet. Unser System basiert nicht auf der Religion wie in anderen Ländern."
Die orthodoxe, sunnitische Theologie aus Deoband strahlt in die Welt aus. In Afghanistan und Pakistan gelten Koranschulen, die der Lehre des puristischen Deobandismus folgen, als Hochburgen der Taliban. Mullah Omar, der Gründer der afghanischen Taliban-Bewegung, war auch ein Deobandi. In Afghanistan und Pakistan sprengen sich Deobandis als Selbstmörder in die Luft, um Fremde und Andersgläubige zu töten. Doch Mufti Nomani spricht nicht gerne über die Politisierung und Zersplitterung des Islam. Er wittert Stolperfallen und bricht schnell zu einem neuen Termin auf.
Draußen, in der schmalen Marktstraße außerhalb der Mauern, kaufen ein paar Koranschüler im Teenager-Alter, denen gerade der erste Flaum wächst, an einem Holzverschlag dicke Wollsocken für den Winter. Eine Kuh, heilig für Indiens Hindus, wühlt nebenan in einem Abfallberg. Die Jungs sind sofort zum Gespräch bereit. Sie sagen, dass sie Mullahs werden wollen, um die Botschaft des Friedens zu verbreiten.
"Diejenigen, die behaupten, dass Muslime Terroristen sind, sind selber Terroristen. Sie machen aus Muslimen Terroristen, weil sie ihre Religion beleidigen. Es gibt Menschen, die ihre Religion lieben. Und wenn du etwas Schlechtes über ihre Religion sagst, kocht ihr Blut, weil du ihre Gefühle verletzt."
"Diejenigen, die behaupten, dass Muslime Terroristen sind, sind selber Terroristen. Sie machen aus Muslimen Terroristen, weil sie ihre Religion beleidigen. Es gibt Menschen, die ihre Religion lieben. Und wenn du etwas Schlechtes über ihre Religion sagst, kocht ihr Blut, weil du ihre Gefühle verletzt."
"Wenn jemand Deoband liebt, dann ist er herzlich willkommen. Auch Mullah Omar darf Deoband lieben. Ob er richtig oder falsch gehandelt hat, kann ich nicht sagen. Darüber weiß ich zu wenig."
Dann mischt sich ein älterer Herr ein, dem es nicht gefällt, dass die beiden jungen Koranschüler mit einer westlichen Journalistin sprechen. Er jagt sie weg und behauptet, nichts mit der Schule zu tun zu haben. Sein Vorwurf: wenn die beiden Jungs etwas Falsches sagten, heiße es morgen sofort wieder: Deoband sei eine Kaderschmiede des Terrors. Doch die 150 Jahre alte islamische Hochschule "Darul Uloom" im Norden Indiens kann sich im Zeitalter des globalisierten Jihad nicht aus der Diskussion ausklinken, so sehr sie auch versucht, sich immer tiefer hinter die Mauer des alten Stadtkerns von Deoband zurückzuziehen.