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Indien
Mädchen unerwünscht

Wenn eine Frau in Indien mit einem Mädchen schwanger ist, führt das oft zu gravierenden Problemen. Weil viele Männer sich aus gesellschaftlichen Gründen einen Jungen wünschen, werden pro Jahr zwei Millionen Mädchen entweder abgetrieben, nach der Geburt ermordet - oder sie sterben an Vernachlässigung.

Von Jürgen Webermann |
    Ein Familie mit Esel, unterwegs auf einer Straße in Udaipur, Rajasthan
    Weil für Mädchen bei der Hochzeit oft eine Mitgift fällig ist, kommt es in vielen Familien bei der Geburt eines Mädchens zu gravierenden Zerwürfnissen. Im Bild: Eine Familie in Udaipur, Westindien (imago)
    Prema streichelt ihrer Tochter Kajal sanft über die Haare. Die Elfjährige ist gerade mit ihrer älteren Schwester Pooja von der Schule heim gekommen.
    "Als Pooja geboren wurde, haben sich noch alle gefreut. Während der zweiten Schwangerschaft sagten alle: Du bekommst diesmal einen Sohn. Aber es war wieder eine Tochter. Das machte meinen Ehemann ganz krank. Er verfluchte mich. Er schlug mich. Ich will einen Sohn, schrie er, warum bringst du eine Tochter zur Welt? Andere Frauen schaffen es doch auch, Söhne zu bekommen."
    Dann kam der Moment, in dem Prema zu kämpfen lernte.
    "Eines Tages ging mein Mann zu weit. Er schlug unsere ältere Tochter mit einer Holzlatte. Sie blutete am Kopf, sie musste ins Krankenhaus. Er drohte, beide Mädchen umzubringen."
    Vorwürfe von der eigenen Familie
    Daheim, bei ihrer Familie, fand Prema keinen Schutz. Alle machten sie für die vermeintliche Misere verantwortlich.
    "Meine Brüder zwangen mich, zu meinem Mann zurückzukehren. Sie sagten, auch wenn er dich schlägt: Es ist deine Pflicht, bei deinem Ehemann zu bleiben."
    Prema wurde wieder schwanger. Sie erbrach sich anfangs, genauso wie bei den vorherigen Schwangerschaften auch. Ihr Mann und die Schwiegereltern werteten das als Zeichen dafür, dass sie schon wieder ein Mädchen in sich trug.
    "Da forderte meine Schwiegermutter meinen Ehemann auf, mich zu verlassen und die Scheidung einzureichen. Ich war auf mich allein gestellt. Meine Töchter und ich hatten nicht mal genug Geld, um richtig zu essen."
    "Das führt zu einem Genozid"
    Premas Geschichte klingt extrem, für indische Verhältnisse ist sie das aber nicht. Selbst die Regierung musste nun zugeben, dass mehr als 20 Millionen Mädchen im Land leben, die schlichtweg nicht gewollt sind. Demnach fehlen pro Jahr zwei Millionen Mädchen - entweder werden sie abgetrieben, nach der Geburt ermordet - oder sie sterben an Vernachlässigung. Sejho Singh leitet in Neu-Delhi eine Organisation, die Mädchen in Indien stärken will.
    "In Südasien gibt es diese Vorliebe für Jungs. Das hängt mit dem Geiz vieler Menschen zusammen. Für Mädchen ist bei der Hochzeit immer noch häufig eine Mitgift fällig. Söhne gelten dagegen als Garanten für materiellen Wohlstand. Es ist hier sehr günstig, Ultraschalltests zu machen. Das führt zu einem Genozid. Wir schätzen, dass diese Tests jeden Tag bis zu neuntausend Mädchen das Leben kosten."
    Dabei ist es in Indien verboten, den Eltern bei einer Ultraschall-Untersuchung das vermeintliche Geschlecht des Kindes zu nennen. Aber es sind die reicheren Inder, die laut Sejho Singh besonders versessen auf Jungs sind. Sie können es sich leisten, Mediziner zu bestechen. Oder sie haben Ärzte in ihrem Bekanntenkreis.
    "Aber jetzt greift dieses Virus auch in anderen, ärmeren Gesellschaftsschichten um sich. Das ist besonders alarmierend."
    Immer weniger Mädchen kommen zur Welt
    Laut der Volkszählung 2011 kommen auf 1.000 Jungs nur noch 914 Mädchen; vor 30 Jahren waren es noch rund 960 Mädchen. Vor allem in Nordindien, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse besonders rau sind, werden viel mehr Jungs als Mädchen geboren."
    Prema, die von ihren Schwiegereltern verflucht worden war, stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Nachdem sie auf sich allein gestellt war, schwanger und mit zwei Töchtern, musste sie sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, als Putzfrau. Sie habe nur von Brot und Salz gelebt, sagt sie.
    Die Mutter Prema mit ihren Töchtern Pooja, links, und Kajal, rechts
    Entschlossen den Kampf gegen den Ehemann auszufechten: Die Mutter Prema mit ihren Töchtern Pooja, links, und Kajal, rechts (Jürgen Webermann/ARD)
    "Die Ärzte meinten, ich sei zu schwach für eine normale Geburt. Dass entweder das Baby oder ich sterben würden. Aber es hat trotzdem geklappt. Und es war ein Junge. Vier Kilogramm schwer."
    "Immerhin schlägt er unsere Mädchen nicht mehr"
    Kaum war der Kleine da, stand der Ehemann vor Premas Tür. Er bat um Vergebung.
    "Ich musste ihm vergeben. Die Leute hier glaubten sowieso schon, ich hätte einen schlechten Charakter, weil ich alleine lebe. Aber der Kopf meines Mannes ist wirklich voller Kuhmist. Jetzt will er, dass ich kein Geld mehr für die Ausbildung meiner Töchter ausgebe. Immerhin schlägt er unsere Mädchen nicht mehr."
    Kajal träumt davon, Lehrerin zu werden, und Pooja würde gerne Medizin studieren. Ihre Mutter Prema sagt, sie sei entschlossen, auch diesen Kampf gegen ihren Ehemann auszufechten. Inzwischen hat sie einen zweiten Jungen zur Welt gebracht. Ihr Ehemann wünscht sich noch mehr Söhne, jetzt, wo es zu klappen scheint. Prema hat sich aber sterilisieren lassen. Heimlich. Als sie davon erzählt, lächelt sie.