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Indiens Jahrmarkt der Demokratie
Besuch auf der Protestmeile

Politischer Protest ist in Indien institutionalisiert. In Neu-Delhi hat er sogar eine eigene Straße: Auf der Jantar-Mantar-Protestmeile ist es jeden Tag laut, gegen alle Arten von Missständen. Vielleicht muss der Protest bald weg aus dem Schatten der Regierungsgebäude. Aber nicht wegen der Regierung.

Von Jürgen Webermann |
    Protestmeile Jantar Mantar in Neu-Delhi
    In Mexiko gibt es eine "Partei der institutionalisierten Revolution" – in Indien gibt es eine Straße des institutionalisierten Protestes: Jantar Mantar (picture alliance / dpa / EPA / Harish Tyagi)
    Hinter den gelben Absperrgittern der Polizei beginnt er, der Jahrmarkt der Demokratie. Die Lautsprecher, aus denen die Forderungen krächzen, sind hier dauerhaft an Laternenpfählen angebracht.
    Armee-Veteranen fordern höhere Pensionen, so wie es die Regierung versprochen hat. Auf dem Podium ihres Standes hocken mehrere Männer. Sie befinden sich im Hungerstreik.
    Schräg gegenüber das Podium der Gorkhas, Tee-Pflücker aus Darjeeling. Sie fordern einen eigenen Bundesstaat namens Gorkhaland. Außerdem steht da: "Wir sind keine Terroristen."
    Seit Juli ist Sunal hauptberuflich Demonstrant
    Die Proteste am Jantar Mantar spiegeln die Probleme Indiens. Sunil zum Beispiel steht für die vielen Landwirte, die um ihre Existenz fürchten. Das Plakat hinter ihm verweist darauf, dass die Bauern schon seit drei Monaten auf dem Jantar Mantar protestieren:
    "Wir wollen, dass die Regierung uns endlich faire Preise garantiert. Die niedrigen Preise sind der Grund, warum sich so viele Landwirte umbringen. Wir bekommen nicht nur wenig Geld, sondern nicht mal Kredite. Es wird immer schlimmer."
    Sunil beackert ein halbes Hektar Land, Sojabohnen, Weizen und Reis. Er kommt aus Madhya Pradesh in Zentralindien. Aber seit Juli ist er im Hauptberuf Demonstrant. Er ist alleinstehend, so wie auch der indische Premierminister, wie Sunil lachend hinzufügt:
    "Meine Brüder ackern für mich mit auf dem Feld. Und ich protestiere für sie hier in Delhi."
    Protestmeile im Schatten der Regierungsgebäude
    Sunil schläft am Proteststand. Er duscht sich mit dem Wasser, das ein Tanklaster anliefert. Essen erhält er gratis in einem Sikh-Tempel um die Ecke. Und den Tee kauft er beim Händler auf dem Jantar Mantar.
    "Das hier ist der Ort, um sich Gehört in Indien zu verschaffen. Die Politiker, die Regierung sind hier um die Ecke. Sie erfahren von uns."
    Tatsächlich befindet sich die Protestmeile im politischen Zentrum der Stadt. Das Parlament, Ministerien – alles gleich nebenan.
    Vor einer Bühne neben Sunils Stand sitzen bestimmt hundert Frauen aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh. Sie sind Sozialarbeiterinnen, und ebenfalls stinksauer auf die Regierung:
    "Wir wollen endlich gehört werden. Immer wenn die Regierung uns braucht, für ihre Sozialprogramme oder Impfkampagnen gegen Kinderlähmung, dann sind wir da. Aber wir werden mies bezahlt. Wir werden keine Ruhe geben, bis wir endlich mehr bekommen!", sagt Sunita, die seit fünf Tagen hier ist.
    Ihr Mann und ihre drei Kinder sind zu Hause geblieben. Sunita erklärt, sie verdiene etwa 60 Euro im Monat. In Delhi gibt es für die gleiche Arbeit das Dreifache, also wollen auch die Frauen aus Uttar Pradesh das Dreifache.
    Auch Journalisten protestieren nach Tod einer Kollegin
    Am Ausgang der Jantar-Mantar-Straße schließlich protestieren sie für das Recht, überhaupt hier ihre Meinung sagen zu dürfen. Journalisten, Aktivistinnen – sie erinnern an eine bekannte Reporterin, die im September in Südindien ermordet wurde. Sie fürchten, dass die nationalistische Regierung das Recht auf Meinungsfreiheit immer weiter beugt, mit Hetze im Internet, mit Druck auf Medienhäuser und – wie sie hier meinen – manchmal mit Gewalt.
    Aber Lina, eine der Demonstrantinnen, glaubt an den Aufstand der Anständigen. Wie so oft in Indien, ist der Optimismus auch der Menschen auf dem Jantar Mantar nicht zu brechen.
    "Die Unterdrückund der Meinungsfreiheit ist leider Realität bei uns. Aber wenn wir weiter Widerstand leisten, dann werden wir gewinnen. Die Jantar Mantar Straße werden sie zum Beispiel niemals dicht machen können. Und wenn doch, dann erschaffen wir eben viele neue Jantar Mantars."
    Muss Jantar Mantar bald weg? Anwohnern ist es zu laut
    Es kann sein, dass Linas Ankündigung schneller wahr wird als sie und die anderen am Jantar Mantar gedacht haben. Schuld daran ist aber diesmal nicht die Regierung. Anwohner haben vor Gericht eine Verlegung der Protestmeile erwirkt. Es kann gut sein, dass der Jahrmarkt der Demokratie bald woanders stattfinden muss.