Es ist ein heißer Tag Anfang dieser Woche. Vor dem Uniklinikum der amerikanischen Universität in Beirut stehen Elektriker, Pflegepersonal und Menschen aus der mittleren Führungsebene. Sie protestieren gegen die Entscheidung der Krankenhausführung, ihnen vom einen auf den anderen Tag zu kündigen. Eine der 80 Entlassenen ist die 28-jährige Amani Hashem:
"Ich war fünf Jahre lang Pflegerin im Krankenhaus der amerikanischen Universität. Ich habe freiwillig auf der Corona-Station gearbeitet, weil niemand sonst dort helfen wollte. An einem Freitag konnte ich mich plötzlich nicht mehr am Computer einloggen. So habe ich erfahren, dass ich entlassen wurde: Wegen des Coronavirus und der Finanzkrise."
Amani Hashem kritisiert, dass die Krankenhausverwaltung weiterhin üppig bezahlt werde, während die Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen werden.
"Das ist unmoralisch und unfair. Vor ein paar Jahren hat eine Kollegin, die lange vorher im Krankenhaus gearbeitet hat, zu mir gesagt: ‚Die amerikanische Universität ist der Libanon im Kleinen‘. Ich habe geantwortet: ‚Nein!‘ Aber heute weiß ich: Ja, die Universität ist der Libanon im Kleinen, wo die Verwaltung Geld stiehlt und die hart arbeitenden Menschen leiden."
Frust über Missmanagement und Wirtschaftskrise
Die amerikanische Universität in Beirut ist eine der angesehensten Bildungseinrichtungen des Landes. Aber auch hier ist der Frust der Menschen inzwischen deutlich spürbar – über das Missmanagement der Regierung und die Wirtschaftskrise, die das Land fest im Griff hat.
Im Oktober vergangenen Jahres entlud sich die Wut schon mal. Hunderttausende gingen auf die Straße. Auch die 21-jährige Jurastudentin Lea Sbaite war damals dabei: "Wir protestieren, weil unser Land sehr korrupt ist. Alle Politiker nehmen die Steuern, die wir zahlen, und stecken sie in ihre eigene Tasche. Dagegen rebellieren wir. Wir fordern unsere Grundrechte ein: Strom, medizinische Versorgung, kostenlose Bildung."
Erstmals zeigten sich im vergangenen Herbst die Libanesinnen und Libanesen vereint, über konfessionell-politische Grenzen hinweg. Sunniten, Schiiten, maronitische Christen und Drusen schwangen die libanesische Flagge – eine Seltenheit in einem Land, in dem die Stadtviertel und Regionen mehrheitlich von einer der 18 anerkannten Religionsgemeinschaften geprägt sind. Mit Trommeln, Tanz und Gesang zwangen die Protestierenden ihre Regierung im Oktober zum Rücktritt. Im Januar formierte sich eine neue Regierung.
Pfund verlor in acht Monaten mehr als 80 Prozent an Wert
Doch die freudige Stimmung ist längst verflogen. Der Libanon durchlebt die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit seiner Unabhängigkeit 1943. Ein maroder Staatshaushalt und das Coronavirus haben dazu geführt, dass das libanesische Pfund in acht Monaten mehr als 80 Prozent an Wert verloren hat.
Tausende Cafés, Restaurants, Bars und Einzelhändler mussten schließen, Strom und Internet fallen über Stunden hinweg aus. Knapp 60 Prozent der gut sechs Millionen Einwohner sind arbeitslos und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnt, dass wegen Lebensmittelknappheit Millionen Menschen der Hunger droht. Die Älteren im Libanon sagen, so schlimm sei es nicht mal im Bürgerkrieg gewesen.
Zwischen 1975 und 1990 bekämpften sich verschiedene muslimische und christliche Milizen in wechselnden Koalitionen gegenseitig und zerstörten das Land. Mehr als 150.000 Menschen kamen dabei ums Leben.
Nach dem Ende des Krieges teilte eine kleine Gruppe ehemaliger Warlords den öffentlichen Sektor – etwa die Energiebehörde, das Telekommunikationsnetz, das Geschäft mit der Wasserversorgung – untereinander auf, erklärt Bassel Salloukh, Politikprofessor an der libanesisch-amerikanischen Universität:
"Die konfessionell-politische Elite hat die Ressourcen des Staates, die Finanzen des Staates, die Institutionen des Staates genutzt, um sich entweder zu bereichern oder Arbeitsplätze und Positionen für ihre Anhänger zu schaffen. Das hat zum Beispiel zu einem aufgeblähten öffentlichen Sektor geführt und ist der Hauptgrund, warum der Libanon der Nachkriegszeit Milliarden über Milliarden Dollar ausgegeben hat, ohne eine Infrastruktur aufzuweisen zu können."
Gemeinwohl steht hinten an
Dinge, die dem Gemeinwohl dienen – öffentliche Parks, mit Steuergeldern geförderte Theater oder Nahverkehr – gibt es nicht. Das Land ist zu großen Teilen privatisiert. Die neoliberale Politik geht auf den Multimilliardär und späteren Nachkriegs-Ministerpräsidenten Rafik Hariri zurück.
Der Politiker gründete zum Wiederaufbau Beiruts beispielsweise eine Aktiengesellschaft – deren Hauptaktionär er selbst war. Mit dem Wiederaufbau sollten eine neue Ära eingeleitet und das Interesse von ausländischen Investoren geweckt werden. Und die legten ihr Geld gerne an, denn die libanesischen Privatbanken zahlten zweistellige Zinserträge aus und verliehen das Geld gegen noch höhere Gebühren weiter an die Zentralbank, die es wiederum an den Staat gab. Das System gab den Banken große politische Macht, erklärt der Politikanalyst Nizar Hassan:
"Die Hariri-Familie hat quasi die Allianz der neuen Bourgeoisie aus Politikern, Bänkern, Immobilienfirmen und Projektentwicklern repräsentiert. Zusammen haben sie eine Art Bündnis geformt, das ihre Interessen vertritt. Die Wirtschaftspolitik war darauf ausgelegt, diesen Branchen Profite zu verschaffen. Aber sie produzieren nichts, sie erschaffen keine Güter, die exportiert werden können und im Gegenzug Geld bringen."
Die Folgen dieses Systems sind bis heute sichtbar. Ein Besuch in einem Supermarkt im Süden Beiruts, Ende Juni. Die Regale sind leergefegt, Weizenmehl ist aus. Zwei Frauen vergleichen die Preise von Sonnenblumenöl. Menschen drängen sich an den Kassen, trotz der Gefahr durch das Coronavirus. Die Anspannung ist spürbar. Es ist der letzte Tag, bevor Brot um 30 Prozent teurer wird – und bevor auch andere Lebensmittel im Preis hochgehen, weil die lokale Währung stetig an Wert. Die Inflation ist hoch. Eine Packung Milch? Kostet umgerechnet drei Euro. Ein Päckchen Butter? Zehn Euro.
Das Problem: Das libanesische Pfund ist zu einem festen Kurs an den US-Dollar gekoppelt. Das heißt: Für einen Dollar gibt es offiziell 1.500 Pfund. Das soll Währungsstabilität garantieren. Aber durch die Krise hat die libanesische Währung immer mehr an Wert verloren und Dollarreserven im Land sind knapp geworden. Da der Libanon fast alle Produkte importieren muss, und diese Importe in der Regel in Dollar bezahlt werden, gehen die Preise in die Höhe.
So gehören lange Warteschlangen im Libanon mittlerweile zum Alltag. Mitte Juni standen die Leute an, um bei einer einmaligen Aktion der Zentralbank 200 US-Dollar für einen vergleichsweise guten Umrechnungskurs zu erhalten. Mitte Juli bildeten sich Schlangen, als ein Supermarkt Fleisch im Angebot hatte.
Staatsschulden liegen etwa 90 Milliarden US-Dollar
Die im Januar neu formierte Regierung unter dem ehemaligen Bildungsminister und Ingenieurprofessor Hassan Diab muss nun nicht nur die Lebensmittelknappheit und die Coronakrise bekämpfen, sondern auch den Währungsverfall stoppen und den historisch gewachsenen Schuldenberg angehen. Jahrelang lebte der Libanon über seine Verhältnisse, der Staat ist bankrott. Die Staatsschulden betragen etwa 90 Milliarden US-Dollar – knapp 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Diab: "Ja, das Land ist nicht in Ordnung! Wie kann das Land in Ordnung sein, wenn die Bürger hungern? Ja, das ist die Beschreibung der Realität. Aber das anzugehen liegt in der Verantwortung aller. Es ist nicht nur die Verantwortung einer Regierung, die mit den Folgen der Schuldenkrise zu tun hat und die es geschafft hat, die Auswirkungen der Krise einzudämmen, als sie mutig beschloss, die Staatsschulden nicht mehr zu zahlen."
IWF-Gelder lassen auf sich warten
Im März wurden Gelder fällig, die die EU für den Libanon zu günstigen Konditionen aufgenommen hatte. Die Regierung unter Hassan Diab entschied, diese Schulden von rund einer Milliarde Euro nicht zurückzuzahlen. Sie legte stattdessen einen sogenannten "Rettungsplan" vor: Vorgesehen sind weniger Staatsausgaben, die Restrukturierung der Schulden und des Bankensektors und ein Abschlag auf das Geld, dass der Staat der Zentralbank noch schuldet. Im Gegenzug erbittet Diab neun Milliarden Euro vom IWF, dem Internationalen Währungsfonds. Die Verhandlungen darüber laufen seit Monaten – bisher ohne Erfolg. Ein Grund: Es müsse sichergestellt sein, dass alle Ebenen zusammenarbeiten, um die Probleme zeitnah zu lösen – das sagte Athanasios Arvanitis, stellvertretender Direktor der Nahostabteilung des Fonds, vor kurzem auf einer Pressekonferenz:
"Damit die Diskussionen produktiv weitergehen, ist es sehr wichtig, dass sich alle dem Plan der Regierung anschließen. Wir sind bereit, mit der libanesischen Führung zusammenzuarbeiten, um den Rettungsplan an notwendigen Stellen zu verbessern. Wir sind aber auch besorgt, dass Versuche, schmerzliche Maßnahmen in die Zukunft zu verschieben, die Kosten der Krise nur noch erhöhen, indem so der Aufschwung verzögert wird und dies zu Lasten der Schwächsten in der Gesellschaft geht."
Politische Elite blockiert sich mit Grabenkämpfen
Hinzu kommt: Statt politische Einigkeit zu demonstrieren, blockiert die politische Elite sich mit Grabenkämpfen: Streit herrscht zwischen der Regierung, der Zentralbank, den Privatbanken und den Parteiführern über das Ausmaß der Krise und die Verantwortlichkeiten. Politikanalyst Bassel Salloukh von der libanesisch-amerikanischen Universität:
"Wir sehen dieses Durcheinander in den Verhandlungen mit dem IWF, weil die politische Elite sich sträubt, Reformen durchzubringen. Denn die Reformen, die der Währungsfonds normalerweise verlangt – die Abwertung der Währung, die Reduzierung des öffentlichen Sektors, Privatisierungen oder ein ausgeglichener Haushalt – all das ist für die konfessionell geprägte Elite wie ein politischer Selbstmord."
Denn um den Staatshaushalt zu kürzen, müsste der aufgeblähte öffentliche Sektor verkleinert werden – was die Basis des klientelistischen Systems zerstören würde. Besonders betroffen von IWF-Reformen und Sparmaßnahmen wäre auch die Bevölkerung, meint Bassel Salloukh. Vor allem die Mittelschicht und arme Menschen bekämen die Einschnitte zu spüren, dennoch setzten viele Bürger ihre Hoffnungen in den Fonds:
"Im Libanon ist es inzwischen unmöglich, dass Reformen von der politischen Elite kommen. Und deswegen scheint die einzige Möglichkeit, das Land zu reformieren, darin zu bestehen, Reformen des IWF voll umzusetzen."
Kabinett ohne Unabhängigkeit
Aber die alten politischen Strukturen und Beharrungskräfte sind stark. Seit dem Ende des Bürgerkrieges vor 30 Jahren teilt die politische Elite des Landes die Macht unter sich auf. So ist auch die neue Regierung, die seit Januar im Amt ist, nicht gewählt, sondern von den Parteiführern ernannt. Das Kabinett ist zwar mit Technokratinnen und Technokraten auf Ministeriumsposten angetreten, aber es sind keine unabhängigen Expertinnen und Experten, wie es die Demonstrierenden gefordert hatten. Stattdessen sind auch sie mit der alten Elite verbandelt. Außerdem wird die Regierung hauptsächlich von der schiitischen Hisbollah und ihren Verbündeten getragen.
Die Hisbollah ist eine politische und militärische Organisation, die finanziell vom Iran unterstützt wird. Sie sieht sich als Vertreterin des Irans, als Widerstandsbewegung gegen Israel und wehrt sich gegen jeglichen Einfluss der USA in der Region. Deshalb kam von der Regierung unter Hassan Diab eine neue Idee zur Lösung der Krise: Man sei bereit, im Osten um Hilfe zu bitten, Investitionen aus Russland oder China seien willkommen. Auch Hisbollah-Parteichef Hassan Nasrallah warb Mitte Juni für Investitionen aus China:
"Ich habe verlässliche Informationen, dass chinesische Firmen bereit sind, Geld in den Libanon zu investieren. Ohne all diese Komplikationen, die wir gerade sehen. Wir müssen ihnen kein Geld geben, sondern sie bringen Geld ins Land. Ein Projekt ist ein Schnellzug von Tripoli bis Naqoura. Wenn das klappt, bringt es Geld und Investitionen, schafft Jobs im Land und verbessert die ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen."
Nach Meinung von Politikwissenschaftler Salloukh kratzt Nasrallahs Vorstoß lediglich an der Oberfläche der Probleme des Libanon. "Ich glaube nicht, dass irgendjemand ein Problem hätte, wenn China in bestimmte Infrastrukturprojekte investiert. Aber wenn wir über wirkliche strukturelle Reformen reden, die der Libanon auf allen Ebenen benötigt, dann braucht das Land definitiv die Hilfe der internationalen Gemeinschaft und von Institutionen wie dem IWF oder der Weltbank."
Nur noch wenige Menschen gehen auf die Straße
Russische oder chinesische Investitionen gibt es bisher kaum im Libanon. Stattdessen kommt die Mehrheit ausländischer Firmen und Gelder aus Frankreich, Deutschland, den USA und den Emiraten. Diese Länder gelten als Gegner des schiitischen Blocks rund um die Hisbollah und als Partner der sunnitischen Partei rund um die Familie Hariri, deren Mitglieder als Unternehmer und Ministerpräsidenten die Geschicke des Landes seit langem bestimmen.
Während die politischen Verhandlungen über neue Gelder andauern, wandelt sich das Bild auf den Straßen. Nur noch wenige Menschen protestieren. Bei den wenigen, die noch auf die Straße gehen, dominiert die Wut gegen den Staat und die Banken. Die Stimmung wird explosiver, der soziale Frieden ist gefährdet, die Einheit über Partei- und Glaubensgrenzen hinweg – die die Massenproteste letzten Herbst prägte – bröckelt.
"Die einzige Lösung im Moment ist ein blutiger Krieg"
Eine Szene Ende Juni: Im Süden der Hauptstadt Beirut blockieren Männer mit Motorrädern die Straße. Viele von ihnen sind in ihren 20ern oder 30ern; sie schauen auf ein paar brennende Reifen. Einer von ihnen ist Ali, der seinen Nachnamen nicht nennen mag, aber sagt, dass er Sunnit sei, den im Oktober gestürzten Regierungschef zurückmöchte und einen Groll gegen die Hisbollah hege: "Wir wollen einfach nur leben. Ich will kein Millionär sein, aber ich möchte ein normales Leben, wie ihr es in Deutschland lebt. Die einzige Lösung im Moment ist ein blutiger Krieg. Ich sage nicht, dass wir Krieg wollen, aber wenn die Hisbollah ihn möchte, dann sind wir bereit. Das ist eben Politik: Wenn sie Krieg möchten, dann werden sie ihn bekommen."
Woher kommt die Kriegs-Rhetorik? Zeina el Helou, Aktivistin und Politikanalystin: "Sie kommt hauptsächlich von den Emotionen, die der provokative Diskurs bestimmter politischer Parteien erzeugt. Im Libanon ist es leider weit verbreitet, über einen möglichen Krieg zu sprechen. Aufgrund des langen Bürgerkriegs und all der Konflikte, die wir in den letzten Jahren erlebt haben."
Drohende Hungersnot ist aktuell das drängendste Problem
Die dominanten Parteien beschuldigen sich zum Beispiel gegenseitig, an der Korruption im Land Schuld zu sein. Die sogenannten Zaims, politische Führungspersonen, gelten als Vertreter ihrer Konfession, und versprechen ihren Anhängern, die Interessen ihrer Gruppe gegen die anderen Parteien durchzusetzen. Den sozialen Zusammenhalt zu wahren, ist ein kritisches Unterfangen, sagt Helou.
"Ich denke, dass die aktuelle wirtschaftliche und finanzielle Situation, der Zusammenbruch, auf den wir zulaufen, nicht förderlich für den sozialen Frieden ist. Die Unruhen sind eine logische Folge des Ganzen. Ohne Brot gibt es keinen Frieden."
Denn die drohende Hungersnot im Libanon ist aktuell das drängendste Problem. Wie die dahinterstehende Wirtschaftskrise gelöst werden kann und welchen Weg der Libanon zukünftig einschlagen soll, darüber gibt es Uneinigkeit, sagt Politikwissenschaftler Bassel Salloukh: "Der Hauptkonflikt findet zurzeit zwischen den verschiedenen Teilen der politisch-ökonomischen Elite statt, insbesondere zwischen den Politikern und dem Finanzsektor. Das Problem im Libanon ist, dass verschiedene Schlachten inmitten dieses ökonomischen Zusammenbruchs ausgetragen werden. Und deshalb wird sich erst eine Lösung herauskristallisieren, wenn die politische ökonomische Elite sich entscheidet, welchen Weg sie einschlagen will."