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INF-Abkommen läuft aus
Wie weiter nach dem Ende des Abrüstungsvertrags?

Es war ein Vertrag des Vertrauens und Grundlage für weiteres Vertrauen: 1987 unterzeichneten Russland und die USA den INF-Abrüstungsvertrag. Am Freitag läuft die Vereinbarung über ein Verbot von Mittelstreckenraketen aus. Dann könnte die Welt ein ganzes Stück unsicherer werden.

Von Marcus Pindur |
Eine Burevestnik-Mittelstrecken-Nuklearrakete, teilweise zugedeckt von einer Plane
Der 1987 geschlossene INF-Vertrag endet am Freitag - wie es danach um die nukleare Abrüstung steht, ist unsicher. (picture alliance / Russisches Verteidigungsministerium)
Die Erleichterung stand dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow ins Gesicht geschrieben, als sie am 8. Dezember 1987 die Vereinbarung über den Abbau zweier kompletter Kategorien von Nuklearwaffen unterzeichneten.
Die Sowjetunion hatte Ende der 70er-Jahre eine völlig neue Kategorie von nuklearen Mittelstreckenraketen stationiert: die so genannte SS-20. Sie hatte eine deutlich größere Reichweite, Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft als ihre Vorgänger. Der Westen reagierte mit dem Nato-Doppelbeschluss: Man werde ähnliche Waffen auch in Westeuropa stationieren, wenn die Sowjetunion ihre Mittelstreckenraketen nicht abbaue.
Gleichzeitig bot der Westen der Sowjetunion diplomatische Verhandlungen darüber an. Die Befürchtung war, dass diese Waffen Westeuropa anfällig für sowjetische Erpressungsmanöver machen und gleichzeitig die amerikanische von der europäischen Sicherheit abkoppeln würde.
Der Konflikt über die Mittelstreckenraketen dauerte fast ein Jahrzehnt, bevor es zu der Einigung kam. Und das zeige, so Reagan bei der Unterzeichnung in Washington, D.C., wie wichtig es sei, Geduld zu haben.
"Auf der sowjetischen Seite werden über 1.500 Sprengköpfe abgebaut. Und alle landgestützten Raketen einschließlich der SS-20 werden zerstört. Auf unserer Seite werden alle 400 Pershing-Sprengköpfe und alle Marschflugkörper zerstört. Aber diese Zahlen können die Wichtigkeit dieses Vertrages nur unzureichend ausdrücken."
Vertrag des gegenseitiges Vertrauens
In der Tat war dies ein besonderer Rüstungskontrollvertrag. Er setzte gegenseitiges Vertrauen voraus, war aber auch in sich vertrauensbildend. Der Verifikationsprozess, das heißt, die gegenseitigen Kontrollbesuche, um zu überprüfen, ob die andere Seite sich an die Bestimmungen halte, wurde erst im Jahr 2001 eingestellt.
Das allein zeigt schon, welche Tragweite das Abkommen über die Intermediate Range Nuclear Forces - zu Deutsch: nukleare Mittelstreckensysteme - hatte. Der Vertrag bildete den Grundstock des Vertrauens, mit dem in den 90er-Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eine ganze Reihe von Rüstungskontrollabkommen ausgehandelt werden konnten.
8. Dezember 1987: Reagan und Gorbatschow setzen den INF-Vertrag in Kraft
Reagan und Gorbatschow beim Unterzeichnen (United Archives / imago)
Das INF-Abkommen wurde zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossen. Deutschland war kein Unterzeichnerstaat. Doch der Abbau der Mittelstreckenwaffen hatte für alle Europäer weitreichende Bedeutung und war ein wichtiger Beitrag zur internationalen Stabilität. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde tatsächlich abgerüstet und nicht lediglich Rüstungsobergrenzen vereinbart. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher sah sich noch 30 Jahre später in seiner Politik des hartnäckigen Festhaltens am Nato-Doppelbeschluss bestätigt.
"Es war auch wichtig, das durchzuhalten, um die Sowjetunion zu einem Einlenken zu bringen, wozu es dann auch gekommen ist. Das Ergebnis des Nato-Doppelbeschlusses war, was wir immer versprochen hatten, nämlich, dass es nicht nur weniger solcher Raketen geben wird, sondern gar keine mehr. Die Null-Lösung war das Ziel des Nato-Doppelbeschlusses. Das war eine der erfolgreichsten abrüstungspolitischen Maßnahmen, die es gab."
Das Vertrauen bröckelt
Vielfach wurde die Abschaffung einer kompletten Waffenkategorie als ein Glücksfall der Geschichte angesehen. Dass es dazu kommen konnte, führen die meisten Beobachter darauf zurück, dass der Westen sich in dieser Frage nicht hatte spalten lassen. Bodengestützte nukleare Mittelstreckenraketen gehörten in Europa der Geschichte an, so glaubte man in den abrüstungspolitisch so erfolgreichen 90er-Jahren.
Doch es kam anders. Schon die Obama-Administration beschuldigte Russland, den INF-Vertrag zu brechen. Russland arbeite an der Entwicklung und Stationierung eines neuen Typs von Marschflugköpern, im Nato-Jargon SSC-8 genannt. Bereits zuvor hatte Russland in Kaliningrad die nuklearfähigen Iskander-Raketen stationiert, die Warschau oder Berlin erreichen können.
Die Obama-Administration hatte die russische Regierung wiederholt auf den vermuteten Vertragsbruch angesprochen. Diese leugnete jahrelang ab, dass sie neue nuklearfähige Mittelstreckensysteme entwickle und in Dienst stelle. Erst nach der Kündigung des INF-Vertrages durch US-Präsident Trump, im Februar dieses Jahres, stellte die russische Regierung den Marschflugkörper SSC-8 der Öffentlichkeit vor – und bestätigte damit endgültig die meisten Befürchtungen der Nato-Staaten. Sie stellten sich 2018 hinter die Einschätzung der USA, das INF-Abkommen werde von Russland verletzt.
Insofern kam der Schritt der Trump-Administration, das Abkommen zu kündigen, nicht völlig überraschend. Mehr als 30 Mal hätten amerikanische Diplomaten das Thema angesprochen, aber die russische Seite habe nie darauf reagiert, so der amerikanische Außenminister Pompeo Russland verletze den INF-Vertrag fortlaufend.
"Wenn unsere Sicherheit in dieser Weise bedroht wird, müssen wir reagieren. Wir kündigen hiermit unsere Verpflichtungen aus dem Vertrag auf."
Kurz danach erklärte auch die russische Regierung, dass sie aus dem Vertrag aussteigen würde. Moskau behauptet nach wie vor, der Marschflugkörper SSC-8 habe eine Reichweite unter 500 Kilometern, was vertragskonform wäre. Westliche Experten gehen aber von einer Reichweite von 2.600 Kilometern aus. Damit könnten fast alle europäischen Hauptstädte erreicht werden.
Mit der Kündigung des INF-Vertrages war ein drei Jahrzehnte lang etabliertes Rüstungskontrollregime an sein Ende gekommen. Eine besorgniserregende Entwicklung.
Transparenz auf russischer Seite gefordert
Eine nukleare Gegenrüstung wie in den 80er-Jahren als Reaktion auf die russischen Mittelstreckenwaffen ist in den meisten europäischen Nato-Staaten weder gewollt noch politisch durchsetzbar. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Bundestag, hält einen Aufbau der konventionellen Abschreckung für unausweichlich.
"Ja, die Gefahr kommt leider wieder aus dem Osten. Ich habe geglaubt, das in meinem Leben nicht mehr sagen zu müssen. Und ich glaube, dass Herr Putin, wie so die einen oder anderen Despoten, nur die klare Sprache versteht: dass er nämlich sieht, dass wir als Europäer, auch wir als Deutsche, als Teil von Europa, unserer Aufgabe nachkommen und eben auch letztendlich mehr für die Bundeswehr tun. Ich meine, die Diskussion, die wir seit Jahren führen, mit Frau von der Leyen, jetzt mit der neuen Ministerin, wird sein, dass wir nicht nur schön reden, sondern, dass wir tatsächlich die Bundeswehr besser ausstatten müssen. Und das heißt mehr und bessere Wehrtechnik. In diesem Fall bin ich auch optimistisch, dass Herr Putin dann aufhört, mit dem Feuer zu spielen."
Zunächst müssten aber alle Möglichkeiten der Diplomatie ausgeschöpft werden, so die FDP-Politikerin. Die deutsche Diplomatie war allerdings in Bezug auf die Mittelstreckenraketen in den letzten Jahren sehr passiv. Das Thema kam nur in Expertenrunden zur Sprache. Es gab und gibt genügend andere Baustellen im Verhältnis zu Putin, da duckte man sich weg und hoffte auf das Beste. Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU im Auswärtigen Ausschuss, hofft auf zukünftige Gesprächsbereitschaft der russischen Regierung.
"Und zunächst einmal hat ja der Nato-Generalsekretär eine nukleare Nachrüstung ausgeschlossen. Die Nato sollte weiterhin intensiv das Gespräch mit Russland suchen. Und ich könnte mir zwei Schritte vorstellen. Erstens: Dass wir einen Raum definieren, in dem keine INF-Raketen Russlands stationiert werden. Und zweitens, dass Räume definiert werden, in die diese Raketen nicht reichen dürfen. Das bedeutet aber Transparenz von russischer Seite, weil immer noch unklar ist, welche Reichweite das System 9M728 - wir nennen es SSC-8 - hat. Die Russen sagen 480 Kilometer, unsere Berechnungen sagen bis zu 2.600 Kilometer."
"Systematischer Bruch des Vertrags" über zehn Jahre
Dann könne man in einem weiteren Schritt Putin anbieten, die amerikanische Raketenabwehr in Rumänien und demnächst auch in Polen regelmäßig zu inspizieren, um russische Bedenken gegen diese Anlagen auszuräumen. Agnieszka Brugger sitzt für die Grünen im Verteidigungsausschuss des Bundestages. Sie plädiert für eine Verhandlungsinitiative.
"Das Ende des INF-Vertrages ist wirklich ein sehr schwerer Rückschlag und ein großes Risiko für die Sicherheit in Europa. Deshalb ist es für mich überhaupt keine vernünftige Option, dass wir jetzt auch in Europa mit aufrüsten, sondern im Gegenteil, die Antwort Europas muss doch darin bestehen, ja, alle noch mal an den Verhandlungstisch zu bringen, zu versuchen, eine Einigung herbeizuführen, auch wenn die natürlich sich im Angesicht des Scheiterns des INF-Abkommens nicht gleich am Horizont abzeichnet. Und gerade, weil die Gesprächspartner schwierig sind, gerade weil die Zeiten schwierig sind, muss man jetzt umso mehr Energie und Anstrengung darauf verwenden."
Eine Abschussrampe für Iskander-M-Raketen während einer Militärübung am 17. November 2016 in Ussuriysk
Militärübung in Ussuriysk mit einer Abschussrampe für Iskander-M-Raketen (picture alliance / TASS/Yuri Smityuk)
Ob es derzeit Verhandlungswillen auf russischer Seite gibt, ist mehr als fraglich. Den Ehrgeiz, ein Musterbeispiel der Rüstungskontrolle zu sein, hat Putin in den letzten Jahren nicht gezeigt, eher im Gegenteil. Roderich Kiesewetter rät dazu, die russischen Waffen in einem weiteren Kontext zu beurteilen. Die Nato stehe auch ohne landgestützte Mittelstreckenraketen nicht ohne nukleares Abschreckungspotential da:
"Zunächst einmal warne ich vor jeder Dramatisierung. Wir können wirklich gelassen bleiben, weil die landgestützten Nuklearraketen im Mittelstreckenbereich nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten Potentials sind. Auch die Nato – und Russland – verfügen über seegestützte und luftgestützte Nuklearwaffen. Das Gravierende ist der Bruch des Vertrags, den Russland über zehn Jahre oder fast zwölf Jahre systematisch betrieben hat."
"Russland entwickelt Konzept für Kriege in Europa"
Viele Experten haben in den vergangenen Monaten darauf hingewiesen, dass Russland besorgt über die chinesische Raketenrüstung ist, und deshalb die neuen Mittelstreckenraketen entwickelt hat. Das kann durchaus die Motivlage des Kreml beeinflusst haben. Allerdings sind die neuen Systeme zum größten Teil auf Europa gerichtet. Vertrauen ist verloren gegangen, eine der wichtigsten außenpolitischen Ressourcen, beklagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
"Der Grund dafür, dass der Vertrag vor dem Aus steht, ist die russische Vertragsverletzung. Es gibt keine neuen amerikanischen Raketen in Europa, sondern viele neue russischen Raketen. Und das ist der Grund, warum der Vertrag gefährdet ist."
Rüstungskontrolle ergebe keinen Sinn, wenn sie lediglich von einer Seite betrieben werde, so Stoltenberg nach dem Nato-Russland-Rat vor vier Wochen. Die Nato erneuerte das Angebot zu neuen Gesprächen, allerdings müsse Russland sich wieder vertragskonform verhalten. Am 2. August läuft die Frist ab, mit der die USA den Vertrag gekündigt haben, und nichts weist darauf hin, dass es zu einem Einlenken Putins kommt.
An vier Standorten im europäischen Teil Russlands sollen nach Erkenntnissen mehrerer Nato-Staaten bereits über 60 mobile Startrampen installiert sein. Was aber will Putin mit diesen neuen Marschflugkörpern? Warum investiert Russland nach 30 Jahren wieder in atomare Mittelstreckenwaffen? Professor Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel hat eine Analyse der russischen Motivlage erstellt.
"Russland entwickelt wieder ein militärstrategisches Konzept für Kriege in Europa. Dieses Mal kleine, begrenzte Kriege, nicht wie zur Zeit des Kalten Krieges eine große Invasion Westeuropas, sondern kleine Kriege, die an der Peripherie Russlands stattfinden. Und um in diesen Kriegen Eskalationsdominanz zu bewahren, das heißt, darüber entscheiden zu können, wie diese Kriege ausfallen, schafft sich Russland heute Waffen an, mit denen es konventionelle oder nukleare Waffen einsetzen kann, um solche Kriege zu seinen Gunsten zu beenden."
Waffen für regionale Eskalationsdominanz
Das Ausmaß der russischen Nuklearrüstung gehe über die von der Nato beanstandeten landgestützten Marschflugkörper weit hinaus und umfasse auch eine neue Generation luftgestützter Systeme. Außerdem reaktiviere und vergrößere Russland seine Einrichtungen zur Lagerung von Kernwaffen auf der Kola-Halbinsel und in Kaliningrad. Das alles seien Zeichen, dass Russland eine regionale Eskalationsdominanz anstrebe.
Das heißt nicht, dass ein solches Szenario tatsächlich irgendwann eintritt. Diese Wahrscheinlichkeit wird von den weitaus meisten Experten als gering eingeschätzt, da sich das russische Militär der hohen Risiken einer militärischen Konfrontation mit dem Westen genauso bewusst ist wie die Nato-Staaten.
Doch sowohl die russische Militärdoktrin wie auch das Training und die Ausrüstung der Streitkräfte seien auf solch ein abstraktes Szenario ausgerichtet, so Joachim Krause. Wie aber sind konventionelle und nukleare Waffen in der russischen Militärdoktrin verschränkt? Ein möglicher Kriegsschauplatz seien im russischen Denken die baltischen Staaten oder der Osten Polens, so Krause.
"Die große Furcht westlicher Militärs ist, dass die Russen aufgrund der sehr schwachen Selbstverteidigungskräfte dieser Länder in der Region versucht sein könnten, mit einem Überraschungsangriff, oder mit einer Mischung aus einer hybriden Aggression und einer nachfolgenden sehr schnell stattfindenden Invasion diese Länder innerhalb weniger Tage unter Kontrolle zu bekommen. Und dass sie dann der Nato signalisieren: Wenn ihr versuchen solltet, diese Länder wieder zurückzuerobern, lauft ihr Gefahr, dass wir euch bereits auf eurem eigenen Territorium bekämpfen und dass wir dabei auch Kernwaffen einsetzen könnten."
Dann wäre der Westen mit der Frage konfrontiert, ob man für die Rückeroberung eines relativ kleinen Territoriums einen Einsatz von Nuklearwaffen riskieren wolle. Gäbe man nach, dann hätte Russland ein wichtiges strategisches Ziel erreicht, das weit über den territorialen Gewinn hinausreichte: Dann wäre nämlich das Beistandsversprechen der Nato in Frage gestellt und der weitere Zusammenhalt des atlantischen Bündnisses in Gefahr.
"Konventionelle Streitkräfte sind eine gute Abschreckung"
Das ist der Grund, warum die Nato seit 2014 – nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ost-Ukraine - ständig rotierend etwa 3.000 bis 5.000 Soldaten in den baltischen Staaten stationiert hat. Auch 500 deutsche Soldaten sind dabei. Deutschland hat sich im Rahmen der Nato dazu verpflichtet, diese Präsenz noch auszubauen.
Denn eine Verstärkung der konventionellen Abschreckung verringert deutlich das Risiko, dass die russischen nuklearen Mittelstreckenwaffen als Druckmittel ins Spiel gebracht werden könnten. So auch der ehemalige Nato-Kommandeur Phil Breedlove:
"Starke konventionelle Streitkräfte sind immer eine gute Abschreckung. Wir haben darüber diskutiert unsere Streitkräfte besser auszustatten: auf den Nato-Gipfeln in Wales, in Warschau und in Washington. Wir haben über 20 Jahre nicht in bessere Ausrüstung investiert. Und jetzt sollten wir die dadurch entstandenen Lücken wieder füllen."
Protest am 1. Februar 2019 gegen das Ende des INF-Abrüstungsvertrags im August
"Wieder mit Russland ins Gespräch, vielleicht sogar ins Geschäft zu kommen", empfiehlt Johannes Varwick, Fachmann für internationale Beziehungen, dem Westen (picture alliance / dpa/Paul Zinken)
Die Reaktion des Westens könne aber nicht nur militärischer Natur sein, so Johannes Varwick. Der Politikwissenschaftler lehrt an der Universität Wittenberg-Halle Internationale Beziehungen und ist Präsident der deutschen Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Er hält ein robustes konventionelles Verteidigungskorsett ebenfalls für wichtig. Aber mittelfristig müsse man mit Russland auch über eine diplomatische Annäherung sprechen:
"Wir müssen mehr Energie darauf verwenden, wieder mit Russland ins Gespräch und vielleicht sogar ins Geschäft zu kommen. Das ist eine Aufgabe, die schwierig ist und die auch teilweise schmutzige Kompromisse erfordert. Und da wird es nicht nach der reinen Lehre gehen, sondern da muss man unterschiedliche Interessen abgleichen. Wir brauchen also einen politischen Anlauf mit Russland."
Auch Russlands Sicherheitsbedürfnis sehen
Der Westen müsse sich stärker um eine politische Strategie im Umgang mit Russland bemühen.
"Und wenn wir das tun, dann müssen wir erkennen, dass Russland natürlich auch eigene Sicherheitsbedürfnisse hat, und eben die Befürchtung hat, dass, wenn die Ukraine, wenn Georgien, wenn gewissermaßen sein sicherheitspolitisches Umfeld sich nach Westen orientiert, dass dann die eigene russische Sicherheit davon bedroht ist. Das ist gewissermaßen der rationale Aspekt im russischen Kalkül. Es gibt darüber hinaus auch viele irrationale Aspekte, die auch damit zu tun haben, dass Russland innenpolitisch auf einem sehr problematischen Weg ist, das will ich alles nicht in Frage stellen. Aber dieser rationale Teil der russischen Risikokalkulation, den sollten wir besser beachten."
Doch das ist weit in die Zukunft gedacht. Im Moment ist keine russische Gesprächsbereitschaft zu erkennen. Das Ende des INF-Abkommens ist ein schwerer Rückschlag für die Rüstungskontrolle in Europa. Aber durch amerikanische, nuklearfähige see- und luftgestützte Cruise Missiles kann die russische Aufrüstung im landgestützten Mittelstreckenbereich mindestens zum Teil ausbalanciert werden. Wichtiger noch ist der Ausbau der konventionellen Abschreckung der Nato, um das russische Risikokalkül zu verändern. Das wäre stabilitätsfördernd.
Dabei ist dann auch ein stärkeres Engagement Deutschlands erforderlich. Die Debatte über das Zwei-Prozent-Ausgabenziel der Nato wird Deutschland also noch eine Weile begleiten.