Shivani wandert wie jeden Morgen um kurz nach fünf durch beißende Rauchschwaden zur Arbeit – vorbei an einem kleinen Fluss, dessen Wasser schleimig grau ist. Am Dorfrand brennt es. Der Kohlestaub in der Luft macht aus weißen Ziegen schwarze.
"Wir haben in der Schule über die Erwärmung der Erde gesprochen. Und wie die Kohle dazu beiträgt und wie sie die Luft verschmutzt", erzählt Shivani.
Dann klettert das 14-jährige Mädchen in Plastiksandalen die steilen Abhänge einer offenen Bergbauhalde herunter. Von oben sieht es so aus, als sei ein Vulkan ausgebrochen. Ihr kommt ein Strom von Männern, Frauen und Kindern mit rußverschmierten Gesichtern entgegen, die Bastkörbe mit schweren Kohlebrocken auf ihren Köpfen balancieren. Manchmal schießen Flammen aus glühenden Bodenspalten. Die Luft schmeckt nach Metall und riecht nach Schwefel.
Apokalypse als Alltag
Für Shivani ist diese Apokalypse Alltag. Sie lebt mit ihrer Familie in der Region Jharia im armen, aber besonders rohstoffreichen ostindischen Bundesstaat Jharkhand. Hier dreht sich alles um das schwarze Gold, das Indiens Energiehunger stillen soll.
"Jharias Kohle ist für Indiens Entwicklung unverzichtbar", erklärt Deepak Prakash von der Regierungspartei BJP. Jharia habe die größten Reserven. Die Kohle sei der wichtigste Energieträger im Kampf gegen die Armut.
Der Abbau der Kohle begann unter den britischen Kolonialherren und hat seitdem stetig zugenommen – mit gravierenden Folgen. Heute lodern in Jharia rund 70 Kohlebrände, einige seit fast 100 Jahre. Die Brandherde sind Kohleflöze, die unter der Erde liegen. Die Flammen verwandeln Steine in Lava, sie lassen den Boden einbrechen und verschlingen Dörfer. Ashok Agarwal hat fast sein ganzes Leben in Jharia verbracht. Der Großvater ist ein studierter Physiker. Agarwal kämpft für das Überleben seiner Heimat und wirft der Kohleindustrie vor, auch die löschbaren Flözbrände bewusst nicht zu löschen.
"Die benutzen das Feuer, um sich das Land zu sichern. Wenn sich das Feuer an das nächste Dorf heran frisst, muss das Dorf geräumt werden. Und wenn das Dorf weg ist, können sie auch dort ungehindert Kohle fördern. Wir reden hier von über 700.000 Familien, die irgendwann umgesiedelt werden müssen."
Indien wandelt sich von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die staatliche Kohleproduktion öffnet sich unter dem wirtschaftsfreundlichen Premierminister Narendra Modi immer stärker für die großen, privaten Rohstoffunternehmen.
Illegale Kohlesammler am untersten Ende der Kette
Am untersten Ende der Förderkette leben die sogenannten illegalen Kohlesammler wie Shivani. Nach einer knappen halben Stunde Fußmarsch durch den Tagebau hat das Mädchen seinen Vater entdeckt, der mit einer Spitzhacke Kohlebrocken aus der Wand eines schmalen Grabens schlägt. Er war mal Kleinbauer, doch sein kleines Stück Land gibt es nicht mehr.
"Die Kohle sichert unser Überleben. Sie ernährt unsere Kinder. Die Luft hier macht uns alle krank, aber es gibt hier keine andere Arbeit für Menschen wie uns."
Dann wuchtet er einen Bastkorb mit Kohlebrocken auf Shivanis Kopf. 20 Kilogram, die das Mädchen in Plastiksandalen die steilen Hänge des Tagebaus hinaufträgt in gefährlicher Nähe zu gigantischen Maschinen, deren Schaufeln sich gierig in die Kohle fressen. Die nationale Bergbaugesellschaft lässt die Kohlesammler für ein paar Stunden am frühen Morgen gewähren. Manche Wächter kassieren Geld fürs Wegschauen. Shivani schafft vor der Schule vier Bastkörbe. Zu Hause wartet ihre Mutter Sumitra Devi. Sie klagt über Herzschmerzen und hustet stark. Sumitra ist wie ihr Mann nie zur Schule gegangen. Vom Klimawandel hat sie durch lokale Umweltaktivsten wie Ashok Agarwal erfahren. Sie zuckt mit den Schultern.
"Wir brauchen doch alle Strom, um gut zu leben, und Kohle gibt uns Strom", sagt sie und ergänzt: "Ohne Strom können wir bestimmt auch das Klima nicht schützen."
Wie alle Dorfbewohner am Rande des Tagebaus verbrennt Sumitra Devi die Rohkohle, um sie in raucharme Kokskohle zu verwandeln, mit der man kochen und heizen kann. Die Dorfbewohner verkaufen die Kokskohle säckeweise in der nächsten Stadt. An guten Tagen verdient Shivanis Familie 250 Rupien - umgerechnet 3,50 Euro. Die Familie träumt von einem Kühlschrank, Shivani von einem Laptop. Aktivist Ashok Agarwal fragt sich, was Entwicklung ist.
"Ihr im Westen lebt ein hoch entwickeltes Leben, weil ihr den Rest der Welt ausgebeutet habt. Das dürfen wir nicht nachmachen. Unser Lebensstil ist für den Klimawandel verantwortlich. Unser Leben muss wieder spartanischer werden, sonst können wir das Klima nicht schützen."
Indien ist drittgrößter Produzent klimaschädlicher Treibhausgase
Indien ist heute nach den USA und China der drittgrößte Produzent von klimaschädlichen Treibhausgasen und will sich auf kein festes Reduktionsziel beim Kohlendioxidausstoß festlegen lassen. Bis 2020 soll die Kohleförderung auf 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr verdoppelt werden. Der Ausstoß von Kohlendioxid wird sich im nächsten Jahrzehnt vervielfachen, weil Indien ungehemmt wachsen will. Indiens Umweltminister Prakash Javadekar vertraut beim Klimaschutz vor allem auf den technischen Fortschritt.
"Wir leiden wegen der historischen Emissionen anderer unter dem Klimawandel. Indien hat das Problem nicht verursacht, aber wir wollen ein Teil der Lösung sein. Ich vertraue auf den Willen und die menschliche Intelligenz."
Ab 2030 will Indien 40 Prozent seiner Energie ohne Kohle und Öl produzieren. Für Shivanis Familie und zigtausend andere kleine Kohlebauern im reichen Kohlebecken von Jharia geht es ums Überleben. Sie sind umzingelt von den Flammen des Bergbaus und des Klimawandels. Die meisten Familien leben hier ohne Strom.
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