Die Parlamentswahl in Indien galt als größter demokratischer Urnengang der Welt: Sechs Wochen lang waren fast 970 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen.
Gewonnen hat der amtierende Premierminister Narendra Modi mit seiner hindu-nationalistischen Partei BJP. Doch sein Ergebnis fiel schwächer als erwartet aus. Die absolute Mehrheit hat er verloren.
Seine Agenda wird der Premier indes vorantreiben. Eines seiner zentralen Projekte, das so nicht offen formuliert wird, ist der Umbau des Landes in einen Hindu-Staat. Ein zunehmend illiberaler Staat für die hinduistische Mehrheit, wo sich Minderheiten einfügen müssen.
Welche Erfolge reklamiert Modi für sich?
Seit 2014 ist Narendra Modi indischer Premierminister. Die zehn Jahre im Amt verkauft er als eine Erfolgsgeschichte – mit einiger Berechtigung zumindest in Bezug auf den Boom der indischen Wirtschaft.
Das Land ist derzeit die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt und die am stärksten wachsende. Modi stellt in Aussicht, Indien werde schon bald Japan und Deutschland überholen. Die Mittelklasse hat sich rasant vergrößert, auch wenn die Verteilung des neuen Wohlstandes sehr unterschiedlich ist.
Auf der Habenseite steht für Modi auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur: Autobahnen, Bahnstrecken und Flughäfen. Nur noch ein Drittel der Bevölkerung hat keinen Strom - bei Modis Amtsantritt war es noch fast die Hälfte.
Das Land erlebte zudem eine beispiellose Digitalisierung: Jeder Inder kann ein Bankkonto bekommen, selbst kleinste Beträge können digital bezahlt werden.
Welche Probleme hat Indien?
Indien leidet trotz aller Modernisierung unter einer überbordenden Bürokratie. Die Arbeitslosigkeit ist zwar offiziell auf unter fünf Prozent gesunken. Doch die Statistik wird dadurch verzerrt, dass in Indien häufig zwei oder drei Menschen zu niedrigen Löhnen das arbeiten, was einer allein machen könnte.
Für die Opposition gibt es Angriffspunkte. Das sind etwa die soziale Ungleichheit und die weiterhin verbreitete große Armut.
Bekanntester Politiker des von der Kongresspartei angeführten Parteienbündnisses ist Rahul Gandhi, ein Enkel der ehemaligen Regierungschefin Indira Gandhi und der Sohn des ehemaligen Premierministers Rajiv Gandhi. Er wirft Modi vor, Indien immer mehr zu einem autoritären Staat umzubauen, die Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz einzuengen.
Im Gegenzug lastet die PR-Maschine der Regierung der früher so mächtigen Kongresspartei lange Jahre der Stagnation sowie Korruption an. Dies verfängt bei vielen Menschen.
Wie hindunationalistisch ist Modis Politik?
Modi steht für eine selbstbewusste Außenpolitik, die Indiens Größe und Bedeutung betont. Er beansprucht eine Führungsrolle im sogenannten Globalen Süden.
Im Land gibt er sich bewusst religiös, aber auch pragmatisch. Modi spricht zwar von Vielfalt und davon, dass Indien die „Mutter der Demokratie“ ist. Doch ist er geleitet von der Vision einer Nation vor allem für Hindus. Sie stellen vier Fünftel der Bevölkerung.
Die 200 Millionen Muslime, immerhin 14 Prozent der Bevölkerung, haben sich aus Sicht der Hindutva-Ideologie, deren radikale Vertreter großen Einfluss auf die BJP ausüben, dem Hinduismus unterzuordnen. Sie dürfen ihre Religion nur unter Einschränkungen ausüben und fühlen sich in ihren Rechten unterdrückt.
Der Islam dient der indischen Regierung auch als Feindbild, wenn es um Terrorismus oder das islamische Pakistan geht, das Nachbarland und der Erzfeind Indiens. Die Opposition wirft Modi und seiner Partei vor, gegen Muslime Stimmung zu machen und das Land über bewusst geschürte religiöse Konflikte zu spalten.
Ein jahrelang umkämpftes Gesetz schließt Muslime aus Nachbarländern vom Erwerb der indischen Staatsbürgerschaft aus. Dagegen protestieren indische Muslime, die sich mehr und mehr als Bürger zweiter Klasse fühlen. Die Regierung Modi behandle die Muslime im Land wie eine fremde Spezies, kritisieren Abgeordnete der Kongresspartei.
Die Trennung zwischen Politik und Religion im säkular verfassten Indien verschwimmt immer mehr. Manche Inder sehen in Modi eine Art Messias. Um ihn wird ein entsprechender Personenkult betrieben.
Eines seiner Prestigeprojekte: der Ayodhya-Tempel. Ein umstrittenes Gebäude, das auf den Ruinen einer Moschee erbaut wurde. Bei der Einweihung im Januar 2024 trat Premier Modi wie der oberste Priester auf. Er stellt sich bei solchen Auftritten als eine Mischung aus politischem und religiösem Führer dar.
Was heißt der Modi-Wahlsieg für Indiens Zukunft?
Kritiker befürchten, dass Modi nach seinem dritten Wahlsieg die Pressefreiheit einschränken, die Unabhängigkeit der Justiz angreifen und seine Macht nutzen wird, um die Opposition weiter zu marginalisieren. Außerdem könnte er die autoritäre, auf die Mehrheit der Hindus ausgerichtete Politik weiterführen. Allerdings weisen politische Kommentatoren darauf hin, das Volk habe mit seinem Votum gezeigt, dass es eine Kursanpassung wolle.
Doch weiterhin besteht die Gefahr, dass Modi Indien Schritt für Schritt zu einer Hindu-Nation umbauen könnte, in der Minderheitenrechte beschnitten werden. Symbol für diese Entwicklung: der Versuch, den Hindi-Namen Bharat anstelle des Namens Indien als neuen Staatsnamen zu etablieren. Seit dem G-20-Gipfel 2023 wird der Name peu à peu von der Regierung lanciert.
Die Wahl in Indien war frei - aber auch fair?
Die Ereignisse der vergangenen Monate lassen daran zweifeln, dass diese Wahlen fair waren. Die Opposition wurde durch Justiz, Ermittlungsbehörden und Finanzämter unter Druck gesetzt. Oppositionsführer Rahul Gandhi wurde 2023 für einige Zeit aus dem Parlament geworfen. Der Vorwurf lautete, er habe vor Jahre Modi beleidigt.
Auch wurden die Konten der oppositionellen Kongresspartei im Wahlkampf eingefroren. Der Vorwurf: Sie habe vor längerer Zeit bei Steuererklärungen Fehler gemacht.
Höhepunkt war die Festnahme des Regierungschefs der Hauptstadt Delhi. Modi-Gegners Arvind Kejriwal wird Korruption vorgeworfen. Die Beweislage ist schwach.
Strafverfahren gegen Politiker, die wegen Korruption verfolgt wurden, dann aber zur Modi-Partei BJP wechselten, wurden in den allermeisten Fällen eingestellt. Umgekehrt zeigte ein Parteispendenskandal, wie die Hindunationalisten heimlich von großen Konzernen finanziert wurden.
Recherchen indischer Medien belegen: Die Razzien, die eine der Regierung Modi unterstellte Ermittlungsbehörde vornahm, haben sich in 95 Prozent der Fälle gegen Oppositionspolitiker gerichtet.
Wichtig für eine demokratische Wahl sind auch unabhängige Medien. Die Journalistin Kulsum Mustafa schilderte jedoch: Es sei Druck ausgeübt worden, im Sinne der BJP zu berichten. Trotzdem gibt es unabhängige Redaktionen, die Skandale aufdecken.
Allerdings bestimmten Pro-Modi- und Pro-BJP-Sender die Medienlandschaft in Indien, erklärt Politikwissenschaftler Vikram Visana von der Universität Leicester. „Sie gehören im Wesentlichen großen Konzernen, die von Modi selbst stark profitiert haben.“
scr