Vasant Vihar, ein Stadtteil im Süden der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Hier wohnen finanziell gut gestellte Inder. Am Rande eines kleinen Parks ist ein geschmücktes Zelt aufgebaut. In diesem großen Zelt findet gerade eine hinduistische Hochzeit statt.
Ein Priester sitzt vor einer geweihten Feuerstelle und rezitiert Sanskrit-Texte. Immer wieder gießt er geklärte Butter ins Feuer, um es zu nähren. In Form des Feuers ist Gott Agni bei der Hochzeit zugegen. In ein paar Minuten wird das Brautpaar gemeinsam 7 Schritte gehen, es ist das Ritual Sapta-Padi. Während sie voranschreiten spricht das Brautpaar Gebete und leistet 7 Gelübde für ein gutes Gelingen der Ehe. Nach diesem Ritual ist die hinduistische Ehe geschlossen.
Wie fast alle Ehen in Indien ist auch die Hochzeit von Radha und Dinesh von ihren Eltern arrangiert worden. Braut und Bräutigam passen vom Bildungsstand zueinander und gehören der derselben Kaste an, einer bestimmten Schicht der indischen Gesellschaft. Liebesheiraten, wie man sie in Deutschland kennt, sind in Indien die absolute Ausnahme.
"Eltern sehen es als Teil ihrer Verantwortung an, die Ehen ihrer Kinder zu arrangieren. Sie haben erst dann ihre Pflicht erfüllt, wenn der Nachwuchs verheiratet ist. Aber manchmal lehnen die Kinder den von den Eltern ausgewählten Ehepartner ab oder sie wollen jemanden aus einer anderen Kaste heiraten – so etwas bedeutet immer Gesichtsverlust für die Eltern. Auch kann sich so ein Verhalten des Kindes negativ bei der Suche nach einem Ehepartner für die Geschwister auswirken."
Sagt die Soziologin Prof. Rajni Palriwalah von der Delhi University.
In Indien ist man der Meinung, dass Eltern am bestem den richtigen Partner für den Sohn oder die Tochter finden würden. Und man glaubt auch, dass sich die Liebe zwischen den Ehepartnern nach einiger Zeit einstellen wird. Aber darauf wollen viele junge Ehepaare, besonders in den Städten, nicht mehr warten. Eheleute, vorwiegend aus der gesellschaftlichen Mittelklasse, entscheiden sich oft schon nach kurzer Zeit dazu, nicht mehr zusammen bleiben.
Rajni Palriwalah: "In Indien treffen junge Leute verschiedenen Geschlechts nicht einfach zusammen. Sie finden also alleine nicht den richtigen Partner und haben vor der Ehe auch keine andere Beziehung. Die von den Eltern arrangierte Ehe erspart den Heiratswilligen die Suche nach einem Partner. Außerdem ist es äußerst wichtig, dass eine Ehe in Indien den Segen der Familie hat."
Die Schriftstellerin und Aktivistin Madhu Kishwar erklärt:
"In Indien ist eine Ehe nicht nur der Zusammenschluss von zwei Individuen. Sie ist eine Verbindung zweier Familien mit dem Ziel, die nächste Generation hervor zu bringen. Dies ist in Indien sehr wichtig."
Nach der Hochzeit lebt das Ehepaar im Haushalt der Eltern des Mannes. Die Ehefrau kennt meisten niemanden, außer ihrem Ehemann. Es kann sein, dass sie – verunsichert von der neuen Umgebung - Fehler macht bei der Hausarbeit oder im Umgang mit den Angehörigen ihres Mannes. Und es gibt Streitigkeiten, besonders mit der Schwiegermutter.
Rajni Palriwalah: "Die Schwiegertochter muss die Geflogenheiten im neuen Haushalt erst kennenlernen. Für Fehler, die ihr bei der Hausarbeit passieren, hat die Mutter ihres Mannes kein Verständnis. Oft gibt es Bildungsunterschiede zwischen der Schwiegermutter und der Ehefrau, das führt zu Spannungen. Eine Universitätsausbildung der Ehefrau wird oft überhaupt nicht geschätzt, da sie für die Haushaltsführung unbedeutend ist."
Konflikte zwischen der Ehefrau und der Mutter ihres Mannes führen auch zu Diskussionen unter den Ehepartnern. Aber viele junge Männer sind immer noch der Ansicht, eine Frau habe dem klassisch-brahmanischen Frauenideal zu folgen: Sie soll ihrem Ehemann dienen, sich ihm ganz widmen und die eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Die Brahmanen, Mitglieder der höchsten Kaste der indischen Gesellschaft, sehen die Religion der Frau im Dienst an ihrem Ehemann. Eine Frau soll sich ganz so verhalten wie Sita ihrem Gatten Rama gegenüber in dem indischen Epos Ramayana. Aber diesem Frauenbild wollen vor allem gebildete Ehefrauen nicht mehr folgen. Dadurch kommt es Reibereien in der Ehe. Das bleibt auch den Angehörigen nicht verborgen.
Madhu Kishwar:"Die Familien der Eheleute haben ein großes Interesse daran, dass die Ehe funktioniert. Wenn Probleme auftreten, versuchen die Familien gemeinsam, diese zu beheben: Sie suchen das Gespräch mit den Eheleuten. Manchmal wird auch ein Ehepartner ermahnt, er möge doch bitte sein Verhalten noch einmal überdenken. Dies alles geschieht, um eine dauerhafte Ehe zu gewährleisten."
Doch manchmal helfen alle Anstrengungen der Familien nicht, die Ehe zu retten: Es kommt zur Trennung.
Rajni Palriwalah: "Scheidungen gibt es hier natürlich. Etliche Leute sind der Auffassung, die Scheidungsrate sei gestiegen. Aber was ich glaube: Mittlerweile verheimlicht man nicht mehr so stark wie früher, wenn Ehepartner nicht mit einander harmonieren. Überwiegend in der Mittelklasse unserer Gesellschaft geht man jetzt offener damit um."
Für die einzelnen Religionsgruppen in Indien gibt es eigene Vorschriften, die Heirat und Scheidung betreffen. Für die Hindus ist der Hindu Marriage Act aus dem Jahr 1955 maßgebend. Dort sind die Gründe, die eine Scheidung rechtfertigen, aufgelistet: Zum Beispiel sind neben Gewalt in der Ehe, einer ansteckenden Krankheit, wie AIDS, und unheilbare Lepra aufgeführt. Auch Gründe, die die Religion betreffen, findet man im Hindu Marriage Act: Sollte ein Ehepartner zu einer anderen Religion konvertieren oder sich von dem weltlichen Leben abkehren und einen spirituellen Pfad verfolgen, kann die Ehe geschieden werden.
Madhu Kishwar: "In Indien kann man sich nicht auf die offiziellen Zahlen verlassen. Aus dem einfachen Grund, weil nicht jeder bei Gericht die Scheidung einreicht. Ebenso meldet man auch Eheschließungen selten der zuständigen Behörde. Ehen und Scheidungen werden innerhalb der Gemeinschaft geregelt. Bei einer Trennung kommen die Familien und die Ehepartner mit einem Vermittler zusammen und man trifft Vereinbarungen. So laufen bei uns die meisten Scheidungen ab. Die Daten der Behörden spiegeln also nicht die wirkliche Situation wider."
Oft werden die getroffenen Vereinbarungen jedoch nicht eingehalten. Und meistens sind dabei die Frauen die Leidtragenden. Zum Beispiel bleiben Unterhaltszahlungen aus oder ein Vermögen wird nicht aufgeteilt. Die Frauen müssen dann Hilfe bei ihren Familien suchen. Frauen haben es deutlich schwerer als Männer, nach einer Scheidung einen neuen Ehepartner zu finden. Aber auch der Mann gerät durch die Trennung in eine missliche Situation: Für die Teilnahme an hinduistischen Zeremonien braucht er eine Frau an seiner Seite. Eine Scheidung schadet natürlich dem Ansehen der Familien. Die Sorge um den guten Ruf macht erfinderisch:
Rajni Palriwalah: "Trennungen werden oft verschleiert. Man sagt dann, die Frau sei zurück in ihrem Elternhaus, um die schwerkranke Mutter zu pflegen. Und wenn plötzlich der Mann im Haushalt fehlt, erzählt man, er hätte irgendwo anders einen neuen Job gefunden. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten, eine Scheidung zu verheimlichen - anstatt offen zu sagen, was passiert ist."