Infrastruktur
Mahnmal für Deutschlands Nachholbedarf

Jahrzehntelang hat Deutschland zu wenig in seine Infrastruktur investiert. Das Ergebnis sind marode Brücken, langsames Internet, Zugausfälle und ein schleppender Ausbau der Stromnetze. Wie als Mahnmal dafür steht die eingestürzte Carolabrücke in Dresden.

    Die teilweise eingestürzte Carolabrücke in Dresden.
    Am 11. September 2024 ist ein Teil der Carolabrücke in Dresden eingestürzt. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. (imago / PIC ONE / iSebby)
    Die Bilder von der eingestürzten Carolabrücke in Dresden sind erschreckend. Selbst Fachleute zeigen sich überrascht. Denn die Brücke galt gar nicht als marode. Anders als tausende andere Brücken in Deutschland. Der Präsident des Zentralverbandes Deutsches Baugewerbe, Wolfgang Schubert-Raab, spricht von einem "traurigen Symbol der deutschen Infrastruktur", Deutschland lebe von der Substanz.
    Offenbar wird nicht in dem Umfang saniert, wie es nötig ist. Das hat verschiedene Gründe. Ein wichtiger ist ein Sanierungsstau. Jahrzehntelang wurde zu wenig in Brücken, Straßen, Schienen und Netze investiert. Ein Überblick über Deutschlands Baustellen und die Herausforderungen.

    Inhalt

    Deutschlands marode Straßen und Brücken

    In ganz Deutschland werden immer mehr Waren über die gleichen alten Brücken transportiert. Seit 1991 hat sich der Straßengüterverkehr laut Umweltbundesamt mehr als verdoppelt. Notwendige Sanierungen blieben häufig aus. Viele Brücken stammen aus den 1960er- bis 1980er-Jahren, insbesondere große Tal- und Flussbrücken. Die meisten von ihnen seien "Problempatienten", sagte Brückenexperte Martin Mertens dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
    Von insgesamt rund 130.000 Brücken in Deutschland sind mehrere zehntausend in Zuständigkeit von Bund, Ländern, Deutscher Bahn und Kommunen sanierungsbedürftig. Das Deutsche Institut für Urbanistik geht bei den rund 67.000 Brücken in kommunaler Verantwortung davon aus, dass jede zweite Straßenbrücke in schlechtem Zustand ist. Eine davon ist die Dresdner Carolabrücke.
    Vor allem bei der sogenannten Traglast einer Brücke beobachten Fachleute einen Abwärtstrend in Deutschland. Dabei wird die Belastung von Brücken durch den täglichen Verkehr in den Blick genommen. Insbesondere im Westen haben zahlreiche Bauwerke ihre Lebenszeit überschritten.
    Ein Sinnbild für die Brücken-Misere ist die Rahmedetalbrücke an der Sauerlandlinie. Anfang Dezember 2021 ist die Brücke auf der A45, die das Ruhrgebiet mit Frankfurt verbindet, wegen Einsturzgefahr gesperrt und später gesprengt worden. Dass die Brücke einsturzgefährdet war, hatte ein Brückenprüfer schon 2017 festgestellt. Doch die Information war irgendwo versandet.
    Der schlechte Zustand der Carolabrücke in Dresden war jedoch nicht voraussehbar, hält Michael Raupach, Professor für Baustoffkunde und Bauwerkshaltung an der RWTH Aachen, fest. Er bestätigt einen „Sanierungsstau“ bei gleichzeitig alternder Infrastruktur in Deutschland. Er sieht aber vor allem Nachholbedarf, wenn es um die Diagnose der Zustände von Bauwerken geht. Hier sei der Kostendruck zu hoch.
    Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) verkündete im Frühjahr 2022 ein Maßnahmenpaket für eine schnellere Brückenmodernisierung. Für 2025 stünden nun neun Milliarden Euro für Investitionen in Bundesfernstraßen und Brücken bereit. Der Bundesrechnungshof hatte im Januar 2024 jedoch Zweifel angemeldet, dass der Sanierungszeitplan des Bundes zu halten ist.  

    Die lahmende Bahn

    Hunderte Kilometer Schienen müssen in Deutschland erneuert werden. Das kalkuliert der Branchenverband Allianz pro Schiene, ein Zusammenschluss von Umwelt-, Verkehrs- und Fahrgastverbänden sowie Eisenbahngewerkschaften.
    Weil das Schienennetz der Deutschen Bahn inzwischen zu marode ist, kommen Reparaturen im rollenden Betrieb auf vielen Strecken nicht mehr in Frage. In den kommenden Jahren sollen deshalb mehrere wichtige Streckenabschnitte komplett gesperrt werden. Die Strecke Berlin-Hamburg ist 2025 die wohl umfangreichste.
    Zwischen Mitte Juli und Dezember 2024 sperrt die Bahn als Auftakt eine der wichtigsten Nord-Süd-Adern des Zugverkehrs in Deutschland, die sogenannte Riedbahn, 70 Kilometer zwischen Frankfurt und Mannheim.
    Veraltete Bahnhöfe und das veraltete und teilweise völlig überlastete Schienennetz machen auch dem Güterverkehr zu schaffen, sagt Peter Westenberger, der als Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen eine Art Cheflobbyist des privaten Schienengüterverkehrs in Deutschland ist. Die Situation ist auch deswegen kompliziert, weil Personen- und Güterverkehr sich in Deutschland dieselben Gleise teilen. „Wir haben den Eindruck, dass der Personenfernverkehr eine so viel höhere Aufmerksamkeit genießt – und dass der Güterverkehr bei den Bedürfnissen für den Streckenausbau hinten runterfällt“, so Westenberger.

    Der schleppende Ausbau der Stromnetze

    Heute gibt es immer weniger Großkraftwerke, die dort den Strom produzieren, wo er verbraucht wird. Stattdessen produzieren vor allem große Windparks im Norden den Strom, der in den Süden transportiert werden muss. Hinzu kommen viele kleine Stromproduzenten wie Solarparks oder Balkonkraftwerke.
    Neue Steuerungsfunktionen, die schwankende Stromerzeugung und der steigende Bedarf durch E-Autos und Wärmepumpen - all das fordert das deutsche Stromnetz heraus. Die Netze zu den Endverbrauchern müssen modernisiert werden und es braucht mehr große Übertragungsleitungen, sagt Dirk Bauknecht vom Ökoinstitut in Freiburg. Eines der wichtigsten Projekte der Energiewende ist die neue Nord-Süd-Stromtrasse Südlink. Die Bundesnetzagentur schätzt die Kosten für den Ausbau der Übertragungsnetze auf 320 Milliarden Euro.
    In Deutschland gibt es vier große Übertragungsnetzbetreiber. Sie leiten den Strom über große Distanzen. Einer der Betreiber, Tennet, gehört dem niederländischen Staat. Wegen der gigantischen Investitionen, die gerade anstehen, wollen die Niederlande das Unternehmen verkaufen und haben es der deutschen Regierung angeboten. Die Verhandlungen mit dem Bundeswirtschaftsministerium liefen über Jahre. Im Juni 2024 sind sie laut Tennet "aufgrund von Haushaltsproblemen" der Bundesregierung gescheitert.
    Im Koalitionsvertrag hatte sich die Ampelregierung vorgenommen, die Dauer solcher Vorhaben mindestens zu halbieren. Konkret heißt das zum Beispiel: Mehr als 12.000 Kilometer Stromleitungen sollen nach Angaben der Bundesnetzagentur durch Deutschland gebaut werden. Davon waren zum Stichtag Ende Juni 2022 rund 9.000 Kilometer noch nicht einmal genehmigt. 
    2023 hat der Bundestag noch einmal mehrere verschlankte Genehmigungsverfahren beschlossen, den Ausbau zu beschleunigen, sagt Alexander Schilling vom Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW. Doch das Stromnetz in Deutschland bleibt auf allen Ebenen eine Baustelle.

    Das Glasfaser-Gaga

    Allzu lang hat die Telekom auf ihre alten Kupferkabel gesetzt. Und auch die Politik in Deutschland kam spät zu der Überzeugung, dass es ein Glasfasernetz braucht. Und so kommt es, dass hier, im Land der Erfindung von Glasfaser, nach einer aktuellen Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, OECD, nur rund 11 Prozent aller Breitbandanschlüsse Glasfaser sind. Im OECD-Durchschnitt sind es 40 Prozent, in Südkorea sogar 90. Im Glasfaser-Highspeed-Ranking liegt Deutschland auf Platz 36 von 38.
    Auch der Handyempfang ist im Jahr 2024 in vielen Regionen Deutschlands eher dürftig. Wenn es ums mobile Surfen mit dem Standard LTE geht, ist das Funkloch fast so groß wie Bayern, 18% der Fläche Deutschlands. Besonders dürftig ist das Netz seit Jahren in Brandenburg.

    Warum braucht Deutschland bei alldem so lang?

    Zum einen ist es eine Geldfrage. Österreich zum Beispiel steckt ins Schienennetz knapp dreimal so viel Geld pro Kopf wie Deutschland. Dadurch liegt die Quote im Schienengüterverkehr mit 28 Prozent schon heute über dem Wert, den Deutschland erst für 2030 anstrebt. Doch es mangelt nicht immer nur an Geld. Auch Bürokratie und Bürgerproteste verhindern den Ausbau von Netz, Stromtrassen und Straßen.
    In der Straßen- und Schieneninfrastruktur ist man jahrelang auf Verschleiß gefahren, sagt Frank Huster vom Bundesverband Spedition und Logistik. Das sei das Versagen mehrerer Legislaturperioden. Es sei aber auch ein Problem des föderalen Systems in Deutschland. Jahrzehntelang waren für die Sanierung der Autobahnen und ihrer Brücken die Bundesländer verantwortlich. Das habe zu organisatorischen Mängeln, sowohl bei der Finanzierung, aber auch beim Baustellenmanagement geführt, so Huster.
    Verkehrsexperte Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen sieht für Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern das spezielle Problem, dass Genehmigungen und Planungen viele Jahre dauern. Währenddessen war die 2016 eingestürzte Brücke in Genua nach zwei Jahren wieder befahrbar.
    Die lähmende Bürokratie von Planfeststellungsverfahren sieht Steffen Mogwitz, Geschäftsführer des Landwirtschaftsunternehmens Progranus, als „typisch deutsche Baustelle“. Aber auch, dass jeder seine Interessen berücksichtigt haben wolle. Matthias Fischer, Sprecher des Netzbetreibers Tennet, bearbeitet die zahlreichen Beschwerden gegen den Stromnetzausbau und bestätigt: „Wenn eine riesige Mehrheit in Deutschland eine Energiewende möchte und dann immer, wenn wir vor Ort kommen, gesagt wird, ja bitte, aber nicht hier. Das ist dann natürlich sehr kontraproduktiv.“

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