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Indizien sammeln per Twitter und Co.

Für Ermittlungen wie jetzt in den USA nach dem Bombenanschlag von Boston biete die Einbindung der Öffentlichkeit über Facebook und Twitter neue Perspektiven, sagt André Schulz. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter sieht auch die vielen Privatvideos als Vorteil. Die Persönlichkeitsrechte von Verdächtigen müssten aber geschützt werden.

André Schulz im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Die vielen Toten in Texas, die Gedenkfeiern in Boston, das Hin und Her um eine mögliche Festnahme eines vermeintlichen Attentäters, ein Giftbrief an den Präsidenten, ein gescheitertes Waffengesetz. Die Situation in den USA spitzt sich jetzt noch weiter zu. Heute Morgen, heute Nacht, just in diesen Stunden, in dieser Minute, Schüsse und Explosionen an und in der Universität von Boston. Das FBI fahndet also nach den Tätern, stützt sich nun vor allem auf Videobeweise, auf Filmaufnahmen, auf Bilder, ist auf die Kooperation mit der Bevölkerung, mit Beobachtern angewiesen.

    Die Fahndung in den USA - darüber wollen wir nun sprechen mit André Schulz, Vorsitzender des Bundes der deutschen Kriminalbeamten. Guten Morgen!

    André Schulz: Guten Morgen.

    Müller: Herr Schulz, in den Krimis geht das für uns immer ganz, ganz schnell, manchmal nur 45 Minuten, die Sache ist erledigt. Warum ist Fahnden so schwierig?

    Schulz: Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Für die Polizei ist es immer wichtig, Fakten und Indizien zu sammeln und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen. Damit haben wir aber mittlerweile seit Facebook, Twitter und Co. neue Perspektiven, neue Möglichkeiten auch in Deutschland, um auch die Öffentlichkeit einzubinden. Deswegen ist es heute doch durchaus erfolgversprechender als vor einigen Jahren noch.

    Müller: Das heißt, die Vernetzung hilft auch der Polizei, oder behindert sie auch?

    Schulz: In Deutschland ist es gerade ein Problem, weil wir uns sehr bemühen, von Beschuldigten oder Tatverdächtigen ihre Rechte zu wahren. Das ist in den USA ein bisschen anders. Aber auch in Deutschland ist es immer weiter verbreitet und viele Länder nutzen dieses Medium oder diese Medien mittlerweile und das ist durchaus erfolgversprechend.

    Müller: Blicken wir, Herr Schulz, vielleicht ein bisschen auf die Genese. Da ist dieser Tatort, da ist diese Explosion, da ist der Sprengstoff, wenn man ihn findet, da ist die Bombe, wenn man sie findet. Das ist ja alles passiert in Boston. Was passiert dann?

    Schulz: Genau dann beginnen die Ermittlungen eigentlich für die Polizei. Wenn man zurückschaut, müssen sie noch vorher beginnen. Das heißt, die Polizei tut hier alles – das war in Boston genauso, wie das auch in Deutschland ist -, um mögliche Taten zu verhindern. Das heißt, man ist mit Sicherheitskräften vor Ort, man macht die Lage und Analyse im Vorwege schon, um Taten zu verhindern. Aber wir haben es leider gesehen: Es war weder in Boston zu verhindern und es wird weltweit auch immer wieder zu Einzeltaten kommen. Aber dann beginnt die eigentliche Arbeit der Polizei, Fakten zu sammeln, Zeugen zu vernehmen, Spuren zu sichern, um das Ganze in einen Kontext zu bringen.

    Müller: Ist das jetzt ein Vorteil, dass viele Videos, auch Privatvideos existieren? Ist es ein Vorteil, dass insgesamt mehr Kameras, auch öffentliche installiert sind?

    Schulz: Für die polizeiliche Arbeit auf jeden Fall. Auch hier haben wir natürlich immer das Abwägen von Rechten von Betroffenen, das heißt von Zeugen und auch von Tatverdächtigen. Auch bei diesen beiden Personen in Boston liegen die Vermutungen nun relativ nahe, dass es bei den Personen sich auch um die Personen handelt, die gesucht werden als Tatverdächtige. Aber einen hundertprozentigen Beweis hat man erst, wenn man dann die Personen wirklich hat, befragen konnte, vernehmen konnte, weitere Fakten zusammentragen konnte. Das ist natürlich im Kontext zu sehen: Schutz der Persönlichkeitsrechte von Zeugen und auch von Tatverdächtigen und im Gegensatz zur Aufklärung der Straftat.

    Müller: Wie geht man denn als operierender respektive ermittelnder Polizist damit um? Sie haben gerade das Stichwort genannt: Über Datenschutz wird immer geredet in diesem Zusammenhang, auch in der Berliner Koalition, wenn es darum geht, die Anti-Terror-Gesetze zu verlängern, wenn es darum geht, einen Lauschangriff, Vorratsdatenspeicherung in irgendeiner Form zu installieren, Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Wie sehen Sie das als Kriminalbeamter?

    Schulz: Nicht alles, was technisch und rechtlich, sage ich mal, absolut immer möglich ist, muss man auch machen. Ich begrüße durchaus einen effektiven Datenschutz, weil das auch wirklich jeden einzelnen Bürger in seinen Persönlichkeitsrechten schützt. Aber man muss immer abwägen, was dann auch gut für die Gesellschaft ist. Und in diesem Falle glaube ich, dass wir auch in Deutschland ein sehr großes Interesse daran hätten, solche Straftaten aufzuklären. Und dann muss man immer gucken, was ist einem wichtiger. Ich glaube, wie gesagt, in diesem Fall hätten wir was Ähnliches, wäre das doch die Strafverfolgung.

    Müller: Was fehlt Ihnen denn in der Praxis?

    Schulz: Da sind einige Bereiche. Wir kriegen sicherlich Probleme, wenn es Gesetze gibt, - Sie sprachen es gerade an: großer Lauschangriff -, die praktisch nicht umsetzbar sind, oder sehr, sehr schwer umsetzbar sind. Wenn Sie Ermittlern Gesetze an die Hand geben, die faktisch nachher in der täglichen Arbeit so gut wie unmöglich umzusetzen sind, weil die rechtlichen Hürden so groß sind, wird das sehr schwer, damit umzugehen. Dann ist wahrscheinlich der Täterschutz in diesem Sinne etwas überdimensioniert. Da wären wir sicherlich dankbar, wenn wir die Möglichkeiten hätten, dass wir praktikable Gesetze an die Hand bekommen. Und das ist in einigen Bereichen sicherlich noch nicht der Fall. Und der zweite Punkt ist sicherlich die Ausdehnung der Videoüberwachung. Überwachung ist ja ein bisschen falsch in diesem Terminus. Einfach nur, gerade wenn man jetzt so was hat wie einen Marathon zum Beispiel, dann auch temporär Video einzusetzen, damit man darauf reagieren kann, Taten vielleicht zu verhindern, aber später sie auch definitiv aufklären zu können.

    Müller: Bleiben wir bei diesem Stichwort. Überwachungskameras, darüber wird ja oft gesprochen, so wird es oft auch bezeichnet. Sind Überwachungskameras gleichzusetzen mit Überwachungsstaat?

    Schulz: Wird hier gerne von den Kritikern angenommen, aber jetzt kann man natürlich sagen, das stimmt nicht. Wir haben es ja in mehreren Fällen auch erlebt, auch in Deutschland, wo man dann festgestellt hat, dass die Kameras zwar da sind, aber teilweise dann nicht aufzeichnen, oder auch keine Menschen dahinter sitzen, die jetzt einschreiten könnten. Das ist immer die Abwägung. Es gibt bestimmt Brennpunkte, wo man sagt, da müssen Kameras sein, Flughäfen zum Beispiel, und auch Sicherheitspersonal, was auch gleich einschreiten könnte. Das kann man aber nicht überall gewährleisten. Und auch an Bahnhöfen: Wenn Sie jeden Bahnhof in Deutschland wirklich so überwachen sollten, dass Sie auch einschreiten könnten, das wäre nicht möglich. Sicherlich bei Großereignissen wie jetzt dem Marathon oder wie in London beim Marathon oder auch in Hamburg, da ist es sicherlich sinnvoll, diese sensiblen Streckenteile dann auch zu überwachen.

    Müller: England, Großbritannien wird da immer als Beispiel genannt, auch in den Medien, auch die Korrespondenten berichten permanent darüber. Dort soll alles auf der Insel voll sein von Kameras, gerade auch London. Für Sie kein Vorbild?

    Schulz: Das muss man auch differenziert betrachten. Wenn Sie Berichte sehen von der Polizei, die sind sehr positiv, weil sie sagen, es gibt fast Straftaten oder größere Straftaten nicht mehr, die nicht aufgeklärt werden können. Es gibt aber auch durchaus Kritiker, die natürlich auch da sagen, das hat nichts gebracht, das ist maximal Verdrängungseffekt. Aber da muss man abwägen, auch von Fall zu Fall, was sinnvoll ist. Lückenlos in der Stadt möchte sicherlich keiner, aber an Brennpunkten ist es sicherlich sinnvoll.

    Müller: Wir hatten ja gerade auch das Beispiel vor wenigen Monaten, der Attentatsversuch in Bonn. Das ist noch einmal gut gegangen, man hat früh genug zugreifen können auf dem Bonner Hauptbahnhof. Haben wir zu wenig Überwachungskameras?

    Schulz: Das ist ein Thema, was ja Emotionen hervorruft, wenn man darüber diskutiert in Deutschland. Auch da kann ich nur wiederholen: Immer abwägen, was möchte die Gesellschaft. Möchte die Gesellschaft eine relative Sicherheit – und das muss man ganz deutlich sagen: eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, kann es nicht geben.

    Müller: Aber Sie haben die Abwägung ja bestimmt schon vorgenommen. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

    Schulz: Genau dieses, dass man im Einzelfall prüfen muss, was ist sinnvoll. An Brennpunkten gibt es, glaube ich, keine Deutpunkte, dass man sagt, Bahnhöfe, Flughäfen, sensible Punkte, da wo auch die Polizeien der jeweiligen Städte zum Beispiel wissen, dass sie einen Brennpunkt haben, an gewissen Plätzen, Rathaus, Markt oder sonst wo, da ist es sinnvoll, sollte dann auch eingesetzt werden. In anderen, wo wir definitiv wissen, es ist nicht sinnvoll, muss man natürlich darauf verzichten.

    Müller: Vorratsdatenspeicherung, immer noch politisch höchst umstritten. Wie stehen Sie dazu?

    Schulz: Der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert, seitdem wir sie nicht mehr so haben, wie wir sie mal hatten, die Wiedereinführung und die schnellste Wiedereinführung. Wir haben etliche Beispiele, wo den Ermittlern mittlerweile ihr Handwerkszeug genommen wurde. Das heißt, es gibt viele Ermittlungsansätze, wo sie ausschließlich über diese Daten zu den Tätern hätten kommen können. Das gibt es mittlerweile nicht mehr.

    Müller: Das haben Sie konkret in der Praxis erfahren?

    Schulz: Da haben wir etliche Beispiele, dass es viele Delikte gibt, wo wir sagen, das wäre jetzt ein Punkt, jetzt müssten wir die Daten haben, jetzt könnten wir darauf zugreifen, dann könnten wir zumindest Verknüpfungen herstellen. Mehr sind es ja nicht. Es sind immer nur Indizien, die wir dann haben. Dann könnten wir wenigstens versuchen, die Spur zu verfolgen. Und das ist nicht gegeben. Obwohl wir da jetzt mittlerweile optimistisch sind, weil die Signale aus Europa eindeutig sind, dass wir sie auch wieder bekommen werden. Es geht ja jetzt nur noch um die Speicherungszeit.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk: André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schulz: Danke.


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