Bundestag und Bundesrat haben Änderungen im Infektionsschutzgesetz beschlossen. Damit sollen vor allem die Grundrechtseinschränkungen im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie rechtssicherer gemacht werden. Oppositionsvertreter beklagen allerdings noch immer ein zu geringes Mitspracherecht des Parlaments bei Eingriffen in die Grundrechte. Bei aller Kritik gegenüber dem Gesetz: "Die Linke sieht ihre Rechte gewahrt", sagte Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Abgeordnete der Linken im Deutschlandfunk. Dennoch habe auch sie gegen das Gesetz gestimmt. Vor allem aber, weil die Bundesregierung bisher keine Strategie entwickelt habe "für die Zeit nach Corona und die Zeit bis zum Impfstoff."
Philipp May: Viel haben wir über das novellierte Infektionsschutzgesetz berichtet in den letzten Tagen – ein Gesetz, das vor allem die bestehenden Corona-Regeln festschreiben und gerichtsfest machen soll. Proteste dagegen waren angekündigt, Eskalation befürchtet worden, und am Ende kamen die Wasserwerfer zum Einsatz, während drinnen im Bundestag diskutiert wurde. Auch Die Linke hat gegen die Gesetzesnovellierung gestimmt. Haben Sie Sympathien für die Proteste?
Petra Pau: Zu den Demonstrationen möchte ich mal zweiteilen. Da sind zum einen verunsicherte Bürgerinnen und Bürger, die sich um ihre Zukunft sorgen, und das zurecht. Wir haben ganz große wirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen der Pandemie, die die Spaltung in der Gesellschaft vertieft haben. Und dann sind da Rechtsextreme und andere Feinde der Demokratie, die aus meiner Sicht zu ächten sind.
Problematisch ist – und das beobachten wir seit Anfang August nicht nur hier in Berlin -, wenn beide Gruppen verschmelzen und da offensichtlich auch keine Trennschärfe da ist. Und wenn ich mir den letzten Beitrag eben anhöre, eins weise ich zurück, auch wenn ich gestern aus Überzeugung gegen dieses Gesetz gestimmt habe. Wir sind nicht im Jahr 1933! Das Ermächtigungsgesetz im März 1933 hat den Schlusspunkt gesetzt und die Demokratie, auch die Parlamentarische Demokratie abgeschafft, während hier die Parlamentarische Demokratie funktioniert. Und im Übrigen: Bei aller Kritik, auch der Kritik, dass der Gesetzentwurf eben nicht vollumfänglich das Parlament wieder zum Akteur macht und zu dem Organ, welches vorher und hinterher bei allen Maßnahmen entscheidet – wir haben hier keine Diktatur eingeführt. Und auch Die Linke sieht sich nicht in einer Diktatur, sondern sieht ihre Rechte gewahrt.
"Keine Evaluation der Maßnahmen"
May: Was kritisieren Sie denn ganz konkret?
Pau: Die Corona-Pandemie hat natürlich auch das politische System vor eine Herausforderung gestellt. Das ist völlig klar. Im März war es vertretbar und auch notwendig, weil keiner wusste, wie mit dieser Lage wirklich umzugehen ist, dass der Exekutive erst einmal auch das Werkzeug in die Hand gegeben wurde, schnell zu entscheiden. Wir kritisieren, dass es im Sommer keine Evaluation aller Maßnahmen gegeben hat, dass die Bundesregierung keine Strategie bis heute entwickelt hat für die Zeit nach Corona und jetzt für diese, ich will es mal Übergangszeit nennen, bis wir einen Impfstoff haben, bis wir die Möglichkeit haben, die Möglichkeit, nicht die Pflicht, uns mit einem Impfstoff zu immunisieren und damit anders durch den Alltag zu gehen. Und die Bundeskanzlerin muss aus unserer Sicht, bevor sie sich, was ihr gutes Recht ist, mit den Ministerpräsidenten trifft, in jeder Parlamentswoche ihre Strategie, ihre Vorhaben dem Bundestag vortragen. Die Landeschefs müssen das in ihren Landesparlamenten tun. Und so wie vor EU-Ratssitzungen beispielsweise muss das Parlament die Linie vorgeben.
May: Den letzten Punkt verstehe ich. Kommen wir noch mal zum ersten Punkt, dass die Bundesregierung keine Strategie hat, wie Sie sagen, für den Umgang mit der Pandemie, bis es einen Impfstoff gibt. Was hat das konkret mit dem Gesetz zu tun? Doch eigentlich nichts!
Pau: Schon!
May: Jetzt bin ich gespannt.
Pau: Im Gesetz, vor allen Dingen in Paragraph 28, 28a, stehen Maßnahmen, die, wenn bestimmte Werte überschritten werden, infektionszahlen und anderes, erlassen werden können. Aber das sind tiefgehende Grundrechtseingriffe. Wie gesagt, es kann notwendig sein. Wir haben diese ja zum Teil auch mitgetragen. Aber um die Akzeptanz in der Breite der Bevölkerung zu haben, muss es transparent sein, wann warum wer dies entscheidet. Und zum Schluss muss das der Souverän tun, das heißt das Parlament, welches auf Zeit durch die Wählerinnen und Wähler dazu legitimiert wurde. Die Wählerinnen und Wähler haben nicht die Bundesregierung gewählt, sondern sie haben das Parlament gewählt. Das heißt, es kann notwendig sein, na klar, Kontaktbeschränkungen zu haben. Es kann notwendig sein, bestimmte andere Freiheiten einzuschränken bis hin zum Demonstrationsrecht, ohne es aufzuheben, beziehungsweise Maßnahmen zu erlassen, die gestern leider von den Demonstranten in der großen Zahl nicht eingehalten wurden, wie Abstandsregeln, wie ein Mund-Nasen-Schutz, um andere gegenüber zu schützen. Aber das muss immer wieder neu miteinander besprochen und verhandelt werden. Das heißt, ich lehne nicht diese Maßnahmen von vornherein ab, aber sie müssen durch das Parlament immer wieder neu legitimiert werden.
"Das Parlament ist arbeitsfähig"
May: Wenn ich da mal einhaken darf? – Jetzt sagen die Vertreter der Koalition, die Befürworter, nicht zu Unrecht: Im Vergleich zu vorher, zu dem, was wir seit März erleben, wird das Parlament, werden die Grundrechte doch klar gestärkt, zum Beispiel mit der Begrenzung der Maßnahmen auf vier Wochen. Nach vier Wochen muss es ein neues Plazet vom Parlament geben, oder die Festschreibung der Versammlungsfreiheit. Das ist doch eine Verbesserung, mit der man erst mal arbeiten kann.
Pau: Ganz so ist es nicht. Wenn Sie ins Gesetz schauen, da steht nicht, nach vier Wochen muss das Parlament entscheiden. Wenn das da dringestanden hätte, hätte ich zustimmen können, kein Thema, weil dann hätten wir das wirklich zwingend nach vier Wochen im Parlament behandelt. Im Moment ist es aber so: Nach vier Wochen kann, solange die entsprechende epidemiologische Lage festgestellt wurde – und das ist ja gestern durch einen Extrabeschluss geschehen; da haben wir uns enthalten -, das auch die Exekutive tun. Das heißt, das Parlament muss noch einmal in eine neue Rolle kommen. Dazu werden wir weiter streiten. Aber wie gesagt, ich sage auch ganz deutlich den Bürgerinnen und Bürgern, hier ist nicht die Diktatur eingeführt worden. Ich bin zwar gestern in der Minderheit gewesen, das ist in der Demokratie manchmal so, aber ich bin lang genug Parlamentarierin, dass ich weiß, dass ich mich natürlich weiter einmischen kann, und ich gehe auch heute wieder ins Parlament und leite nicht nur die Parlamentssitzung, sondern streite an vielen Punkten zu unterschiedlichsten Gesetzen, weil das Leben besteht auch im Jahr 2020 in diesem Monat nicht nur aus Corona, um die besten Lösungen. Das Parlament ist arbeitsfähig und deshalb kann ich auch nicht verstehen, dass Bürgerinnen und Bürger meinen, wir hätten uns seit März hier verabschiedet.
AfD hat "das Ziel, die Demokratie abzuschaffen"
May: Frau Pau, Sie haben mir schon das Stichwort gegeben. Sie sind nicht nur Vertreterin der Opposition als Abgeordnete der Linkspartei, sondern Sie sind auch Vizepräsidentin des Bundestages. Heute leiten Sie die Sitzung. Was haben Sie gestern gedacht, als die AfD-Fraktion während der Sitzung gestern Plakate hochgehalten hat, darauf das deutsche Grundgesetz mit Trauerflor, symbolisch das Grundgesetz zu Grabe getragen hat? Ist das einfach nur Schabernack, die Kritik, die Sie auch haben, auf die Spitze getrieben? Oder ist das mehr?
Pau: Nein! Wir erleben seit Oktober 2017, seitdem es diese Fraktion im Bundestag gibt, dass sie jede Gelegenheit nutzen, die Institutionen der Demokratie und auch den Bundestag verächtlich zu machen. Sie haben eigentlich das Ziel, die Demokratie abzuschaffen - das sagen die einen etwas unverhohlener, die anderen etwas versteckter – und nutzen trotzdem natürlich jede Möglichkeit, die sie haben, der Instrumente der Demokratie, um diese Positionen ins Parlament zu tragen. Auch meine Fraktion hat in der Vergangenheit Regeln verletzt und ist dafür sanktioniert worden und so wird auch diese Fraktion einerseits in ihre Schranken gewiesen. Andererseits sage ich sehr deutlich – und das habe ich übrigens schon vor 14 Tagen getan, als aus dieser Fraktion das erste Mal der Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis, mit dem sie die Demokratie abgeschafft haben, für das Infektionsschutzgesetz ins Parlament getragen wurde: Das ist ein verächtlich machen der Demokratie und das lassen wir uns nicht bieten. Der Bundestagspräsident hat etwas zu den Plakataktionen gesagt und wir werden uns heute auch im Ältestenrat damit zu beschäftigen haben, dass trotz aller Vorkehrungen offensichtlich durch Mitglieder dieser Fraktion Besucher ins Parlament geholt wurden - das ist erst mal ihr gutes Recht -, dass diesen Besuchern aber ermöglicht wurde, Druck auf frei gewählte Abgeordnete zu ihrer Entscheidung zur Abstimmung des Infektionsschutzgesetzes ausgeübt wurde, und das ist ganz deutlich mindestens eine Ordnungswidrigkeit, wenn nicht gar eine Straftat.
"Abgeordnete dürfen nicht in ihrer Entscheidung bedrängt werden"
May: Ist das schon klar, dass das Besucher von AfD-Abgeordneten waren, die sich so verhalten haben?
Pau: Es ist im Internet dokumentiert ein Video dieser Besucher, die sich in einem Büro eines Bundestagsabgeordneten dieser Fraktion aufgehalten haben und von dort, dokumentiert wie gesagt, aufgebrochen sind, um unter anderem den Herrn Bundesminister Altmaier zu bedrängen und andere Mitglieder des Bundestages bedrängt haben. Das wird die Bundestagspolizei sicherlich inzwischen – das Video ist ja mehr als eine Stunde lang; dazu hatte ich gestern Abend keine Zeit, mir das bis zum Ende anzusehen – sich angesehen haben und dann werden wir mit diesen Ermittlungsergebnissen umzugehen haben.
May: Warum glauben Sie ist das strafrechtlich relevant?
Pau: Abgeordnete sind frei in ihrer Entscheidung und niemand hat das Recht, beispielsweise auch in Büros von Bundestagsabgeordneten, ohne dass diese sie eingeladen haben, einzudringen und dort Mitarbeiter und andere oder auch Abgeordnete entsprechend zu bedrängen. Wie gesagt, der Ort der Debatte ist der Bundestag. Es gibt die Möglichkeit zu demonstrieren, solange man sich an die Regeln und Auflagen hält. Aber Abgeordnete dürfen nicht in ihrer Entscheidung bedrängt werden.
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