Die Wende 1989 hat Schriftsteller Ingo Schulze als große Zäsur empfunden aber nicht als Verbindung von Ost und West. "Die Wende bedeutete, dass sich absolut alles geändert hat: Von der Liebe, von der Luft, vom Essen, von der Kleidung, dem Geld, der Arbeit." Alles habe neu besprochen und über alles neu nachgedacht werden müssen.
Eine "Vereinigung" habe es aber nicht gegeben: "Das wäre schön gewesen, dann wäre aus A und B C geworden, so ist daraus ein größeres A geworden."
Verlorene Zukunft
Dem Osten sei in gewisser Weise mit der Wende seine Zukunft abhanden gekommen, so Schulze. In der DDR habe es "verordneterseits und im Privaten immer ein Nachdenken über die Zukunft" gegeben – und plötzlich sei alles zur Gegenwart geworden. Man habe viel darüber diskutiert, wie man volkseigene Betriebe in Eigentum umwandeln könne. Die Erfahrung habe aber gefehlt. "Das waren Dinge auf der Tagesordnung, die uns heute recht utopisch vorkommen, die aber heute auch wieder auf die Tagesordnung drängen", so Schulze. "Mitbestimmung und wie sich Betriebe zu verhalten haben, dass Profit eben nicht alles sein kann."
Es sei sehr prägend, wenn man zwei verschiedene Systeme erlebt habe – dann könne man diese ganz anders miteinander vergleichen. Der Nachteil sei aber, dass man das neue System weniger gut kenne als jemand, der darin aufgewachsen sei. "Aber ich finde es schon gut, den Westen auch von außen sehen zu können, auch wenn man mittendrin steckt."
Fröhliche Montagsdemonstrationen
Die Demonstrationen verbindet Ingo Schulze auch mit viel Lachen. "Es war eine sehr fröhliche Zeit, selbst auch im Herbst 1989, als man doch auch viel Angst hatte. Das war miteinander gepaart. Ich erinnere diese Demonstrationen als ungemein höflich, wie man sich zueinander verhielt. Es war einem manchmal auch ein bisschen peinlich, in diese Sprechchöre auszubrechen, aber vielleicht waren sie eben doch auch notwendig."
Auch sein "schönster Wendemoment" liegt für Schulze im Herbst 1989, während der Montagsdemonstrationen in Leipzig. "Für mich war das der Moment, in dem ich kapierte, dass ich an einer illegalen Demonstration teilnehme. Das war so unvorstellbar gewesen, dass man das tut, wenn man nicht gleich ausreisen wollte. Dass man das tut, um tatsächlich hier etwas verändern zu können. Das war ein sehr erhebender Moment. Mit viel Angst, aber auch viel Freude und Zittern."
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren und lebt heute in Berlin. Er studierte Klassische Philologie in Jena und arbeitete danach als Dramaturg und Zeitungsredakteur. Für sein erstes Buch "33 Augenblicke des Glücks" (1995) wurde er mit dem Alfred-Döblin-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet. Im Herbst 2017 erschien sein Roman "Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst".
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