Es ist eine Mischung aus Schock, aus Scham, auch aus Angst, die Menschen im ganzen Land auf die Straßen treibt. Wochenlang. Selten hat ein Ereignis Indien so aufgewühlt, so erschüttert, wie die brutale Gruppenvergewaltigung vom 16. Dezember in Neu Delhi. Das Land hat zwar die Kolonialherrschaft der Briten abgeschüttelt. Eine soziale Revolution hat es aber nie erlebt. Ist das jetzt eine?
"Die Revolution muss kommen. Und sie hat bereits begonnen."
Ist sich diese Protestierende in Neu Delhi sicher. Auf ihrem schwarzen Stirnband, das sie um den Kopf gebunden trägt, stehen die Worte "Revolution 16. Dezember". Es war eine uralte Sternwarte in der Hauptstadt, die zum Versammlungsort der Demonstrierenden wurde: Hier hungerte öffentlich eine Frau und gelobte, das so lange weiter zu tun, bis die Polizei ihren Vergewaltigungsfall aufnähme. Hier trafen sich Theatergruppen, verwandelten Menschen den grauen Asphalt in ein Meer aus Kerzen:
"Die Proteste haben hier ihren Ausgangspunkt und sind nun zu einem Symbol geworden. Die ganze Welt kämpft jetzt für Frauenrechte. In Indien gilt das nicht nur für die Städte: Ein muslimischer Geistlicher kam hierher und hat uns berichtet, wie auf dem Land Frauen in Burkhas an Protestmärschen mit Kerzen teilgenommen haben."
Verkündete stolz einer der Organisatoren. Und einer von Indiens wichtigsten Großunternehmern, der ehemalige Infosys-Chef Nandan Nilekani, ließ sich gar zu einem Vergleich mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA hinreißen: Damals hätten die Weißen es der heute berühmten Rosa Parks verweigert, in ihrem Teil des Busses Platz zu nehmen. Die Wut darüber habe die Diskussion über Bürgerrechte angefacht. Vergleichbar damit befeuere heute die Empörung über die Gruppenvergewaltigung von Delhi nun den Wandel in Indien:
"Man könnte den Vorfall hier in Delhi als unseren Rosa-Parks-Moment bezeichnen. Der Wandel wird jetzt kommen. Vielleicht nicht so schnell, wie die Menschen wollen, die Sofortlösungen wünschen. Aber er wird kommen."
Nicht alle sind so zuversichtlich wie Nilekani. Indien hatte zwar tatsächlich begonnen, sich quälende Fragen zu stellen, stellte sich wie selten zuvor wahrhaft infrage. Aber was da nun im Zuge dessen ans Tageslicht kam, ließ so manchen erschaudern:
"Noch mehr Schande für Indien, das sowieso schon so sehr unter internationaler Beobachtung steht."
So die Diagnose dieser Fernsehmoderatorin angesichts des Falls, der im März Schlagzeilen machte. In der Stadt Agra, dem Ort, wo der sagenumwobene Traumpalast Taj Mahal steht, einer Touristenhochburg also, sprang eine Britin vom Balkon ihres Hotels. Aus Angst davor, vom Besitzer vergewaltigt zu werden. Und das nur wenige Tage, nachdem eine Schweizerin in Zentralindien von mehreren Männern brutal missbraucht worden war - vor den Augen ihres gefesselten Partners.
Dafür schämte sich Indien, Ende April wurde es dann abermals wütend.
Sie waren wieder da, die Protestierenden: nach Berichten, dass in der Hauptstadt ein fünfjähriges Mädchen verschleppt und dann über Tage in einer Wohnung festgehalten und missbraucht worden sein soll. "Hört das denn nie auf", ist die Frage, die sich Indiens Bevölkerung angesichts immer neuer, täglicher Berichte über sexuelle Gewalt im Land zu stellen begann:
"Ob es sich um eine Fünfjährige handelt oder um eine 23-Jährige. Es gibt einfach keine Sicherheit für Frauen in unserem Land. Und das nennt sich freies Indien? Ist das ein freies Land, in dem Frauen sich nach 9 Uhr nicht mehr vor die Tür wagen können? Ist das ein freies Land, in dem wir Angst haben müssen, mit dem Bus zu fahren?"
Nicht nur die Aktivisten, auch die Statistiken sprechen eine brutal deutliche Sprache, selbst die offiziellen. Alle 20 Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt. In den ersten Monaten dieses Jahres nahm die Polizei in der Hauptstadt Neu Delhi im Schnitt vier Anzeigen pro Tag wegen Vergewaltigung auf. Die Zahl hat sich also seit dem Vorjahr sogar verdoppelt. Europäische Länder überarbeiteten ihre Reiseempfehlungen. Da konnten Landeskenner noch so oft warnen, jetzt doch bitte, nachdem man die Geburtsstätte so vieler Weltreligionen lange verklärt habe, nicht ins andere Extrem zu verfallen: Indien sei als Reiseland, auch für Frauen, immer noch vergleichsweise sicher. Die Welt aber sah Indien auf einmal mit anderen Augen. Und Indien sich selbst auch:
"Wir leben hier seit tausend Jahren mit einer Geisteshaltung, der zufolge Frauen zu Hause bleiben sollen und Männer arbeiten gehen. Das muss sich ändern."
"Auf der ganzen Welt denken die Menschen doch, dass die Frauen nur Bürger zweiter Klasse sind, die man wie eine Ware gebrauchen und dann wegwerfen kann. Das muss sich überall ändern, nicht nur in Indien."
So diese Aktivisten. Indien erschauderte vor sich selbst. Und stellte die erschreckende Selbstdiagnose: Indische Frauen haben es mit einem sie in fast allen Lebenslagen kontrollierenden Patriarchat zu tun. Doch was sich auch feststellen ließ: Erstmals bekam sexuelle Gewalt die Aufmerksamkeit, die sie schon lange verdient gehabt hätte. Insofern sagen die verheerenden Statistiken und Berichte womöglich auch aus: Endlich trauen sich Frauen überhaupt an die Öffentlichkeit. Endlich steht die Polizei mehr unter Druck, die Fälle auch zu bearbeiten. Und die seit Jahren in Indien lebende Buchautorin Katharina Kakar warnt Deutsche und Europäer davor, die entscheidende Frage - wie frauenfeindlich ist Indien - erstens zu schnell und zweitens zu sehr von oben herab zu beantworten:
"Was die Möglichkeit angeht von Frauen in Indien, Karriere zu machen, auch das selbe Gehalt zu bekommen wie Männer, aufzusteigen, Männerberufe – sogenannte - wie IT-Berufe auszuüben, da ist Indien sehr viel weiter als Deutschland. Das soll nicht herunterspielen, dass das nur ein kleines Segment, das Segment der gebildeten Frauen betrifft. Dass eine Menge Frauen in unteren und Mittelschichten in Verhältnissen leben, die wir uns nur schwer vorstellen können. Wo es wirklich sehr frauenfeindlich zugeht."
Im Indira-Gandhi-Museum in der Hauptstadt Neu Delhi drängeln sich täglich Dutzende Schulklassen an den Glaskästen vorbei. Erwachsene – Männer wie Frauen - huldigen einer Politikerin, die von vielen zwar auch verachtet, von den meisten Indern aber wie eine Göttin verehrt wird. Huldigen einer Frau: der ersten Premierministerin, die das Land regierte.
"Es gibt ganz viele Nischen, in denen Frauen Macht haben, ihren eigenen Raum haben. Und wo die Frauen in ganz liberalen Verhältnissen aufwachsen. Im vierten Jahrhundert ist das Kamasutra geschrieben worden – das ist liberaler, als man sich irgendeine sexuelle Schrift in Europa denken kann. Da haben wir noch fast auf den Bäumen gelebt."
Was sich in so vielen anderen Bereichen auch feststellen lässt, gilt hier genauso: Indien gibt es nicht, es gibt ganz viele Indiens. Es arbeitet an seiner eigenen Marsmission und kann Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen bestücken, während der Bauer in Rajatshan mit einem Ochsen seinen trockenen Acker pflügt. Was die Frauen betrifft, so gibt es durchaus das Indien, das im 21. Jahrhundert angekommen ist. Für dieses Indien spricht diese Einwohnerin Delhis:
"Dies ist das erste Mal in der Geschichte, dass so viele Menschen sich gegen Gewalt gegen Frauen auflehnen. Sie reden jetzt über Themen, die so lange totgeschwiegen wurden: über Männlichkeit, Weiblichkeit, sexuelles Vergnügen, Gewalt. Wenn wir eine Kultur der Gewalt loswerden wollen, müssen wir die tiefer liegenden Wurzeln ausreißen."
Diese junge Frau spricht die Sprache des gebildeten, selbstbewussten, städtischen Indiens. Es gibt aber auch das andere Indien, das mittelalterlich anmutende. Auch nach der barbarischen Vergewaltigung der jungen Studentin in Neu Delhi fielen Äußerungen, die einem die Haare zu Berge stehen ließen. Die Bezeichnung "unglücklich" jedenfalls wäre für den Beitrag, den ein hochrangiger Politiker im Bundesstaat Madya Pradesh zu der Debatte leistete, stark untertrieben:
"Es gibt da ein sehr wichtiges Wort: Würde. Frauen, die ihre moralischen Grenzen missachten, beschwören das Unglück geradezu herauf. Wenn man die überschreitet, wird man bestraft."
Wenn sogar Politiker und Minister öffentlich wagen, derart frauenfeindliche Sätze abzusondern, dann sage das viel aus über die mentale Verfassung des Landes, wendeten Kritiker ein. Ein anderer – nicht minder unter Täter-Opfer-Verdrehung leidender - Kommentar brachte eine an und für sich zur Nüchternheit verpflichtete indische Fernsehmoderatorin richtig auf die Palme. Und zwar so sehr, dass sie in einem Interview zu dem Thema ihre Gesprächspartnerin fragte, ob sie sich denn ernsthaft ein Indien zurückwünsche, in dem Frauen das Haus nicht verließen.
Immerhin: Die indischen Medien wiesen diejenigen, denen selbst angesichts der Gruppenvergewaltigung in Delhi noch Frauenfeindliches über die Lippen kam, sofort und unzweideutig in ihre Schranken. Was sich hier jedoch beobachten lässt, ist das Aufeinanderprallen des neuen, des modernen Indiens, und des mittelalten. Frauen dringen in gesellschaftliche Sphären vor, in öffentliche Räume, in denen konservative Männer sie bislang weder erwarteten, noch haben wollten. Und das alte Indien, das kulturell noch so puritanische, wehrt sich:
"Jede Frau, die nicht in dieses Bild passt, die mit kurzen Hosen durch die Stadt läuft, die eine sexuelle Autonomie ausstrahlt, die ist Freiwild."
So die Ethnologin Katharina Kakar. Es ist ein Machtkampf, der hier stattfindet. Ein Kampf der Kulturen vielleicht sogar – aber ein innerindischer.
Ein paar Stühle werden noch zurechtgerückt, die Saris glatt gestrichen, dann kann der Unterricht losgehen. Eine Gruppe von etwa 20 Frauen hier in der Metropole Mumbai lauscht Lehrerin Devashala. Die Lehrerin verliert nicht viel Zeit mit vorsichtigem Abtasten. Ob sie von dem Fall in Delhi gehört hätten, bei dem eine Frau von mehreren Männern in einem Bus vergewaltigt wurde, fragt Devashala sehr direkt. Ihre Zuhörerinnen nicken:
"Ich frage die Frauen: Was sollte man mit den Vergewaltigern machen? - Alle antworten: Aufhängen! Was aber, frage ich, wenn das bei euch zu Hause passiert? Euer Mann euch vergewaltigt? Das ist dann ein Schock für sie. Wenn das innerhalb der Ehe passiert, könne sich das nicht um eine Vergewaltigung handeln, so denken die meisten. Darüber diskutieren wir."
Bei allen hier Versammelten handelt es sich um Frauen, die bei wohlhabenderen Familien Mumbais im Haushalt helfen. Putzen, waschen, kochen. Ein Arbeit, für die es wenig Geld gibt. Und für die sie von der Gesellschaft nur Verachtung ernten. Diese Verachtung haben sie verinnerlicht. So etwas wie Selbst- oder Körperbewusstsein hätten sie nie entwickelt, erklärt Sozialarbeiterin Schwester Jennifer:
"Diese Frauen achten nur darauf, dass es ihrem Ehemann und ihren Kindern gut geht, oder kümmern sich um ihre Arbeit. Die trinken noch nicht mal Wasser, solange ihre Arbeit nicht erledigt ist."
Nach Schätzungen der Weltbank sind es etwa 90 Millionen Frauen, die in indischen Haushalten aushelfen. Ihr Los, wenigstens etwas zu verbessern, hat sich die Hilfsorganisation "National Domestic Workers Movement" zur Aufgabe gemacht. Gegründet von der Belgierin Jeanne Devos vor über 25 Jahren:
"Fast alle Frauen, 80 Prozent von ihnen, haben sexuelle Belästigung erlebt. Es kann hinter verschlossenen Türen stattfinden. Es kann der Milchmann sein, ein Nachbar. Wir versuchen, ihre Verteidigungsinstinkte zu aktivieren. Bieten auch Karatekurse an. Mittlerweile kann ich viel von unseren Frauen lernen: Sie wissen sehr genau, wie sie sich wehren können, mit offenen Sicherheitsnadeln und anderen Tricks."
Es ist der Versuch, diesen Frauen wenigstens ein wenig Selbstvertrauen einzuflößen. Was die Haushaltshilfen angeht, so greifen hier alle Unterdrückungsmechanismen, die die indische Gesellschaft parat hält: Sie entstammen einer unteren Kaste, sind bitterarm – und Frauen. Von der sozialen Frage lässt sich die Geschlechterfrage nicht trennen. Das hat Indien auch erkannt. Nur: In einem Land mit Hunderten Millionen unter der Armutsgrenze, in dem es erst mal darum geht, Kinderbäuche mit Nahrung zu füllen, lässt sich das Problem eben so leicht nicht bekämpfen. Trotzdem: Medien, Intellektuelle, Politik schürfen durchaus tief, lassen bei der Freilegung der Wurzeln, bei der Suche nach den Ursachen kaum ein Thema aus. Ist es womöglich der Hinduismus, die Religion, die hier eine Rolle spielt?
"Der Hinduismus hat sehr frauenfeindliche Seiten, natürlich. Aber er vermittelt genauso auch Frauenbilder, wo die Frau enorm stark ist: die Göttinnen Kali, Durga, die bewaffnet alle Männer besiegen. Der Hinduismus hat beides."
Bis in ihre Träume hinein verfolgte die Inder die Debatte um Gewalt gegen Frauen. Denn auch die Traumwelten, in die Menschen so gerne entfliehen, wurden in den letzten Wochen unter die Lupe genommen. Ist Bollywood, das mehr Filme im Jahr hervorbringt als Hollywood und die Europäer zusammengerechnet, für das archaische Frauenbild verantwortlich? Das auf Zelluloid gerne nach dem Schema verfährt: Mann will Frau. Frau wehrt sich. Mann kriegt sie am Ende doch. Zu dieser Frage will sich Regisseur Somnath Sen zwar nicht äußern, aber eins macht er klar:
"Bollywood behandelt seine Frauen wie Dreck. Ich schäme mich dafür. Filme verkaufen sich wegen der Namen der männlichen Hauptdarsteller. Anders, als in den USA, wo für Meryl Streep oder Jodie Foster Drehbücher geschrieben werden. Ich war mal in der Situation, in der ich zwei Frauen als Hauptdarstellerinnen hatte. Da hat der Produzent gesagt: Mach aus einer einen Mann und sorge dafür, dass sie eine Affäre haben."
Die meisten Soziologen jedoch sehen als Hauptgrund für das gefährlich veraltete Frauenbild noch immer die Großfamilie, in der das verheiratete Paar – mal abgesehen davon, dass sich die Ehepartner in der Regel gar nicht selbst ausgesucht haben - wenig selbstbestimmt aufgeht. Und in der die Frau eben vor allem die Funktion hat, Kinder zu kriegen, für den Fortbestand und das Wohlergehen der Familie zu sorgen. Das heißt, bevorzugt für die Söhne. Weiblicher Nachwuchs – das ist noch immer ein Problem – ist auch deshalb unwillkommener, weil er wegen hoher Mitgiftzahlungen zur finanziellen Belastung werden kann. Die Abtreibungsrate ist erschreckend hoch:
"Eine Frau in Indien ist noch nicht einmal im Mutterleib sicher, weil sie abgetrieben werden kann. Sie darf noch nicht einmal einen einzigen Atemzug tun. Das ist grausam und spricht Bände darüber, wie wir mit dem weiblichen Geschlecht umgehen."
So die Autorin Shobhaa De. Nachdem Indien sich in dieser Richtung in den vergangenen Monaten ausgiebig selbst diagnostiziert hat, ist klar: Es muss sich etwas ändern. Aber was?
Der Schrei nach Vergeltung, der Schrei nach dem Strang für die mutmaßlichen Vergewaltiger, war in Neu Delhi über Wochen laut und deutlich zu vernehmen.
Auch, wenn die Rufe nach der Todesstrafe bald in eine tiefere Debatte mündeten, ganz verhallt sind sie nie. Sie wären vermutlich auch nie so laut ausgefallen, wenn die Mühlen der Justiz in Indien nicht so langsam mahlen würden. Die Regierung sah sich – unter dem Druck der Straße - zum Handeln gezwungen. Und ersann schnell - einige fanden hastig - ein neues Gesetz, das härtere Strafen für sexuelle Gewalt vorsieht:
"Die Todesstrafe ist vorgesehen als Höchststrafe, wenn eine Vergewaltigung zur Folge hat, dass das Opfer stirbt oder sich im Wachkoma befindet."
Erklärte Kabinettsmitglied Chidambaram. Die Regierung erweckte damit den Eindruck, zügig und hart reagiert zu haben. Jedoch wendeten Kritiker ein: Die wahren Ursachen bekämpfe das neue Gesetz nicht. Dabei hatte die Regierung extra eine Expertenkommission eingesetzt, die Vorschläge für die Gesetzesnovelle erarbeitete, deren Einlassungen die Politik am Ende jedoch weitgehend ignorierte:
"Teil unserer Anstrengung muss es sein, die Geisteshaltung der Gesetzeshüter zu ändern. Wir müssen die Wurzeln der Krankheit angehen, nicht nur die Symptome. Das beginnt bei der Erziehung zu Hause und in der Schule - und dauert ein Leben lang. Das wird Zeit brauchen, aber dieser Prozess muss jetzt beginnen."
So die Juristin Leila Seth, Mitglied der hochrangig besetzten Kommission. Wie Recht sie damit hatte, offenbarte der Vergewaltigungsfall des fünfjährigen Mädchens in Delhi Ende April: Damals kursierten Berichte, nach denen ein Beamter dem Vater des Opfers eine Summe von umgerechnet rund 30 Euro in Aussicht gestellt haben soll, wenn der die Vergewaltigung seiner Tochter nicht öffentlich mache. Statt noch härtere Gesetze zu fordern oder gar die Todesstrafe, schwieg die Expertenkommission ganz bewusst zu diesem Thema. Sagte aber andererseits sehr viel – indem sie Themen ansprach, über die die Gesellschaft bislang lieber geschwiegen hatte:
"Dass Vergewaltigung in der Ehe vom Gesetz ausgespart wird, stammt aus einer sehr alten Vorstellung der Heirat, derzufolge die Frau in den Besitz des Mannes übergeht."
So die Juristin Leila Seth, die damit auf den Umstand hinweist, dass sexuelle Gewalt erschreckend oft hinter verschlossenen Türen stattfindet, dort aber geduldet sei und deshalb ungesühnt bleibe. Daran wird sich auch weiterhin nichts ändern: Vergewaltigung in der Ehe ist auch nach der Gesetzesänderung kein Straftatbestand. Vielleicht wäre das für eine Gesellschaft auch zu viel an Debatte auf einmal gewesen. Zusätzlich zu der, die ohnehin schon tobte.
"Ich war beeindruckt davon, wie Menschen, die sich nicht kannten, friedlich auf den Straßen zusammenkamen. Und dass es vor allem auch junge Männer waren, die forderten, dass diese Geschlechterungerechtigkeit aufhören muss. So etwas habe selbst ich in meinem hohen Alter noch nie erlebt. Das ist die wahre Hoffnung für unser Land."
Lobte der ehemalige Verfassungsrichter Verma die jungen Demonstrierenden. Die Indien dazu zwangen, sich selber sozusagen auf die Couch zu legen und ganz genau untersuchen zu lassen. Die Symptome sind benannt. Jetzt geht es darum, sie zu behandeln. Das wird dauern. Aber immerhin: Es ist etwas in Bewegung geraten in Indien. Auch der trauernde Vater der in Delhi vergewaltigten Studentin hat das gespürt. Die Anteilnahme am Schicksal seiner Tochter – sie wirkte für ihn wie eine Kerze, die in der ihn umgebenden Dunkelheit flackerte:
"Dies ist nicht mehr nur mein ganz persönlicher Fall. Dieser Fall gehört ganz Indien. Er berührt nicht eine bestimmt Kaste, Gemeinde oder Region, sondern das ganze Land."
Vielleicht vollzieht sich da in Indien tatsächlich gerade so etwas wie eine kulturelle Revolution – wenn auch eine schleichende. Und bisweilen schmerzhafte.
"Die Revolution muss kommen. Und sie hat bereits begonnen."
Ist sich diese Protestierende in Neu Delhi sicher. Auf ihrem schwarzen Stirnband, das sie um den Kopf gebunden trägt, stehen die Worte "Revolution 16. Dezember". Es war eine uralte Sternwarte in der Hauptstadt, die zum Versammlungsort der Demonstrierenden wurde: Hier hungerte öffentlich eine Frau und gelobte, das so lange weiter zu tun, bis die Polizei ihren Vergewaltigungsfall aufnähme. Hier trafen sich Theatergruppen, verwandelten Menschen den grauen Asphalt in ein Meer aus Kerzen:
"Die Proteste haben hier ihren Ausgangspunkt und sind nun zu einem Symbol geworden. Die ganze Welt kämpft jetzt für Frauenrechte. In Indien gilt das nicht nur für die Städte: Ein muslimischer Geistlicher kam hierher und hat uns berichtet, wie auf dem Land Frauen in Burkhas an Protestmärschen mit Kerzen teilgenommen haben."
Verkündete stolz einer der Organisatoren. Und einer von Indiens wichtigsten Großunternehmern, der ehemalige Infosys-Chef Nandan Nilekani, ließ sich gar zu einem Vergleich mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA hinreißen: Damals hätten die Weißen es der heute berühmten Rosa Parks verweigert, in ihrem Teil des Busses Platz zu nehmen. Die Wut darüber habe die Diskussion über Bürgerrechte angefacht. Vergleichbar damit befeuere heute die Empörung über die Gruppenvergewaltigung von Delhi nun den Wandel in Indien:
"Man könnte den Vorfall hier in Delhi als unseren Rosa-Parks-Moment bezeichnen. Der Wandel wird jetzt kommen. Vielleicht nicht so schnell, wie die Menschen wollen, die Sofortlösungen wünschen. Aber er wird kommen."
Nicht alle sind so zuversichtlich wie Nilekani. Indien hatte zwar tatsächlich begonnen, sich quälende Fragen zu stellen, stellte sich wie selten zuvor wahrhaft infrage. Aber was da nun im Zuge dessen ans Tageslicht kam, ließ so manchen erschaudern:
"Noch mehr Schande für Indien, das sowieso schon so sehr unter internationaler Beobachtung steht."
So die Diagnose dieser Fernsehmoderatorin angesichts des Falls, der im März Schlagzeilen machte. In der Stadt Agra, dem Ort, wo der sagenumwobene Traumpalast Taj Mahal steht, einer Touristenhochburg also, sprang eine Britin vom Balkon ihres Hotels. Aus Angst davor, vom Besitzer vergewaltigt zu werden. Und das nur wenige Tage, nachdem eine Schweizerin in Zentralindien von mehreren Männern brutal missbraucht worden war - vor den Augen ihres gefesselten Partners.
Dafür schämte sich Indien, Ende April wurde es dann abermals wütend.
Sie waren wieder da, die Protestierenden: nach Berichten, dass in der Hauptstadt ein fünfjähriges Mädchen verschleppt und dann über Tage in einer Wohnung festgehalten und missbraucht worden sein soll. "Hört das denn nie auf", ist die Frage, die sich Indiens Bevölkerung angesichts immer neuer, täglicher Berichte über sexuelle Gewalt im Land zu stellen begann:
"Ob es sich um eine Fünfjährige handelt oder um eine 23-Jährige. Es gibt einfach keine Sicherheit für Frauen in unserem Land. Und das nennt sich freies Indien? Ist das ein freies Land, in dem Frauen sich nach 9 Uhr nicht mehr vor die Tür wagen können? Ist das ein freies Land, in dem wir Angst haben müssen, mit dem Bus zu fahren?"
Nicht nur die Aktivisten, auch die Statistiken sprechen eine brutal deutliche Sprache, selbst die offiziellen. Alle 20 Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt. In den ersten Monaten dieses Jahres nahm die Polizei in der Hauptstadt Neu Delhi im Schnitt vier Anzeigen pro Tag wegen Vergewaltigung auf. Die Zahl hat sich also seit dem Vorjahr sogar verdoppelt. Europäische Länder überarbeiteten ihre Reiseempfehlungen. Da konnten Landeskenner noch so oft warnen, jetzt doch bitte, nachdem man die Geburtsstätte so vieler Weltreligionen lange verklärt habe, nicht ins andere Extrem zu verfallen: Indien sei als Reiseland, auch für Frauen, immer noch vergleichsweise sicher. Die Welt aber sah Indien auf einmal mit anderen Augen. Und Indien sich selbst auch:
"Wir leben hier seit tausend Jahren mit einer Geisteshaltung, der zufolge Frauen zu Hause bleiben sollen und Männer arbeiten gehen. Das muss sich ändern."
"Auf der ganzen Welt denken die Menschen doch, dass die Frauen nur Bürger zweiter Klasse sind, die man wie eine Ware gebrauchen und dann wegwerfen kann. Das muss sich überall ändern, nicht nur in Indien."
So diese Aktivisten. Indien erschauderte vor sich selbst. Und stellte die erschreckende Selbstdiagnose: Indische Frauen haben es mit einem sie in fast allen Lebenslagen kontrollierenden Patriarchat zu tun. Doch was sich auch feststellen ließ: Erstmals bekam sexuelle Gewalt die Aufmerksamkeit, die sie schon lange verdient gehabt hätte. Insofern sagen die verheerenden Statistiken und Berichte womöglich auch aus: Endlich trauen sich Frauen überhaupt an die Öffentlichkeit. Endlich steht die Polizei mehr unter Druck, die Fälle auch zu bearbeiten. Und die seit Jahren in Indien lebende Buchautorin Katharina Kakar warnt Deutsche und Europäer davor, die entscheidende Frage - wie frauenfeindlich ist Indien - erstens zu schnell und zweitens zu sehr von oben herab zu beantworten:
"Was die Möglichkeit angeht von Frauen in Indien, Karriere zu machen, auch das selbe Gehalt zu bekommen wie Männer, aufzusteigen, Männerberufe – sogenannte - wie IT-Berufe auszuüben, da ist Indien sehr viel weiter als Deutschland. Das soll nicht herunterspielen, dass das nur ein kleines Segment, das Segment der gebildeten Frauen betrifft. Dass eine Menge Frauen in unteren und Mittelschichten in Verhältnissen leben, die wir uns nur schwer vorstellen können. Wo es wirklich sehr frauenfeindlich zugeht."
Im Indira-Gandhi-Museum in der Hauptstadt Neu Delhi drängeln sich täglich Dutzende Schulklassen an den Glaskästen vorbei. Erwachsene – Männer wie Frauen - huldigen einer Politikerin, die von vielen zwar auch verachtet, von den meisten Indern aber wie eine Göttin verehrt wird. Huldigen einer Frau: der ersten Premierministerin, die das Land regierte.
"Es gibt ganz viele Nischen, in denen Frauen Macht haben, ihren eigenen Raum haben. Und wo die Frauen in ganz liberalen Verhältnissen aufwachsen. Im vierten Jahrhundert ist das Kamasutra geschrieben worden – das ist liberaler, als man sich irgendeine sexuelle Schrift in Europa denken kann. Da haben wir noch fast auf den Bäumen gelebt."
Was sich in so vielen anderen Bereichen auch feststellen lässt, gilt hier genauso: Indien gibt es nicht, es gibt ganz viele Indiens. Es arbeitet an seiner eigenen Marsmission und kann Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen bestücken, während der Bauer in Rajatshan mit einem Ochsen seinen trockenen Acker pflügt. Was die Frauen betrifft, so gibt es durchaus das Indien, das im 21. Jahrhundert angekommen ist. Für dieses Indien spricht diese Einwohnerin Delhis:
"Dies ist das erste Mal in der Geschichte, dass so viele Menschen sich gegen Gewalt gegen Frauen auflehnen. Sie reden jetzt über Themen, die so lange totgeschwiegen wurden: über Männlichkeit, Weiblichkeit, sexuelles Vergnügen, Gewalt. Wenn wir eine Kultur der Gewalt loswerden wollen, müssen wir die tiefer liegenden Wurzeln ausreißen."
Diese junge Frau spricht die Sprache des gebildeten, selbstbewussten, städtischen Indiens. Es gibt aber auch das andere Indien, das mittelalterlich anmutende. Auch nach der barbarischen Vergewaltigung der jungen Studentin in Neu Delhi fielen Äußerungen, die einem die Haare zu Berge stehen ließen. Die Bezeichnung "unglücklich" jedenfalls wäre für den Beitrag, den ein hochrangiger Politiker im Bundesstaat Madya Pradesh zu der Debatte leistete, stark untertrieben:
"Es gibt da ein sehr wichtiges Wort: Würde. Frauen, die ihre moralischen Grenzen missachten, beschwören das Unglück geradezu herauf. Wenn man die überschreitet, wird man bestraft."
Wenn sogar Politiker und Minister öffentlich wagen, derart frauenfeindliche Sätze abzusondern, dann sage das viel aus über die mentale Verfassung des Landes, wendeten Kritiker ein. Ein anderer – nicht minder unter Täter-Opfer-Verdrehung leidender - Kommentar brachte eine an und für sich zur Nüchternheit verpflichtete indische Fernsehmoderatorin richtig auf die Palme. Und zwar so sehr, dass sie in einem Interview zu dem Thema ihre Gesprächspartnerin fragte, ob sie sich denn ernsthaft ein Indien zurückwünsche, in dem Frauen das Haus nicht verließen.
Immerhin: Die indischen Medien wiesen diejenigen, denen selbst angesichts der Gruppenvergewaltigung in Delhi noch Frauenfeindliches über die Lippen kam, sofort und unzweideutig in ihre Schranken. Was sich hier jedoch beobachten lässt, ist das Aufeinanderprallen des neuen, des modernen Indiens, und des mittelalten. Frauen dringen in gesellschaftliche Sphären vor, in öffentliche Räume, in denen konservative Männer sie bislang weder erwarteten, noch haben wollten. Und das alte Indien, das kulturell noch so puritanische, wehrt sich:
"Jede Frau, die nicht in dieses Bild passt, die mit kurzen Hosen durch die Stadt läuft, die eine sexuelle Autonomie ausstrahlt, die ist Freiwild."
So die Ethnologin Katharina Kakar. Es ist ein Machtkampf, der hier stattfindet. Ein Kampf der Kulturen vielleicht sogar – aber ein innerindischer.
Ein paar Stühle werden noch zurechtgerückt, die Saris glatt gestrichen, dann kann der Unterricht losgehen. Eine Gruppe von etwa 20 Frauen hier in der Metropole Mumbai lauscht Lehrerin Devashala. Die Lehrerin verliert nicht viel Zeit mit vorsichtigem Abtasten. Ob sie von dem Fall in Delhi gehört hätten, bei dem eine Frau von mehreren Männern in einem Bus vergewaltigt wurde, fragt Devashala sehr direkt. Ihre Zuhörerinnen nicken:
"Ich frage die Frauen: Was sollte man mit den Vergewaltigern machen? - Alle antworten: Aufhängen! Was aber, frage ich, wenn das bei euch zu Hause passiert? Euer Mann euch vergewaltigt? Das ist dann ein Schock für sie. Wenn das innerhalb der Ehe passiert, könne sich das nicht um eine Vergewaltigung handeln, so denken die meisten. Darüber diskutieren wir."
Bei allen hier Versammelten handelt es sich um Frauen, die bei wohlhabenderen Familien Mumbais im Haushalt helfen. Putzen, waschen, kochen. Ein Arbeit, für die es wenig Geld gibt. Und für die sie von der Gesellschaft nur Verachtung ernten. Diese Verachtung haben sie verinnerlicht. So etwas wie Selbst- oder Körperbewusstsein hätten sie nie entwickelt, erklärt Sozialarbeiterin Schwester Jennifer:
"Diese Frauen achten nur darauf, dass es ihrem Ehemann und ihren Kindern gut geht, oder kümmern sich um ihre Arbeit. Die trinken noch nicht mal Wasser, solange ihre Arbeit nicht erledigt ist."
Nach Schätzungen der Weltbank sind es etwa 90 Millionen Frauen, die in indischen Haushalten aushelfen. Ihr Los, wenigstens etwas zu verbessern, hat sich die Hilfsorganisation "National Domestic Workers Movement" zur Aufgabe gemacht. Gegründet von der Belgierin Jeanne Devos vor über 25 Jahren:
"Fast alle Frauen, 80 Prozent von ihnen, haben sexuelle Belästigung erlebt. Es kann hinter verschlossenen Türen stattfinden. Es kann der Milchmann sein, ein Nachbar. Wir versuchen, ihre Verteidigungsinstinkte zu aktivieren. Bieten auch Karatekurse an. Mittlerweile kann ich viel von unseren Frauen lernen: Sie wissen sehr genau, wie sie sich wehren können, mit offenen Sicherheitsnadeln und anderen Tricks."
Es ist der Versuch, diesen Frauen wenigstens ein wenig Selbstvertrauen einzuflößen. Was die Haushaltshilfen angeht, so greifen hier alle Unterdrückungsmechanismen, die die indische Gesellschaft parat hält: Sie entstammen einer unteren Kaste, sind bitterarm – und Frauen. Von der sozialen Frage lässt sich die Geschlechterfrage nicht trennen. Das hat Indien auch erkannt. Nur: In einem Land mit Hunderten Millionen unter der Armutsgrenze, in dem es erst mal darum geht, Kinderbäuche mit Nahrung zu füllen, lässt sich das Problem eben so leicht nicht bekämpfen. Trotzdem: Medien, Intellektuelle, Politik schürfen durchaus tief, lassen bei der Freilegung der Wurzeln, bei der Suche nach den Ursachen kaum ein Thema aus. Ist es womöglich der Hinduismus, die Religion, die hier eine Rolle spielt?
"Der Hinduismus hat sehr frauenfeindliche Seiten, natürlich. Aber er vermittelt genauso auch Frauenbilder, wo die Frau enorm stark ist: die Göttinnen Kali, Durga, die bewaffnet alle Männer besiegen. Der Hinduismus hat beides."
Bis in ihre Träume hinein verfolgte die Inder die Debatte um Gewalt gegen Frauen. Denn auch die Traumwelten, in die Menschen so gerne entfliehen, wurden in den letzten Wochen unter die Lupe genommen. Ist Bollywood, das mehr Filme im Jahr hervorbringt als Hollywood und die Europäer zusammengerechnet, für das archaische Frauenbild verantwortlich? Das auf Zelluloid gerne nach dem Schema verfährt: Mann will Frau. Frau wehrt sich. Mann kriegt sie am Ende doch. Zu dieser Frage will sich Regisseur Somnath Sen zwar nicht äußern, aber eins macht er klar:
"Bollywood behandelt seine Frauen wie Dreck. Ich schäme mich dafür. Filme verkaufen sich wegen der Namen der männlichen Hauptdarsteller. Anders, als in den USA, wo für Meryl Streep oder Jodie Foster Drehbücher geschrieben werden. Ich war mal in der Situation, in der ich zwei Frauen als Hauptdarstellerinnen hatte. Da hat der Produzent gesagt: Mach aus einer einen Mann und sorge dafür, dass sie eine Affäre haben."
Die meisten Soziologen jedoch sehen als Hauptgrund für das gefährlich veraltete Frauenbild noch immer die Großfamilie, in der das verheiratete Paar – mal abgesehen davon, dass sich die Ehepartner in der Regel gar nicht selbst ausgesucht haben - wenig selbstbestimmt aufgeht. Und in der die Frau eben vor allem die Funktion hat, Kinder zu kriegen, für den Fortbestand und das Wohlergehen der Familie zu sorgen. Das heißt, bevorzugt für die Söhne. Weiblicher Nachwuchs – das ist noch immer ein Problem – ist auch deshalb unwillkommener, weil er wegen hoher Mitgiftzahlungen zur finanziellen Belastung werden kann. Die Abtreibungsrate ist erschreckend hoch:
"Eine Frau in Indien ist noch nicht einmal im Mutterleib sicher, weil sie abgetrieben werden kann. Sie darf noch nicht einmal einen einzigen Atemzug tun. Das ist grausam und spricht Bände darüber, wie wir mit dem weiblichen Geschlecht umgehen."
So die Autorin Shobhaa De. Nachdem Indien sich in dieser Richtung in den vergangenen Monaten ausgiebig selbst diagnostiziert hat, ist klar: Es muss sich etwas ändern. Aber was?
Der Schrei nach Vergeltung, der Schrei nach dem Strang für die mutmaßlichen Vergewaltiger, war in Neu Delhi über Wochen laut und deutlich zu vernehmen.
Auch, wenn die Rufe nach der Todesstrafe bald in eine tiefere Debatte mündeten, ganz verhallt sind sie nie. Sie wären vermutlich auch nie so laut ausgefallen, wenn die Mühlen der Justiz in Indien nicht so langsam mahlen würden. Die Regierung sah sich – unter dem Druck der Straße - zum Handeln gezwungen. Und ersann schnell - einige fanden hastig - ein neues Gesetz, das härtere Strafen für sexuelle Gewalt vorsieht:
"Die Todesstrafe ist vorgesehen als Höchststrafe, wenn eine Vergewaltigung zur Folge hat, dass das Opfer stirbt oder sich im Wachkoma befindet."
Erklärte Kabinettsmitglied Chidambaram. Die Regierung erweckte damit den Eindruck, zügig und hart reagiert zu haben. Jedoch wendeten Kritiker ein: Die wahren Ursachen bekämpfe das neue Gesetz nicht. Dabei hatte die Regierung extra eine Expertenkommission eingesetzt, die Vorschläge für die Gesetzesnovelle erarbeitete, deren Einlassungen die Politik am Ende jedoch weitgehend ignorierte:
"Teil unserer Anstrengung muss es sein, die Geisteshaltung der Gesetzeshüter zu ändern. Wir müssen die Wurzeln der Krankheit angehen, nicht nur die Symptome. Das beginnt bei der Erziehung zu Hause und in der Schule - und dauert ein Leben lang. Das wird Zeit brauchen, aber dieser Prozess muss jetzt beginnen."
So die Juristin Leila Seth, Mitglied der hochrangig besetzten Kommission. Wie Recht sie damit hatte, offenbarte der Vergewaltigungsfall des fünfjährigen Mädchens in Delhi Ende April: Damals kursierten Berichte, nach denen ein Beamter dem Vater des Opfers eine Summe von umgerechnet rund 30 Euro in Aussicht gestellt haben soll, wenn der die Vergewaltigung seiner Tochter nicht öffentlich mache. Statt noch härtere Gesetze zu fordern oder gar die Todesstrafe, schwieg die Expertenkommission ganz bewusst zu diesem Thema. Sagte aber andererseits sehr viel – indem sie Themen ansprach, über die die Gesellschaft bislang lieber geschwiegen hatte:
"Dass Vergewaltigung in der Ehe vom Gesetz ausgespart wird, stammt aus einer sehr alten Vorstellung der Heirat, derzufolge die Frau in den Besitz des Mannes übergeht."
So die Juristin Leila Seth, die damit auf den Umstand hinweist, dass sexuelle Gewalt erschreckend oft hinter verschlossenen Türen stattfindet, dort aber geduldet sei und deshalb ungesühnt bleibe. Daran wird sich auch weiterhin nichts ändern: Vergewaltigung in der Ehe ist auch nach der Gesetzesänderung kein Straftatbestand. Vielleicht wäre das für eine Gesellschaft auch zu viel an Debatte auf einmal gewesen. Zusätzlich zu der, die ohnehin schon tobte.
"Ich war beeindruckt davon, wie Menschen, die sich nicht kannten, friedlich auf den Straßen zusammenkamen. Und dass es vor allem auch junge Männer waren, die forderten, dass diese Geschlechterungerechtigkeit aufhören muss. So etwas habe selbst ich in meinem hohen Alter noch nie erlebt. Das ist die wahre Hoffnung für unser Land."
Lobte der ehemalige Verfassungsrichter Verma die jungen Demonstrierenden. Die Indien dazu zwangen, sich selber sozusagen auf die Couch zu legen und ganz genau untersuchen zu lassen. Die Symptome sind benannt. Jetzt geht es darum, sie zu behandeln. Das wird dauern. Aber immerhin: Es ist etwas in Bewegung geraten in Indien. Auch der trauernde Vater der in Delhi vergewaltigten Studentin hat das gespürt. Die Anteilnahme am Schicksal seiner Tochter – sie wirkte für ihn wie eine Kerze, die in der ihn umgebenden Dunkelheit flackerte:
"Dies ist nicht mehr nur mein ganz persönlicher Fall. Dieser Fall gehört ganz Indien. Er berührt nicht eine bestimmt Kaste, Gemeinde oder Region, sondern das ganze Land."
Vielleicht vollzieht sich da in Indien tatsächlich gerade so etwas wie eine kulturelle Revolution – wenn auch eine schleichende. Und bisweilen schmerzhafte.