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Indischer Kult
Tanz mit den Göttern

Bharata Natyam stammt aus indischen Tempelzeremonien, mittlerweile ist der Ausdruckstanz auf Bühnen populär. Gezeigt werden Geschichten von Schöpfung und Zerstörung. Vor allem die Göttin Kali hinterlässt tanzend eine Spur der Verwüstung.

Von Mechthild Klein |
Bharata Natyam Tänzerin
Tanz und Religion sind in Indien traditionell miteinander verflochten (NurPhoto)
Vandana Puthanveettil hat ein aufwendiges Hobby: Sie ist nebenberuflich Solotänzerin. Sie übt seit ihrem fünften Lebensjahr den klassischen indischen Tanz Bharata Natyam. Zwei Lehrerinnen aus Indien und Kanada unterrichten sie.
Sie erzählt: "Kunst ist immer da als Teil meines Lebens und ich tanze mit Achtsamkeit – das ist wie eine Meditation für mich. Das ist ein Medium, um sich mit Gott zu verbinden."
Barfuß betritt die durchtrainierte junge Frau die Bühne. Die Schellen über den Fußknöcheln erklingen bei jedem Schritt. Ihr gelber Seidensari ist so gebunden, dass sie darin alle Bewegungen machen kann. Ihr schwarzer Haarknoten ist mit einem Blütenkranz aus weißem Yasmin verziert. Ein kräftiger Kajalstrich betont ihre Augen. Der indische Tanz Bharata Natyam erfordert ein langes Training. So wie er heute zelebriert wird, ist er eine Neukonzeption der alten Tradition aus den 1930er-Jahren.
Unterhaltung für die Götter
"Es gibt sehr alte Vorläuferformen, von denen wir schriftliche Zeugnisse haben. Es gibt alte Familien, Performer-Familien, Musiker-Familien, die ihre Tradition oral bewahren. Und es gibt Tempelskulpturen, die uns auch bestimmte Tanzpositionen zeigen. Die Wurzeln sind sehr viel älter. Sie lassen sich ungefähr 2000 Jahre zurückverfolgen."
Sagt Professorin Heike Oberlin. Die Indologin und Religionswissenschaftlerin an der Universität Tübingen nimmt selbst seit Jahrzehnten Unterweisungen im indischen Tanz. Sie sagt, dass ursprünglich zur Unterhaltung der Götter im Tempel getanzt wurde. Natürlich hat sich der Tanz im Laufe der Zeit gewandelt.
"Die Vorläufer des Bharata Natyam wurden von Tempeltänzerinnen getanzt, eigentlich zu Ehren der Gottheit, zur Erfreuung der Gottheit. Eine Gottheit wird im Tempel verehrt – so, wie man eigentlich auch einen König oder eine Königin verehren würde: Sie werden morgens geweckt. Sie werden gewaschen. Sie bekommen frische Kleidung. Sie bekommen zu Essen. Sie bekommen auch Unterhaltung in Form von Tanz und Musik. Diese Tempeltänzerinnen, die Devadasis genannt, lebten in und an diesen Tempeln."
Devadasis waren Gott geweihte junge Frauen, die eine Tanz-Ausbildung hatten und sich nur um den rituellen Tanz im Tempel kümmerten. Es gab auch Weiterentwicklungen der Tänze am Hof der lokalen Fürsten und auf der Straße. Weil es in der Geschichte immer wieder zu Missbrauch gekommen sei und Frauen zur Prostitution gezwungen wurden, sei der Beruf der Devadasis - also der Dienerinnen Gottes - heute verboten. In Indien wird über das Verbot bis heute erbittert gestritten.
Geschichten in Gesang und Tanz
Der heutige indische Tanz Bharata Natyam hat sich von der Devadasi-Tradition abgekoppelt. Der Tanz kann zwar auch im Tempel aufgeführt werden, es geht aber um Tanzkunst auf weltlichen Bühnen vor Publikum. Der ist heute ein Ausdruckstanz, kennt klare Gesten und Figuren für Handlungen oder für einzelne Götter und Göttinnen wie Shiva, Krishna oder Lakshmi. Der Stoff all dieser erzählten Motive stammt aus der Mythologie selbst. Mal sind es Liebesgeschichten, mal Wettkämpfe zwischen den Göttern. Heike Oberlin:
"In der Regel verstehen die Zuschauer die Tänze sehr gut. Denn außer dieser Handgestensprache gibt es immer noch einen Sänger, eine Sängerin, die die Geschichten singen. Und im Bharata Natyam sind die Geschichten in der Regel in der Regionalsprache, also auf Tamil, auf Telugu gesungen. Und das verstehen die Leute natürlich wieder im Publikum. Anders im westlichen Publikum."
Außerhalb von Indien erklären die Tänzerinnen die einzelnen Handgesten und Figuren vor dem Auftritt.
Der tanzende Shiva schöpft und vernichtet die Welt
Der Gott Shiva spielt in der Mythologie eine besondere Rolle. Er wird als König des Tanzes gesehen, als Nataraja. Schon ab dem sechsten Jahrhundert finden sich Darstellungen des tanzenden Shiva an indischen Tempeln. Wenn Shiva als kosmischer Tänzer darstellt wird, tanzt er die Schöpfung. Er steht in einer riesigen Aureole aus Flammen. Mit einem Fuß zertritt er den Dämon der Unwissenheit. Der andere Fuß ist erhoben. In einer Hand hält er die Sanduhrtrommel und schlägt den Takt zum Tanz, in der anderen Hand eine Flamme.
"Er wird als Symbol des Werdens, des Erhaltens und des Zerstörens gesehen. Da gibt es verschiedenes Verständnis, was der Flammenkreis bedeuten soll. Einmal wird er oft als die Energie, die Kraft des Gottes gesehen. Zum anderen, dass es das Universum ist, in dem er tanzt - und das er schöpft und das er zerstört, um es wieder neu zu schöpfen."
Die indische Gottheit Shiva als Nataraja steht am 11.10.2013 in Dresden (Sachsen) in der neuen Sonderausstellung "tanz! WIE WIR UNS UND DIE WELT BEWEGEN".
Shivas Tanz ist von hoher symbolischer Bedeutung (picture alliance / dpa-Zentralbild / Matthias Hiekel)
Man unterscheidet weibliche und männliche Tanzstile, die Tänzerinnen und Tänzer müssen beide beherrschen. Die Ausgeglichenheit beider Stile ist das Ziel. Als weiblich gelten fließende, erzählerische Bewegungen. Als männlich die eher schnellen Drehungen und stampfenden Bewegungen des Tandava-Stils. Auch von der Göttin Kali gibt es Darstellungen als Tänzerin, in der der männliche Anteil überwiegt.
"Wobei sie ganz stark den zerstörerischen Aspekt in sich trägt. Sie wird an sich von Göttern losgeschickt in ihrer ganzen zerstörerischen Macht und mit Waffen ausgestattet, um gegen bestimmte Dämonen vorzugehen. Allerdings kommt Kali dann in so einen tanzenden Blutrausch, nachdem die Dämonen zerstört sind, dass sie droht, die ganze Welt zu zerstören. Der einzige, der sie aufhalten kann in der Geschichte, ist wieder Shiva, der sich ihr in den Weg legt. Und als sie auf ihm tanzt, fängt sie an, sich langsam wieder zu beruhigen. Und damit ihre zerstörerische Kraft, dass die wieder reguliert wird."
"Tanzen macht mich sehr, sehr glücklich"
Heute lernen auch Jungen und Männer den Tanz – während umgekehrt Frauen auch andere Tanzstile erobern, die früher Männern vorbehalten waren.
Als Vandana Puthanveettil die Bühne am Ende ihrer Tanzperformance verlässt, steht das Publikum auf und applaudiert begeistert. Sie lächelt und genießt das Ritual. Sie sagt:
"Ich komme aus einer Familie mit darstellenden Künstlern. Und Tanzen macht mich fit und sehr, sehr, sehr glücklich."
Am Rande der Bühne nimmt sie die Bänder mit den Glöckchen an den Fesseln ab. Die Schellen sind meist im Tempel geweiht. Die Tanzlehrer überreichen sie ihrer Schülerin gewöhnlich in einer Zeremonie vor dem ersten großen Auftritt. Viele Tänzerinnen bleiben ein Leben lang ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin verbunden.