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Indien
Weniger hinduistische Vegetarier

Der Vegetarismus ist tief verankert in Indien - auch religiös. Doch das Essverhalten ist im Wandel. Viele junge Hindus wollen sich den Traditionen nicht mehr beugen. Für die meisten Mitglieder der Mittel- und der Oberklasse ist Fleischgenuss kein Tabu mehr. Dass der überwiegende Teil der indischen Hindus vegetarisch lebt, ist ein Mythos.

Von Margarete Blümel |
    Pradeep Modi sitzt im kühlen Inneren seines Stammlokals in Mumbai. Das Restaurant, das sich als "rein vegetarisch" empfiehlt, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ein schweißüberströmter älterer Kellner breitet vor jedem Neuankömmling ein frisches Bananenblatt aus. In der Mitte platziert er eine große Portion Reis. Ein junger Kellner folgt. Er gießt gewürzten Linsenbrei und eine Kelle Erbsencurry neben Pradeep Modis Reis. Gleich wird ein Dritter Joghurt und in Gewürzen und Öl eingelegtes Gemüse ausschöpfen, während ein weiterer Kollege schon darauf wartet, seine Teigfladen an den Mann zu bringen. Pradeep Modi hebt abwehrend die rechte Hand – danke, erst mal genug!
    "Hindus sollten möglichst Vegetarier sein, aber selbst Brahmanen halten sich heutzutage nicht mehr daran. Auch in meiner Familie kommt Fleisch auf den Tisch. Ich dagegen lebe vegetarisch. Seit zehn Jahren habe ich nicht einen Bissen Fleisch mehr angerührt."
    Pradeep Modi lebte aus beruflichen Gründen eine Zeitlang im Bundesstaat Gujarat, der Heimat Mahatma Gandhis. Der Asket und Morallehrer rückte mit seinem Ideal der Ahimsa, der Gewaltlosigkeit, auch den Vegetarismus in den Vordergrund. Von Gandhis ethischen Grundsätzen beeindruckt, machte Pradeep Modi eine Kehrtwende: Der Bankmanager wurde Vegetarier.
    In Gujarat leben nach wie vor die meisten Vegetarier. Denn hier ist das Gedankengut Mahatma Gandhis bis heute besonders präsent, sagt der Anthropologe Professor Vinesh Srivastha aus Delhi:
    "Wir Inder sind zwar mit dem Gedankengut Mahatma Gandhis vertraut, doch inzwischen ist das Ganze für viele meiner Landsleute nur noch Theorie. In Gujarat werden Gandhis Ideale noch am ehesten praktiziert."
    In der vom Christentum beeinflussten Kultur des Abendlandes gilt der Mensch als Beherrscher einer Natur, deren Geschöpfe ihm untertan sind. Er kann Tiere essen oder sich aus gesundheitlichen, ökologischen oder ethischen Gründen dazu entscheiden, auf Fleisch zu verzichten.
    In den Hindu-Religionen dagegen gelten alle Lebewesen als beseelt. Ihr Dasein ist miteinander verknüpft, ihre Interaktion hat Auswirkungen auf das Schicksal des Einzelnen, sowohl in diesem Leben als auch in nachfolgenden Daseinsformen. Jeder trägt Verantwortung für sein Tun. Wer wissentlich Leid hervorruft, hat seine Verantwortung missbraucht und hinterlässt bleibende Spuren in seinem kosmischen Reisepass.
    Nur ein Drittel der Hindus in Indien sind Vegetarier
    Der sogenannte "Hinduismus" umfasst eigentlich verschiedene Religionen, die sich in Schriften, Lehren und Ritualen häufig unterscheiden. Eine Pflicht, vegetarisch zu leben, gibt es in den Hindureligionen nicht. In der Summe jedoch wird Vegetarismus ethisch höher angesiedelt. Denn Tiere zu töten, erzeugt Leid, verunreinigt den Gläubigen und schmälert seine Verbundenheit zum Göttlichen. Dennoch leben wesentlich weniger Hindus vegetarisch als meist angenommen wird. Die Studentin Nirja Patel aus Mumbai:
    "Für meine Mutter zum Beispiel - eine strikte Vegetarierin - ist es ein Sakrileg, ein Lebewesen zu töten. Andere Vegetarier wiederum essen Fisch. Ich weiß nicht genau, wie viele Hindus hier auf Fleisch verzichten, aber ich denke, es müssen einige sein!"
    Schätzungen zufolge sind ein Drittel der in Indien lebenden Hindus Vegetarier. Tendenz fallend. Inzwischen hat jede größere Fastfood-Kette Filialen in Indiens Metropolen. Und hier dominiert das Fleisch auf der Speisekarte. Gerade Familien der Mittel- oder Oberklasse genießen regelmäßig dieses Angebot. In einer globalisierten Welt kommen zum Beispiel Computerspezialisten zurück in ihre Heimat - und bringen Essgewohnheiten aus dem Ausland mit. Fast-Food-Restaurants werden besonders von jungen Kunden frequentiert. Sie stehen den Traditionen kritisch gegenüber.
    Zudem gibt es zahlreiche Ausnahmen von der vermeintlichen Regel, dass Hindus kein Fleisch zu sich nehmen. "Hinduistische Asketen essen oft genug buchstäblich alles", sagt der Religionswissenschaftler Professor Frank Neubert von der Universität Bern.
    Hinduistische Bettelmönche in langen Gewändern sitzen auf dem Boden. Vor ihnen liegen ausgebreitete Tücher mit essen.
    Hinduistische Asketen beim Essen (Volker Preußer / IMAGO)
    "Besonders radikale Asketen-Gruppen scheren sich gar nicht mehr um soziale Konventionen und sie zeigen so, dass sie der gesamten physischen und sozialen Welt entsagt haben. Für sie sind dann auch Diätregeln gänzlich irrelevant und sie ernähren sich zur Erhaltung ihres Körpers von allem, was physisch essbar erscheint."
    Auch viele indische Stammesgemeinschaften, die zusammen etwa acht Prozent der Bevölkerung ausmachen, pflegen hinduistische Traditionen – und essen Fleisch. Die Stammesmitglieder erlegen Ratten, Vögel oder Schlangen - und sie machen auch vor Kühen nicht halt.
    Während die einen sich ihr Fleisch selbst erjagen, müssen die anderen verzichten: Arme Menschen in ganz Indien nehmen oft vor allem deshalb selten Fleischgerichte zu sich, weil Gemüse und Hülsenfrüchte deutlich billiger sind.
    Die Inder sind in der "Fleischfrage" gespalten
    Für Mitglieder der mittleren und oberen Kasten, betont Studentin Nirja Patel, sei dieser Aspekt natürlich weniger relevant. Das Potpourri sei groß. Es reiche von Traditionalisten über Teilzeitvegetarier bis hin zu Fleischliebhabern wie sie selbst. Um des lieben Friedens willen mache sie aber hin und wieder Kompromisse:
    "Obwohl ich sonst regelmäßig Fleisch esse, kann ich das meiner Mutter an bestimmten religiösen Festtagen einfach nicht antun. Also verzichte ich dann darauf. Sechs Monate lang habe ich mal vegetarisch gelebt. Aber das war's dann auch schon."
    Selbst die Götter verlangt es immer wieder nach Fleisch. Einigen Hindu-Gottheiten werden regelmäßig Ziegen, Lämmer, Hühner oder Büffel rituell geopfert. Man schlachtet die Tiere öffentlich in den Tempeln und weiht sie dem Gott oder der Göttin, um die gesegnete Speise dann Gläubigen, Priestern und armen Leuten zum Verzehr zu übergeben. Der spätere Konsum der Opfertiere ist nicht nur erlaubt, sondern er wird sogar zu einer heiligen Handlung erhoben.
    Pradeep Modi schaudert es schon beim Gedanken an ein solches Festmahl. Der Bankmanager genießt in seinem Stamm-Restaurant ein mit Kardamon, Nüssen und Rosenwasser versetztes Mango-Eisdessert. Es sei in jedem Falle besser, vegetarisch zu leben, betont er nochmals – aus ethischen Gründen, aber auch um nicht anzuecken.
    "Im Süden des Landes, in Kerala, leben relativ viele Muslime. Sie essen viel Fleisch, unter anderem auch vom Rind. Das führt in einigen Gegenden dazu, dass die zahlenmäßig unterlegenen Hindus sich dem anpassen. Sie tun aber gut daran, das nicht öffentlich zu machen. Weil sie nämlich sonst von anderen Hindus dafür Schläge beziehen würden."
    Nirja Patel nimmt dagegen zwar kein Rindfleisch zu sich, aber als Fleischesserin sind ihr böse Kommentare von orthodoxen Glaubensbrüdern hinreichend bekannt:
    "Eigentlich wurden mir ja ganz andere Leitsätze in die Wiege gelegt. Aber ich bin weltoffen und habe mich irgendwann bewusst dazu entschieden, nicht mehr vegetarisch zu leben. Das lasse ich mir nicht nehmen. Und eins ist sicher: Es ist nicht mein Essverhalten, das darüber entscheidet, ob ich ein guter Mensch bin."