Rajni Kumar, 20 Jahre alt, Tochter eines Tagelöhners. Sie ist die erste in ihrer Familie, die lesen und schreiben kann.
Manvender Chauhar, 21, Student aus dem Bundesstaat Bihar im Osten Indiens, fängt schon bald einen Job bei Amazon India an.
Vaadya Raina, die junge Feministin studiert in der Hauptstadt Delhi und will das Frauenbild im Land umkrempeln.
Und Riza Madi aus Kaschmir, der aus Protest nicht an den Wahlen teilnimmt, weil Indien aus seiner Sicht nicht sein Land ist.
Vier potenzielle Erstwähler von fast 84 Millionen in Indien. Seit den letzten Wahlen vor fünf Jahren sind in etwa so viele neue Wähler dazu gekommen, wie Deutschland Einwohner hat. Nirgendwo sonst auf der Welt leben so viele junge Menschen wie in Indien. Die Erstwähler sind eine beliebte Zielgruppe für die Politiker im Wahlkampf.
Mit diesem Rap-Song versucht die Regierungspartei BJP auf sämtlichen Social Media Kanälen um die jungen Stimmen zu werben.
Auf dem Campus der JNU, das ist eine der renommiertesten Universitäten in Neu-Delhi, schaut sich die Sprachstudentin das Wahlwerbe-Video an und schmunzelt:
"Rap ist hier gerade voll im Trend und ja, die Partei nutzt das gut für sich aus. Aber ganz ehrlich, davon lassen wir uns nicht täuschen. Nur weil du rappst bedeutest das ja wohl kaum, dass du weißt, wie man ein Land führen kann."
Das Gefühl, als Frau immer noch eingesperrt zu sein
Vaadya trägt Jeans, T-Shirt und eine große schwarze Brille. In der Cafeteria der JNU, mitten in der Hauptstadt Indiens, fällt sie damit nicht weiter auf. Auf dem Land allerdings würde ihr Outfit Aufsehen erregen. Ein westlicher Kleidungsstil, so sagen es auch heute noch Politiker in der Öffentlichkeit, trage dazu bei, dass junge Frauen in Indien vergewaltigt würden. Die 20-Jährige geht bei Dunkelheit kaum vor die Tür, meistens bleibt sie mit ihren Freundinnen einfach auf dem Campus der Universität. Sie lebt dort in einem Studentenwohnheim. Im 21. Jahrhundert hat sie das Gefühl, als Frau immer noch eingesperrt zu sein:
"Indien muss die Sicht auf die Rolle der Frauen ändern. Wir werden sonst unser Land nicht nach vorne bringen können. Das aktuelle Frauenbild muss sich dringend wandeln."
Auch wenn die indische Gesetzgebung die Gleichberechtigung von Männern und Frauen vorsieht, die Tradition tut dies nicht. Jungs werden nach wie vor bevorzugt, Mädchen gelten vielen Eltern als Last. Letztes Jahr musste die indische Regierung zugeben, dass pro Jahr zwei Millionen Mädchen im Land fehlen: Entweder sie werden abgetrieben, nach der Geburt ermordet oder sie sterben an Vernachlässigung. Noch heute tragen einige Mädchen im Land den Namen Nakushi, der übersetzt so viel bedeutet wie: Unerfreulich oder ungewollt. Auf Vaadya trifft das ganz und gar nicht zu, ihre Mutter habe sich sehr gefreut eine Tochter auf die Welt zu bringen. Vaadya aber ist Feministin geworden, weil sie will, dass das, was sie und ihre Mutter durchmachen mussten, sich niemals mehr wiederholt.
"Als mein Vater gestorben ist, wurde meine Mutter von ihrer Familie gezwungen, einen anderen Mann zu heiraten, damit das Kind einen Vater hat. Sie wollte mich alleine groß ziehen, aber das geht aus Sicht unserer Gesellschaft nicht. Und dieser neue Mann, den sie heiraten musste, hat mich dann sexuell missbraucht. Das war alles einfach keine gute Idee, dass sie da hinein gezwungen wurde."
Obwohl rund 430 Millionen Inderinnen bei den Wahlen abstimmen dürfen und bei den letzten Regionalwahlen mehr Frauen abgestimmt haben als Männer, ist die Rolle der Frau bei den großen Parteien überhaupt kein Wahlkampfthema. Mit Indira Gandhi hatte Indien zwar schon in den 60er Jahren eine Premierministerin, als zum Beispiel Ehefrauen in Deutschland ihre Gatten noch um Erlaubnis bitten mussten, um arbeiten gehen zu dürfen. Aber Indira Gandhi kam aus einer sehr einflussreichen Politikerfamilie. Heute sind Frauen im indischen Parlament eine Ausnahme, sie machen dort 12% Prozent aus.
Nur rund 50km von der Hauptstadt Delhi liegt das Dorf Shobhapur. Allerdings fühlt es sich wie eine Zeitreise in die Vergangenheit an. Die Bauern pflügen ihre Felder mit Ochsen. Frauen gehen zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen. Rajni Kumar wirft noch schnell ein buntes Tuch über ihren Kopf, bevor sie das Haus verlässt. Sie ist auf dem Weg zum Wahllokal, zum allerersten Mal darf sie ihre Stimme abgeben.
"Ich bin ein wenig aufgeregt, aber es fühlt sich super gut an".
Bei 40 Grad im Schatten klappern drinnen die Ventilatoren.
Zum ersten Mal Wahlhelferin
"Ich mache das zum ersten Mal." ruft sie den freiwilligen Wahlhelfern zu, die ihr dann die Maschine kurz erklären. Es gibt 15 Knöpfe, daneben sind Fotos der Kandidaten und - noch wichtiger - die Symbole der Parteien. Die kennt in Indien jeder: Die Lotusblüte, der Elefant, das Fahrrad, die Hand oder Pfeil und Bogen. So können auch Rajnis Eltern zur Wahl gehen. Die Mutter ist Hausfrau und kann nicht lesen, ihr Vater arbeitet als Tagelöhner auf dem Feld. Er kann gerade einmal seinen Namen schreiben.
Rajni strahlt, ihre Stimme ist im digitalen Kasten. Sie hat die Taste mit der Lotusblüte gedrückt, das Symbol für die Regierungspartei BJP. Die Menschen in ihrem Dorf könnten den Fortschritt, den er gebracht habe ja direkt sehen und spüren, erzählt sie. Die Gassen, die sich bei jedem Monsun zuvor in Schlammwege verwandelt hatten, sind nun geteert. Und fast jeder Haushalt habe eine eigene Toilette, sagt Rajni, huscht über den Hof und zeigt stolz das neue Badezimmer:
"Wir haben eine westliche Toilette eingebaut, damit es meine Großmutter leichter hat. Die Regierung hat uns Geld gegeben und wir haben auch noch was drauf gezahlt."
Das war eines der großen Ziele von Premierminister Modi. Nach seiner fünfjährigen Amtszeit sollte kein Inder mehr hinter Büschen oder auf Feldern sein Geschäft erledigen müssen. Umgerechnet rund 150 Euro hat die Regierung jedem Haushalt dazu gegeben, um den Bau von Toiletten zu ermöglichen. Im Jahr 2011 hatten nur ein Drittel aller Inderinnen und Inder die Möglichkeit auf ein Klo zu gehen. Kritiker werfen der Regierung vor, die Statistik zu schönen. Selbst wenn Toiletten gebaut wurden, nutzen die noch längst nicht alle. Einige Häuschen würden zu Abstellräumen umfunktioniert.
Während in Rajnis Dorf am Wahltag die Vögel am Himmel ihre Kreise ziehen, donnern über Rizas Kopf die Helikopter. Der junge Moslem lebt in Kaschmir. Hunderttausende Soldaten sind ohnehin schon in seiner Region stationiert. An den Wahltagen sind es noch mehr. Es gilt die höchste Alarmbereitschaft. Seit Jahrzehnten wollen die Menschen in Kaschmir ihre Unabhängigkeit. Die fordern viele mit Gewalt ein. Auch der 18jährige Riza kann sich durchaus vorstellen, eines Tages als Märtyrer im Grab zu liegen.
"Ich habe schon hunderte Male darüber nachgedacht, auch in den Dschihad zu gehen. Ich habe aber keine Angst davor zu sterben, jeder muss eines Tages sterben. Dennoch, meine Eltern sagen, es sei noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen."
Mit Steinen auf Soldaten
Riza studiert Wirtschaftswissenschaften, allerdings fallen die Seminare regelmäßig aus. Seit Jahren führen die Separatisten in der Region immer wieder Generalstreiks durch, um die indische Regierung zu zwingen, mit den Kaschmiris zu verhandeln. Sein Leben kenne er nur als Ausnahmezustand, sagt Riza. Die schneebedeckten Berge oder die weißen Blüten an den Aprikosenbäumen, die sieht er seit 18 Jahren oft nur durch Stacheldraht. Während in anderen Teilen Indiens die Menschen stundenlang Schlange stehen, räkeln sich in Srinagar die Straßenhunde mitten auf der Kreuzung. Die indischen Wahlen seien nicht seine Wahlen. Er möchte, dass Kaschmir unabhängig wird, sagt Riza. Indien sei eine Besatzungsmacht, Soldaten und Paramilitärs würden ihn und seine Freunde wahllos verhaften.
"Die haben mich schon oft geschlagen, auch mitten auf der Straße. Einmal haben sie mir sogar den Arm gebrochen, nur weil ich eine Fahne getragen habe, auf der der Name unseres Propheten Mohammed geschrieben stand."
An die indische Demokratie glaubt er nicht, stattdessen hat er schon öfter Steinen auf die Soldaten geworfen. Aus seiner Sicht die einzige Chance, Rache zu nehmen und auf die Situation der Menschen in Kaschmir aufmerksam zu machen. Indien setze ja selbst die Demokratie hier ständig außer Kraft, sagt Riza. Die Vereinten Nationen haben im letzten Jahr einen Bericht veröffentlicht, und darin auch den indischen Soldaten Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Denn in Kaschmir gelten Gesetze, die anderswo in Indien nicht angewendet werden. Um den so genannten "Schutz der Öffentlichkeit" zu gewährleisten, können Polizisten ohne irgendetwas in der Hand zu haben, Menschen einfach in Gewahrsam nehmen. Seit einigen Jahren nutzen die Soldaten Schrotgeschosse, um sich gegen Steinewerfer wie Riza zu wehren. Allerdings sind dabei auch Kinder und Frauen schon erblindet. Auch während der Wahlen sind schon viele Steine von den Aufständischen geworfen worden oder es fallen Schüsse von den Sicherheitskräften. Dieses Mal ist es relativ ruhig geblieben, mehr Soldaten als Wähler standen auf den Straßen der Hauptstadt Srinagar. Gerade einmal 13 Prozent der Wahlberechtigten hier haben ihre Stimme abgegeben. Auch wenn für die Menschen in Kaschmir die Wahlen kaum eine Rolle spielen, spielt ihre Region und damit auch der Konflikt mit dem Erzfeind Pakistan im indischen Wahlkampf eine außerordentliche Rolle. Vor allem für den amtierenden Premierminister Modi, der wieder zur Wahl antritt:
"Es liegt einfach in meiner Natur. Ich nehme Rache und werde jeden einzelnen Terroristen töten. Die Mission ist: Meinem Land zu dienen."
"Es liegt einfach in meiner Natur. Ich nehme Rache und werde jeden einzelnen Terroristen töten. Die Mission ist: Meinem Land zu dienen."
Narendra Modi ist Vorbild vieler junger Menschen
Modis Leben ist die Politik. Er stammt aus einer armen Familie. Als Kind hatte er Tee verkauft. Heute regiert er ein Land, in dem mehr als 1,3 Milliarden Menschen leben. Das imponiert auch Manvender Chauhan. Der 21-Jährige aus dem Bundesstaat Bihar, im Osten von Indien, steht kurz davor, seinen Bachelor zu beenden. Für die Zeit danach hat er schon einen begehrten Vertrag mit der US-Firma Amazon in der Tasche. Manvender hat schon früh seinen Vater verloren, auch er hat sich ohne die Hilfe seiner Familie nach oben geboxt. Und genau deswegen ist Narendra Modi ein Vorbild für viele junge Menschen in Indien. Einem Land, in dem Jahrhunderte lang das Kastensystem keinen Aufstieg zugelassen hat und in dem Jahrzehnte lang nur eine Familie das Sagen hatte in der Politik: Die Gandhis. Die allerdings nicht mit dem berühmten Mahatma Gandhi verwandt sind. Die Kongress-Partei setzt auch bei den jetzt anstehenden Wahlen wieder voll und ganz auf den Familienbonus. Rahul Gandhi ist Chef der Oppositionspartei. Sein Urgroßvater Nehru, seine Großmutter Indira Gandhi und sein Vater Rajiv waren schon Premierminister in Indien. Der junge Rahul hatte allerdings lange gezögert, in deren Fußstapfen zu treten:
"Ich musste miterleben, wie meine Großmutter und mein Vater ermordet wurden. Ich musste erleben, wie das politische System Menschen zerstört hat, die ich liebe."
Rahul Gandhi hat in den USA studiert, in London gearbeitet, ist unverheiratet und hatte ausländische Freundinnen. Auch damit könnten sich viele junge und moderne Inder identifizieren. Aber der Spross der Gandhi Familie genießt keinen besonders guten Ruf. So war es ein leichtes für die Regierungspartei ihm den Spitznamen "Pappu" zu verpassen, was so viel bedeutet wie: dummer kleiner Junge, auch wenn Rahul Gandhi schon stramm auf die 50 zugeht. Auch Mavender spottet über ihn:
"Das einzige, was Rahul Gandhi in seinem Leben erreicht hat, ist, dass er in die richtige Famlie hinein geboren wurde. Jeder muss sich auch in einer Partei hocharbeiten; er musste es nicht."
Die Regierenden im Parlament sind im Schnitt 65 Jahre alt. Die Menschen in Indien allerdings haben ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Die Jugendlichkeit stellt das Land vor eine riesige Herausforderung. Eine Millionen junge Menschen strömen jeden Monat neu auf den Arbeitsmarkt. Im letzten Jahr hat die indische Bahn Jobs ausgeschrieben – das Unternehmen ist eines der größten Arbeitgeber im Land. 28 Millionen Menschen haben sich auf diese Jobs beworben. Laut Studien müsste Indien in den nächsten Jahren rund 100 Millionen junge Menschen ausbilden. Mindestens 1.000 neue Universitäten bräuchte das Land und rund 50.000 Colleges. Manvender hat einen Platz an einer renommierten Universität in Delhi erhalten und hat mit harten Aufnahmeprüfungen Millionen Konkurrenten überrundet:
"Auch wenn ich Modi wähle, vor allem was die Bildung und die Universitäten angeht, da ist nicht viel passiert. Ich hatte da mehr erwartet, aber es ist nichts passiert in dem Bereich."
Die Regierung unter Narendra Modi aber hat die Ausgaben für die höhere Bildung im Land drastisch gekürzt. Experten gehen davon aus, dass derzeit weniger als 17 Prozent der Hochschulabgänger auch fit für den Arbeitsmarkt sind. Die Zahl der Arbeitslosen im Land ist so hoch wie seit vierzig Jahren nicht mehr.
Graffitis der linken Ikone Che Guevara
Auf den Mauern der Caféteria der JNU haben die Studenten überall Graffities der linken Ikone Che Guevara aufgesprüht. Dazwischen trinkt Vaadya , die junge Feministin, ihren Tee. Sie macht sich große Sorgen, dass die regierende BJP wieder gewählt werden könnten. Sie meint, die Hindunationalisten würden ihr Land in den Grundfesten verändern und unter Modis Regierung sei das säkulare Indien ziemlich weit nach rechts gerückt.
"Sie reden von einem toleranten Indien, aber wie tolerant sind sie selbst? Diese BJP-Politiker diskutieren nicht mit anderen, dabei glauben wir an die Verfassung. Die nicht."
In dem Wahlwerbe-Song rappen die Künstler darüber, was Premierminister Modi alles in den letzten Jahren erreicht habe. Fast alle Menschen hätten nun Strom, Toiletten und die Korruption sei stark zurückgegangen. Mavender glaubt fest daran, dass sein Land auf dem richtigen Weg sei. Weltweit sei Indien zum wichtigsten Partner in Südasien geworden:
"Die Welt steht hinter uns. Modi ist diplomatisch bestens aufgestellt. Er hat viel Zeit darin investiert, Indien in einem guten Licht darzustellen, sodass die meisten westlichen Länder auf unserer Seite stehen."
Rajni, die Tochter des Feldarbeiters, blickt auch positiv in die Zukunft. Sie will Lehrerin werden, ein Job, vom dem ihre Eltern niemals zu träumen gewagt hätten.
"Alle meine Freundinnen studieren oder machen eine Ausbildung und unsere Eltern unterstützen uns. Sie wollen, dass ihre Töchter unabhängig werden."
Der Wirtschaftsstudent Riza glaubt fest an seinen Traum, dass Kaschmir eines Tages unabhängig sein wird. Wie auch immer sich dieser Wunsch erfüllen mag.
"Jeder in Kaschmir trägt Hoffnung in sich. Wir sind es leid, zu viele Menschen sind schon gestorben."
Viele der Millennials in Indien haben genügend Selbstbewusstsein, um sich den Herausforderungen in ihrem Land zu stellen. Sie haben es satt von altgedienten Politikern an den Rand gedrängt zu werden. Indiens Jugend sucht nach ihrer Chance. Wer auch immer die nächste Regierung führen wird, die Erwartung der jungen Inderinnen und Inder sind hoch.