Britta Fecke: Modi wollte jedes Jahr 10 Millionen neue Jobs schaffen. Das ist ihm nicht gelungen, statt dessen ist die Arbeitslosigkeit weiter gestiegen und auch die Inflation. Warum hat das bei der Wahl scheinbar keine Rolle gespielt?
Ronald Meinardus: Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich schnell gefunden: Es ist der BJP und vor allem Narendra Modi gelungen, die Agenda so zu setzen, dass sie absolute Kontrolle über die Themen dieses Wahlkampfs hatten und die Opposition ins Leere gelaufen ist. Herr Modi und seine Kampagne haben den Kandidaten in den Mittelpunkt gestellt, einen parlamentarischen Wahlkampf quasi zu einem Präsidentschaftswahlkampf umfunktioniert, und Modi hat den großen Vorteil, dass er da mit großem Abstand beliebtester Politiker ist, weit über die Wählerschaft der BJP hinaus, ist Modi ein beliebter Politiker, ein Mann der Tat. Das hat gewirkt, und ein ganz wichtiges Moment in diesem Wahlkampf ist der Monat Februar, als es in der Unruhe Provinz Kaschmir zu einem Terroranschlag kam, bei dem 40 indische Soldaten bei einem Selbstmordattentat ums Leben kam, und kurz darauf die indische Luftwaffe einen sogenannten Surgical Strike, einen Angriff gegen ein Ziel in Pakistan, geflogen ist. Modi rühmte sich seither dann, den Pakistanis eine Lektion erteilt zu haben, und das ist in dieser Vorwahl bei sehr, sehr vielen Indern sehr gut angekommen.
Seither war das Nationalismusthema, das Sicherheitsthema, das Antiterrorthema ein Leitthema im Wahlkampf der BJP und von Herrn Modi. Alle anderen Themen, technische Themen oder wirtschaftspolitische Themen sind an den Rand gedrückt worden, und die Opposition hatte keine Mittel, da irgendwie entgegenzuwirken.
Nationalismus und Antiterrorkampf waren ein Leitthemen im Wahlkampf
Fecke: Das heißt, auch ihm ist es gelungen, mit außenpolitischen Themen die innenpolitischen Themen zu überdecken?
Meinardus: Absolut. Es ist ein Ablenkungsmanöver gewesen, denn, wie Sie gesagt haben, gibt es Probleme. Modi war ja vor fünf Jahren angetreten und hatte Jobs versprochen und hat Entwicklung versprochen. In der Wirtschaftspolitik sieht die Bilanz erstaunlicherweise nicht so gut aus. Ein großes Problem gibt es bei der Arbeitslosigkeit. Das Wirtschaftswachstum ist in Indien auf unter sieben Prozent gefallen. Das ist eine Zahl, über die wir uns in Westeuropa freuen würden, aber in Indien ist das eine Zahl, die nicht reicht, um das große Heer der Jobsuchenden mit Arbeitsplätzen zu versorgen. Nach unabhängigen Berichten sind sogar Arbeitsplätze in Millionenhöhe im vergangenen Jahr verlorengegangen, aber durch dieses Ablenkungsmanöver ist es Modi gelungen, die Agenda einfach zu verschieben.
Fecke: Aber dass er seine Mehrheit auch noch vergrößern konnte bei den Problemen, die Sie geschildert haben, das macht mich doch wunder.
Meinardus: Ja, es ist auch eine Überraschung, muss ich sagen. Es ist eine Überraschung auch im Kreise von den sogenannten Experten. Sogenannte Experten muss ich sagen, denn offenbar sind sie doch nicht so die großen Experten, wenn sie sich in einer Analyse oder einer Voranalyse so täuschen. Die BJP hatte im Vorfeld dieser Wahlen immer gesagt, dass sie ihre Mehrheit noch ausbauen wird. Ich habe viele Interviews mit dem Parteipräsidenten Amit Shah gehört und gelesen, und er war davon ausgegangen, dass sich die Mehrheit noch vergrößert. Wir haben eine Situation, ich will jetzt mit dem Vergleich ein bisschen vorsichtig umgehen, aber wir haben eine Situation, die so ein bisschen an die Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika erinnert, wo man sich so ein gewisses Wunschdenken zurechtlegt und wo gewisse Kreise dann in dieser Situation auch ihrer eigenen Informationen wiederkauen, und insofern ist man da vielleicht Opfer geworden.
Die BJP hat eine professionelle Social-Media-Strategie
Fecke: Modi twittert auch sehr gerne, habe ich gehört.
Meinardus: Ja, er twittert viel und mit einer Breitenwirkung, die es in sich hat. Also circa 50 Millionen Twitter-Follower, was doch eine erhebliche Zahl ist, aber auch in der Breite. Modi ist natürlich ein herausragendes Beispiel, aber auch die zweite und die dritte Reihe in der BJP hat eine sehr, sehr, sagen wir mal, professionelle Social-Media-Strategie. Die BJP ist bekannt dafür, dass sie sehr frühzeitig sich mit den sozialen Medien auseinandergesetzt hat und sehr viel Geld und sehr viel Expertise dort investiert. Nicht alles, was da passiert, würde ich sagen, ist der feine Umgangston. Dort gibt es doch einige Erscheinungen, die grenzwertig sind und sogar jenseits der Grenze des Anstandes sind, aber auch das, die Arbeit mit schmutzigen Tricks, ist ein Teil dieses Wahlkampfes. Gerade andersdenkende Menschen, gerade liberal orientierte Menschen haben dort doch einiges abbekommen, und das hat Wunden hinterlassen. Indien ist nach diesem Wahlkampf tief gespalten. Im Moment ist das ein bisschen überdeckt durch die Euphorie der Sieger und durch die Überraschung vielleicht auch der Verlierer, dass es denn so gekommen ist. Was ich hierzu sagen will ist, dass zwar Modis Sieg eindeutig war, dass er seine Mehrheit ausbauen konnte, dass aber die absoluten Zahlen so eindeutig gar nicht sind. Die Wähler von Modi repräsentieren 37 Prozent der indischen Wahlbevölkerung, das heißt, dass knapp zwei Drittel der Inder Modi nicht gewählt haben, und das sind natürlich Menschen, die man auch im Auge haben muss.
Fecke: Ich dachte 600 Millionen hätten für ihn gestimmt.
Meinardus: Die Wahlbeteiligung war eine hohe, und viele haben für ihn gestimmt, aber nach aktuellen Ergebnissen der Wahlkommission ist das Ergebnis für Herrn Modi bei 37 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das war im vergangenen Wahlgang vor fünf Jahren die 31er-Marke, und insofern ist es deutlich gestiegen, aber dank des Mehrheitswahlrechtes kann man auch mit einem solchen Ergebnis eine ganz große Zahl von Mandaten im Parlament gewinnen, und das ist passiert. Das haben wir auch in Amerika gesehen, dass man Präsident werden kann, ohne unbedingt die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen zu können.
Fecke: Also er hat keine Zweidrittelmehrheit, das heißt, er kann die Verfassung nicht ändern, aber kann er denn allein regieren?
"Modi ist nicht mehr auf Koalitionspartner angewiesen"
Meinardus: Ja, das ist ganz wichtig. Er hat eine Mehrheit im Parlament, und der Unterschied zu der Legislaturperiode, die jetzt zu Ende geht, ist, dass Herr Modi nicht mehr auf Koalitionspartner angewiesen ist. Seine BJP-Partei ist Teil einer Allianz, und diese Allianz - das gibt es übrigens auch in der Opposition - wird auch aus wahltaktischen Gründen weit vor dem Wahltermin geschmiedet. Neuerdings, nach diesem aktuellen Ergebnis, ist Herr Modi nicht mehr auf die Koalitionspartner oder die Allianzpartner angewiesen. Man rechnet damit, dass er mit diesen Allianzpartnern weiter zusammenarbeiten wird, aber er hat natürlich jetzt eine viel bessere Position bei der Verhandlung, wenn es etwa darum geht, die Kabinettsposten zu verteilen oder auch ein Regierungsprogramm zu erstellen, dann muss er nicht mehr so große Rücksicht nehmen auf die zum Teil sehr partikularen Interessen der überwiegend aus Regionalparteien bestehenden Allianzpartnern.
Fecke: In Modis erster Amtszeit kam es zu einer Radikalisierung der hinduistischen Mehrheit, und darunter hat besonderes die muslimische Bevölkerung gelitten. Es kam ja auch zu Lynchmorden. Was glauben Sie? Wird er in seiner zweiten Amtszeit das Land noch weiter spalten anhand der ethnischen und religiösen Grenzen?
Viele Inder muslimischen Glaubens fühlen sich bedroht
Meinardus: Ich sage es jetzt mal sehr plump: Die Vorbehalte des Hindunationalismus gegen die Muslime in Indien reichen weit in die Geschichte zurück, und sie sind gewissermaßen ein Grundelement der Ideologie des radikalen Hindunationalismus. Sie sind in den vergangenen Jahren allgemein deutlich geworden, und jetzt kann man darüber diskutieren, woran liegt es. Es liegt zum einen auch an der Verbreitung von sozialen Medien, dass Stimmen, die früher nicht gehört wurden, auf einmal ein Echo finden - das ist ganz wichtig -, zum anderen aber auch auf ein geändertes politisches Klima zurückzuführen, dass inzwischen mehr toleriert wird, was früher nicht toleriert wurde und dass einiges salonfähig geworden ist, was früher eigentlich nicht salonfähig sein sollte. Da sind besonders muslimische Inder von betroffen, aber auch Angehörige anderer religiöser und ethnischer Minderheiten. Ob das jetzt so weiter geht, ist eine große Frage. Fakt ist, dass in der Parlamentsfraktion, in der großen Parlamentsfraktion, der BJP kein einziger Muslim vertreten ist. Die Muslimminderheit, das sind 14 Prozent der indischen Bevölkerung. 180 Millionen Inder sind muslimischen Glaubens. Innerhalb dieser Fraktion gibt es Vertreter, die, sagen wir malt, mit sehr, sehr deutlichen antimuslimischen Ausfällen auffällig geworden sind, und während das vielleicht ja noch zu erklären, auf keinen Fall zu entschuldigen, wäre, aber zu erklären wäre, was keinesfalls akzeptabel ist, dass Modi und die Führung der Partei diese Menschen nicht herausgeworfen hat oder sich klar und deutlich von ihnen distanziert hat. Insofern gibt es ein Klima der Toleranz gegenüber diesen Ausfällen und insofern eine Vergiftung, und das ist besonders bei Menschen muslimischen Glaubens ein großes Problem. Die Menschen muslimischen Glaubens, mit denen ich jetzt zu tun habe, mit denen ich spreche, aber auch Kommentierungen in den Medien von diesen Menschen, deuten auf eine ganz, ganz deutliche Verunsicherung hin.
Fecke: Was glauben Sie, was sind die Herausforderungen für diese zweite Amtszeit für Modi?
Meinardus: Modi muss erst mal versuchen, ernstzumachen mit seinem Versprechen, der Ministerpräsident aller Inder zu sein, und da muss er mehr machen als einfach mal ein gutes Wort zu sprechen. Vor allen Dingen muss er ernstmachen mit seiner Ankündigung, die Wirtschaft zu reformieren, denn der Reformer Modi, der die Marktwirtschaft hier einführen würde, hat nicht stattgefunden, und es gibt eine weit verbreitete Ansicht - und das sage ich nicht nur als Vertreter einer liberalen Stiftung -, dass die indische Volkswirtschaft dereguliert werden muss, dass sie liberalisiert werden muss, denn nur so werden die Arbeitsplätze geschaffen werden können, die nötig sind, um die vielen Millionen Menschen, die jetzt in Armut leben, in eine bessere Zukunft zu führen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.