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Infektiologe zu Corona-Schutzmaßnahmen
"Kitas und Schulen sollten so lange wie möglich offen bleiben"

Zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns Light liegt die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland immer noch auf einem hohen Niveau. Deshalb mehren sich die Rufe nach Kita- und Schulschließungen, um die Pandemie weiter einzudämmen. Das hält der Kinder-Infektiologe Johannes Hübner für den falschen Weg.

Johannes Hübner im Gespräch mit Lennart Pyritz |
In einer Kindertageseinrichtung sitzen drei Kleinkinder auf einer Stufe
Schulen und Kitas sind Studien zufolge keine Treiber der Infektionen (picture alliance/dpa/Arno Burgi)
Kitas und Schulen so lange wie möglich offenhalten, um Kindern und Familien Stabilität zu geben und soziale Probleme zu begrenzen. Das ist das politische Ziel. Zuletzt haben die Coronainfektionen allerdings auch bei Kindern deutlich zugenommen; und ebenso die Quarantänefälle: Knapp 200.000 Schülerinnen und Schüler sind derzeit betroffen – das entspricht etwa 1,8 Prozent; Eltern- und Lehrerverbände haben bereits bessere Schutzkonzepte gefordert. Prof Johannes Hübner ist Infektiologe am Kinderspital des LMU Klinikums in München. Er sieht in Schulen und Kitas weiterhin keine Treiber der Infektionen.
Lennart Pyritz: Sollten wir Kitas und Schulen angesichts der aktuellen Corona-Dynamik in Deutschland schließen?
Johannes Hübner: Auf keinen Fall, oder wir sollten sie auf jeden Fall so lange wie möglich offenhalten. Ich glaube, das ist glücklicherweise auch inzwischen bei allen Politikern angekommen.
"Schulen und Kitas sind keine Treiber der Infektionen"
Pyritz: Wenn wir mal auf die wissenschaftliche Studienlage blicken, welchen Anteil haben denn Kitas und Schulen an der Pandemieentwicklung? Da war ja der Tenor bislang, dass sie eher keine Treiber der Infektionen sind. Ist das noch zu halten?
Hübner: Ich sehe das auch weiterhin noch so. Ich denke, auch weiterhin sind Schulen und Kitas keine Treiber der Infektionen, aber was wir ganz klar sehen – und das war auch irgendwie zu erwarten –, dass die höheren Infektionszahlen in der Bevölkerung auch sozusagen in die Schulen und in die Kitas überschwappen.
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Pyritz: Die MPI-Forscherin und Modelliererin Viola Priesemann hat am Freitag in "Forschung aktuell" im Deutschlandfunk gesagt, sie hält besonders asymptomatische Infektionen an Schulen für ein zentrales Problem, da wissen die Kinder und Jugendlichen eben gar nicht, dass sie infiziert sind. Man sieht’s nicht, und so wird das Virus eben weitergegeben. Schätzen Sie das auch als ein zentrales Problem ein der Corona-Pandemie?
Hübner: Diese asymptomatischen Träger sind sicher generell eines von den großen Problemen, und zwar nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Erwachsenen. Je nach Studie sind 10 bis 20 Prozent der Erkrankten asymptomatisch oder präsymptomatisch, also man kann auch ein Träger sein, bevor die Infektion wirklich zum Ausbruch kommt. Alles, was wir bisher so sehen, ist das aber kein riesiges Problem in Schulen.
Pyritz: Sie haben jetzt die bisherigen Studien erwähnt, Sie leiten selbst eine Studie zum Infektionsgeschehen an Kitas und Schulen, die COVID-Kids-Bavaria-Studie, die im Juli vorgestellt wurde, liefert die schon Erkenntnisse auch zur aktuellen Dynamik?
"Kinder und vor allem kleinere Kinder stellen kein besonderes Risikopotenzial dar"
Hübner: Da sind wir erst ganz am Anfang. Wir haben da verschiedene Zeitpunkte, wo wir das untersuchen wollen, aber was wir bisher sehen auf jeden Fall, ist, dass die Schulen kein Hotspot sind, also dass wir keine großen unerkannten Ausbruchsherde in den Schulen finden, die wir bisher untersucht haben. Um das vielleicht noch so ein bisschen zu beschreiben: Die COVID-Kids-Bavaria-Studie erfasst flächendeckend in Bayern zufällig ausgewählte Schulen und Kindergärten und geht wirklich in die Schulen rein und testet Kinder, aber auch die Lehrer, um zu sehen, wie viel Virus wirklich jetzt da in der jeweiligen Situation direkt vorhanden ist. Es gibt andere Studien, die ähnliche Dinge untersucht haben mit anderen Methoden. Es gibt eben solche seroepidemiologischen Studien, auch da hatte man bisher den Eindruck, dass Schulen und Kinder und vor allem kleinere Kinder kein besonderes Risikopotenzial darstellen.
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Die Schule ist zentral für die Identitätsentwicklung: Kinder brauchen Kontakte zu Gleichaltrigen und zu Lehrern, die auch als emotionale Vermittler wirken. Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert fordert im Hinblick auf die psychische Gesundheit von Kindern deshalb, die Schulen unbedingt offen zu lassen.
Pyritz: Sehen Sie es denn als eine Möglichkeit an, dass wenn die Zahlen im Umfeld jetzt noch weitersteigen, sich Schulen und Kitas doch zu so einer Art Hotspot entwickeln können?
Hübner: Es ist sicher so, dass wenn die Infektionsraten in der Umgebung hoch sind, dass wir dann natürlich auch mehr Infektionen oder mehr Virus auch in den jeweiligen Bereichen sehen, das ist ganz klar. Ich glaube aber, ein Problem haben wir wirklich dann, wenn wir die Sorge haben müssen, dass es in den Schulen zu Übertragungen kommt. Die Informationen, die wir bisher haben aus den Ländern von den verschiedenen Gesundheitsämtern, vom RKI, von punktuellen Studien, sind schon so, dass wir nicht den Eindruck haben, dass es Superspreader-Events gibt, also Ausbruchsituationen in Schulen, wo sich dann viele Schüler aneinander infizieren oder wo eben einzelne Lehrer sehr, sehr viele andere Lehrer und Schüler infizieren. Das sind bisher immer nur punktuelle und vereinzelte Ausbrüche, die wir da sehen, aber man hat nicht den Hinweis, dass es zu großen Übertragungen innerhalb der Schulen kommt.
"Feste Klassenverbände sind wichtig"
Pyritz: Ich hab’s ja eingangs schon erwähnt, die Zahlen steigen an, es gibt immer mehr Infektionen und Quarantänefälle an Schulen und an Kitas. Ihre Einschätzung einfach: Reichen die derzeitigen Maßnahmen aus?
Hübner: Wie gesagt, was wir bisher an Daten haben und was wir an Ausbruchsituationen gesehen haben, denke ich, da sieht es schon so aus, dass die Dinge, die wir bisher empfohlen haben, ausreichen – ganz wichtig nach wie vor eben die möglichst festen Klassenverbände. Wenn einzelne Fälle auftreten, wie es immer wieder der Fall ist, wird nicht gleich die ganze Schule geschlossen, sondern dann wird halt eine Klasse in Quarantäne geschickt. Ich glaube, das hat bisher ganz gut funktioniert. Was man sicher schauen muss über den Winter, ist natürlich die Frage der Lüftungen. Da sind zum Teil Schulen, die keine Fenster haben, die geöffnet werden können, da muss man sich sicher auch Dinge überlegen. Was viel diskutiert worden ist, sind diese mobilen Luftfilteranlagen, die sicher in der Lage sind, Raumluft zu filtern und Viren auch rauszufiltern, die allerdings, wenn man sie dann wirklich mit Luftaustauschraten fährt, die dazu notwendig sind, sicher auch sehr belastend und vor allem lärmbelastend sind. Ob das irgendwo die Lösung ist, das wage ich auch zu bezweifeln.
Pyritz: Sie haben die mobilen Luftfilter jetzt angesprochen, es sind ja noch eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen in der Diskussion, die ja auch in diesen Tagen und dann voraussichtlich auch in der kommenden Woche noch politisch diskutiert werden. Der Bund will die Maskenpflicht an Schulen ausweiten, bei zu kleinen Räumen sollen Klassen geteilt werden. Es wird darüber gesprochen, FFP2-Masken an Lehrkräfte auszugeben, Antikörpertests einzusetzen oder auf Hybridunterricht wieder umzustellen. Welches Maßnahmenpaket wäre denn Ihrer Ansicht nach sinnvoll?
Hübner: Die Maskenpflicht, das ist ja, glaube ich, so die Maßnahme, die jetzt so am konkretesten diskutiert wird beziehungsweise in manchen Bundesländern auch schon eingeführt ist, ist sicher so eine Ultima Ratio, und ich denke, wie ich die Daten sehe, dass es vor allem bei den kleineren Kindern noch nicht indiziert ist. Wie gesagt, die Ausbruchsituation weist nicht darauf hin, dass es dort große Ausbruchsituationen gibt. Andererseits muss ich sagen, ist das sicher die bessere Lösung als wie jetzt zum Beispiel in Österreich die Schulen vollständig zu schließen. Das, glaube ich, wird auch in Deutschland von der Politik so gesehen, dass wir die Schulen so lange wie möglich offenhalten sollten, und alles, was dazu beiträgt, das macht sicher Sinn. Wie gesagt, Masken in einer Ausbruchsituation in einer Schule, wo wir eben die Sorge haben, dass es zu Übertragungen innerhalb der Schule gekommen ist, das ist sicher eine Ultima Ratio, und das ist sicher was, was man in so einer Situation auch erwägen sollte.
Die Antikörperschnelltests oder vor allem die Antigen-Schnelltests sind auch was, was diskutiert wird. Das ist sicher eine Sache, die man noch mal genauer auch untersuchen müsste. Da ist ein Problem dieser Antigen-Schnelltests, dass sie Sensitivität dieser Tests nicht so furchtbar hoch ist. Jetzt hat man natürlich im Rahmen von einer Schule auch eine Situation, wo man froh ist, wenn man auch wenige Positive, nicht Erkannte rauspicken könnte, da kann das zum Beispiel Sinn machen. Nun muss man aber auch dazusagen, die ganzen Antigen-Schnelltests sind normalerweise immer nur an symptomatischen Patienten evaluiert und auch für symptomatische Patienten zugelassen. Wie gut die wirklich jetzt bei asymptomatischen Patienten sind und vor allem wie gut die auch bei Kindern sind, dazu gibt es ganz, ganz wenig Daten.
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"Schulschließungen sind die absolute Ultima Ratio"
Pyritz: Um zum Schluss den Bogen zu Ihrer ersten Antwort zu schlagen: Warum sollten denn die Schulen und Kitas überhaupt so lange wie möglich geöffnet bleiben?
Hübner: Ich denke, da ist es auch so, dass wir mehr und mehr und besser verstehen, was für viele Folgeeffekte und viele Folgeschäden verursacht werden durch diese Schulschließungen. Das war uns schon bewusst, die Zunahme der häuslichen Gewalt als das eine, aber natürlich auch Kinder, die abgekoppelt sind, abgehängt sind, die Schwierigkeit gerade von den bildungsfernen Schichten, einem Online-Unterricht auch zu folgen, einfach weil die Möglichkeiten zu Hausse dafür nicht da sind. Das sind alles Dinge, die wir eigentlich schon wussten, aber wir haben jetzt auch mehr und mehr Informationen darüber bekommen, wie sich so was auch auf Kinder insgesamt in ihrer weiteren Entwicklung auswirkt. Ich denke, inzwischen ist wirklich allen bewusst, dass Schulschließungen die absolute Ultima Ratio sind und dass wir wirklich zuerst alle anderen gesellschaftlichen Maßnahmen ergreifen sollten, um diese Infektion unter Kontrolle zu bekommen, bevor wir die Schulen schließen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.