Christoph Heinemann: Aus Washington die Drohung, das INF-Abrüstungsabkommen zu kündigen; aus Moskau die Antwort, man werde in entsprechender Weise reagieren, verbunden mit der Ankündigung, Länder, in denen US-Mittelstreckenraketen stationiert seien, die würden zu unmittelbaren Zielen Russlands. Willkommen im Kalten Krieg! Nein, dieses Szenario stammt nicht aus den späten 70er-Jahren, sondern aus dieser Woche.
Die USA haben den NATO-Partnern Unterlagen vorgelegt, die beweisen sollen, dass Russland den Abrüstungsvertrag über atomare Mittelstreckenwaffen aus dem Jahr 1987 seit Jahren verletzt. Für 60 Tage hat die Trump-Regierung das Abkommen ausgesetzt, mit der Option, komplett auszusteigen.
Der INF-Vertrag verbietet Tests, Herstellung und den Besitz landgestützter Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Der Vorwurf: Die russischen SSC8-Raketen erzielten genau diese Reichweite.
Moskau sagt "njet!" so wie früher. 1979 beschloss die NATO gegen heftige Reaktionen auch in Deutschland als Antwort auf die sowjetischen SS20-Raketen, Mittelstreckenraketen in Europa aufzustellen.
An diese Zeit erinnert sich Horst Teltschik sehr gut. Als Ministerialdirektor war er im Kanzleramt Sicherheitsberater des Bundeskanzlers Helmut Kohl, später Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Guten Morgen, Herr Teltschik.
Horst Teltschik: Guten Morgen, Herr Heinemann!
Warum haben nicht schon längst Verhandlungen begonnen?
Heinemann: US-Präsident Bush Junior hat einmal behauptet, der Irak horte Massenvernichtungswaffen. Das war gelogen. Trauen Sie Beweisen der Trump-Regierung?
Teltschik: Das sind ja keine Beweise jüngster Art, sondern bereits in der Zeit von Präsident Obama hat die amerikanische Regierung die russische Regierung kritisiert, dass sie neue Marschflugkörper entwickelt hätten und stationieren würden, die den INF-Vertrag verletzen würden. Das ist also keine neue und aktuelle Debatte. Die Frage, die sich für mich damit nur verbindet, ist: Wenn dieser Verdacht seit so vielen Jahren auf dem Tisch liegt – immerhin drei, vier Jahre -, warum haben dann nicht schon längst Verhandlungen zwischen USA und Russland begonnen, um über diese Entwicklung zu sprechen.
Heinemann: Zur Beantwortung dieser Frage hat Wladimir Putin seine eigene Theorie. Er wirft den USA vor, sie wollten den Vertrag aufkündigen, um ihrerseits neue Waffensysteme zu entwickeln. Muss man damit bei Donald Trump nicht tatsächlich rechnen?
Teltschik: Ja, natürlich! Wir sind mitten drin in einem Prozess der Aufrüstung auf allen Seiten. Sie müssen die Volksrepublik China noch einschließen. Wenn Sie die letzten Reden von Trump sich durchlesen, dann erklärt er ja, dass er die stärkste Militärnation der Welt sein will, dass die Modernisierung der Nuklearwaffen durchgeführt werden soll, dass man neue Nuklearwaffen vor allem kürzerer Reichweite entwickeln will, dass man den Weltraum militarisieren will. Sofort kam die Antwort aus Moskau von Putin in seiner Rede zur Lage der Nation, wo er praktisch voller Stolz berichtet hat, welche neue Waffensysteme Russland entwickelt, unter anderem mit sehr hoher Geschwindigkeit, um die Raketenabwehrsysteme der Amerikaner durchbrechen zu können, und so weiter.
Wissen Sie, das ist fast, wenn es nicht so ernst wäre, wie ein Spiel im Sandkasten: Haust Du mich, haue ich Dich, wirfst Du mit Sand, werfe ich auch mit Sand. Es ist unglaublich, in welchen Prozess wir wieder hineingeraten. Jetzt haben die NATO-Außenminister getagt und ich frage mich, warum sie nicht sofort die Entscheidung getroffen haben, unmittelbar Verhandlungen mit Russland aufzunehmen. NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat darauf hingewiesen, man hätte ja den NATO-Russland-Rat. Ja, verdammt noch mal, warum ist er nicht längst einberufen.
Heinemann: Herr Teltschik, Sie haben gerade mit Kindergartenszenarien beschrieben, was da gerade passiert. Man könnte auch sagen, die gegenwärtig in Washington und Moskau politisch Verantwortlichen erinnern an pubertierende Jungs.
Teltschik: Ja!
Erinnerung an sensationelle Ergebnisse unter Reagen
Heinemann: Ist Entspannungspolitik mit solchen Ballermännern schwieriger?
Teltschik: Das würde ich nicht grundsätzlich bejahen, denn denken Sie an Präsident Reagan. Der hat in der Aufrüstungsdebatte 1982/83, wo wir ja den Höhepunkt des Kalten Krieges erlebt haben - Erinnern Sie sich: Generalsekretär Andropow hat in Moskau uns mit dem Dritten Weltkrieg gedroht, wenn wir amerikanische Mittelstreckenraketen stationieren würden. Trotzdem hat dann Präsident Reagan mit Gorbatschow '85 die Gipfeldiplomatie aufgenommen und von Anfang an Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen vereinbart und zu sensationellen Ergebnissen geführt, die in den Jahren '87 bis '91 Ost-West die weitreichendsten Abrüstungsergebnisse erzielt haben in der Geschichte. Wir wollen doch nicht voraussehen, dass mit Trump und Putin totale Irrationalität eintritt, sondern vielleicht treffen sie sich doch noch mal und kommen zu realistischen Ergebnissen.
Heinemann: Trump und Putin haben Sie genannt, Ost-West. Ist die ganze Abrüstungsarchitektur aus den 70er- und 80er-Jahren ohne eine Einbindung Chinas überhaupt noch tragfähig?
Teltschik: Das ist ja eines der Hauptmotive auch der Amerikaner, dass sie sagen, INF ist ein bilateraler Vertrag, wie auch der Vertrag über die Reduzierung strategischer Systeme, der sogenannte START-Vertrag, ohne dass China eingebunden ist. Deshalb würde es schon Sinn machen, wenn das machbar wäre, zukünftig Dreiergespräche zu haben zwischen Russland, China und den USA zur Reduzierung von Nuklearwaffen. Das würde durchaus Sinn machen.
NATO sollte wechselseitige Vorwürfe überprüfen
Heinemann: Auf die konkrete Drohung, die die NATO glaubt, ausgemacht zu haben aus Moskau, wie sollte die NATO jetzt reagieren?
Teltschik: Die NATO sollte in der Tat, was Stoltenberg, der NATO-Generalsekretär angedeutet hat, die Instrumente, die man hat, nutzen, sich an einen Tisch zu setzen, den NATO-Russland-Rat, aber auch bilaterale oder, wenn China dabei ist, trilaterale Gespräche, und nun die wechselseitigen Vorwürfe erst mal überprüfen. Putin hat ja schon vor zehn Jahren erklärt, dass dieser INF-Vertrag verletzt werde durch den Bau von Raketenabwehrsystemen der Amerikaner in Europa. Diese ganzen wechselseitigen Vorwürfe führen ja nicht weiter. Man muss sich an einen Tisch setzen, wie man das damals Ende der 80er-Jahre, Anfang der 90er-Jahre auch gemacht hat und zu großartigen Ergebnissen gekommen ist. Ohne dass man miteinander redet, sind wir mitten im Prozess eines neuen dramatischen Rüstungswettlaufs.
Heinemann: Im Augenblick sind wir eher in der Bizepsphase. Besteht, Herr Teltschik, die Gefahr, dass 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges wieder Schlafwandler unterwegs sind?
Teltschik: Das liegt an den amtierenden Politikern. Schauen Sie sich doch mal an, mit was wir uns in Deutschland befassen. Wir tun uns immer noch schwer, in Deutschland und in Europa in Fragen der internationalen Politik, in Fragen der Sicherheitspolitik in Deutschland selbst intensive Debatten im Bundestag zu führen und miteinander zu besprechen, was sind eigentlich die deutschen Interessen, was wollen wir erreichen, und dann zu versuchen, einen europäischen Konsens herbeizuführen. Man redet jetzt über europäische gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das haben wir schon in den 80er-Jahren getan. Aber da muss man sich zusammensetzen und selbst eigene Positionen entwickeln und dann mit den Amerikanern, aber auch mit Putin reden. Präsident Putin ist ja durchaus offen für Gespräche. Das hat die Bundeskanzlerin oft genug bewiesen, wie offen er ist, mit ihr zu sprechen, telefonisch oder persönlich. Das muss man auch auf die europäische Ebene übertragen.
Heinemann: Der frühere Sicherheitsberater im Kanzleramt Horst Teltschik. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Teltschik: Gerne, Herr Heinemann.
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