
In Deutschland lebten zum Jahresende 2023 etwa 7,9 Millionen Menschen mit schwerer Behinderung – fast zehn Prozent der Bevölkerung. Laut der UN-Behindertenrechtskonvention ist ihre gesellschaftliche Teilhabe ein Menschenrecht, zu dem sich 185 Staaten bekannt haben – auch Deutschland. Im deutschen Alltag stoßen Menschen mit Behinderung allerdings auf zahlreiche Hürden, der Nachholbedarf bei Inklusion ist groß.
Mangelnde Inklusion ist aber nicht nur ein Problem für Menschen mit Behinderung. Denn das Wissen, die Kreativität und auch das wirtschaftliche Potenzial eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung werden nicht oder zu wenig genutzt.
Was fordert die UN-Behindertenrechtskonvention?
Kernprinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention sind Autonomie und Selbstbestimmung sowie Inklusion, also das gleichberechtigte Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen. Menschen mit Behinderungen sind demnach in allen Bereichen des Lebens mit dem Recht ausgestattet, aktiv und selbstbestimmt daran teilhaben und mitbestimmen zu können. Diese Forderung folgt dem Prinzip der Demokratie: Wenn Menschen sich aufgrund einer Behinderung nicht eigenständig einbringen können, ist das undemokratisch.
Dazu gehört gleichberechtigter Zugang zu Bildung, Information und Kommunikation, zu Transportmitteln, kulturellem, politischem und öffentlichem Leben - sowie Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Zugangshindernisse für diese Menschen zu beseitigen.
Wo gibt es noch viel Nachholbedarf?
In Sachen Bildung hat man sich den UN-Zielen nur schleppend angenähert. Nach wie vor existieren bundesweit häufig zwei voneinander getrennte Schulsysteme. Laut der Bertelsmann-Stiftung ist die Exklusionsquote (also der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die separiert in Förderschulen unterrichtet werden) von 4,8 Prozent (2008/09) lediglich auf 4,2 Prozent (2022/23) gesunken.
Beim Ausbau des inklusiven Schulsystems gibt es nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung zwar Fortschritte, der Abbau des Förderschulsystems geht aber nur langsam voran. Es gibt kein länderübergreifendes, koordiniertes Vorgehen für den Ausbau des inklusiven Schulsystems.
Etwas besser sieht es auf den ersten Blick in deutschen ambulanten Arztpraxen aus: 2023 verfügten etwa die Hälfte dieser Praxen über wenigstens eine Vorkehrung, die Barrieren abbaut oder vermeidet. Allerdings bedeutet das nicht, dass sie barrierefrei sind. Nach Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes werden bei 44 Prozent der Praxen Kriterien für Menschen mit eingeschränkter Mobilität erfüllt, nur 20 Prozent sind auf Menschen mit Hörbehinderung ausgerichtet, 8,2 Prozent auf Menschen mit Sehbehinderung und nur 1,5 Prozent auf Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Also immer noch sehr viele Praxen, die beispielsweise zu wenige geeignete gynäkologische Stühle für Frauen haben, die Rollstühle nutzen, zu wenig Informationen in leichter Sprache und zu wenig Möglichkeiten für Menschen, in Gebärdensprache zu kommunizieren.
Auch bei der Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen gibt es noch viel zu tun. Verschiedene Organisationen und Institutionen aus dem Kultur- und Mediensektor befassen sich bereits mit dem Thema und haben Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit ergriffen. Trotzdem gibt es noch viele Leerstellen und es fehlen vielerorts Kenntnisse und Ressourcen zur Umsetzung.
Auch beim Zugang zu künstlerischen Berufen hapert es: Ein Nachteilsausgleich, wie er bei Studienbewerbern mit Behinderungen in anderen Studiengängen üblich ist, findet nicht an allen Kunst- und Musikhochschulen statt. Dies erschwert Menschen mit Behinderung den Studienzugang für künstlerische oder kunstvermittelnde Disziplinen.
Verbesserungen im Kulturbereich sind nicht nur "nice to have". Denn hier begegnen sich unterschiedliche Menschen, tauschen sich aus, diskutieren und lernen voneinander. Wenn Menschen mit Behinderungen der Zugang erschwert wird, werden ihre Sichtweisen und Lebenserfahrungen unterrepräsentiert. Das ist dann auch eine Frage der Demokratie, so Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung: Demokratie und Inklusion sind zwei Seiten einer Medaille.
Was fordern Fachverbände und Betroffene?
Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert den weiteren schrittweisen Abbau von Förderschulen. Das Bildungssystem soll gemäß der UN-Vorgaben so reformiert werden, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen. Insbesondere die Planungen im Land Berlin zum Bau neuer Förderschulen gingen in die falsche Richtung.
Das findet auch die Autorin und Podcasterin Ninia LaGrande. Letztlich werde die Separation durch Förderschulen verstärkt. Das Ziel soll sein: Zeit, Geld und Ressourcen so in Regelschulen zu investieren, dass diese für alle zugänglich werden.
Die Barrierefreiheit bei Arztbesuchen muss deutlich verbessert werden. Die Stiftung Gesundheit nennt 15 Kriterien für eine barrierefreie Arztpraxis. Dazu gehören u.a. höhenverstellbare Untersuchungsmöbel, Informationsmaterial in leichter Sprache, Orientierungshilfen für Sehbehinderte und induktive Höranlagen, Informationen in leichter Sprache und die Möglichkeit, in Gebärdensprache zu kommunizieren.
Bei Planung und Bau von Gebäuden und Verkehrswegen muss viel öfter die Expertise der Betroffenen eingeholt werden. Diese sind Experten in eigener Sache, sagt Jürgen Dusel. Viel teurer als die Berücksichtigung der Bedürfnisse behinderter Menschen im Vorfeld sind die später notwendigen Umbauten.
Verena Bentele vom Sozialverband VdK fordert von der Gesetzgebung eine stärkere Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit. Speziell für digitale Dienstleistungen und Produkte fordert dies auch das Europäische Barrierefreiheitsgesetz. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband kritisiert dessen geplante Umsetzung in Deutschland als unzureichend und fordert Nachbesserungen.
Der Deutsche Kulturrat hat mit dem Behindertenbeauftragten Jürgen Dusel Teilhabeempfehlungen für eine inklusive Kultur vorgelegt. Damit sollen öffentliche und nichtstaatliche Kulturförderer weiter für Inklusion sensibilisiert werden.
Darin enthalten sind u.a. Forderungen nach mehr Services in Bibliotheken für Menschen mit Behinderungen, die Erhöhung der Sichtbarkeit von Gebärdensprache und Gehörlosenkultur und bei Kunst- und Musikhochschulen bedarfsgerechte und flexible Prüfungsformen und Leistungsnachweise. Nicht zuletzt sollen Bund und Länder spezielle Programme und Anreize für kleine und mittlere Unternehmen der Kunst-, Kultur- und Medienbranche schaffen, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen.
Nun haben aber mehrere Kommunen schon Ende 2024 drastische Einsparungen in den Kulturetats geplant. Für die Finanzierung von Inklusionsmaßnahmen im Kultursektor ist das kein gutes Zeichen. Das Engagement der Interessensvertreter behinderter Menschen wird jedenfalls weiterhin gefordert sein.
rja