Kate Maleike: Seit in Deutschland vor fünf Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten ist, sind Förderschulen in Erklärungsnot, könnte man sagen. Denn wenn die Schule für alle kommt, und zwar die allgemeine, die Regelschule, welche Aufgaben haben dann noch Förderschulen, welche Existenzberechtigung? Die Zahlen zur aktuellen Beschulungssituation, die heute in Bonn auf dem Gipfel bekannt gegeben wurden, könnten den Förderschulen jetzt aber wieder Auftrieb geben, denn von den rund 500.000 Schülerinnen und Schülern in Deutschland mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden im letzten Schuljahr nur 140.000 an allgemeinen Schulen unterrichtet, sprich fast drei Viertel besuchen weiterhin Förderschulen. Marianne Schardt ist im Bundesvorstand des Verbandes Sonderpädagogik und damit im wichtigsten Sprachrohr der Förderschulen in Deutschland aktiv. Guten Tag, Frau Schardt!
Marianne Schardt: Guten Tag, Frau Maleike!
Maleike: Sind die Förderschulen also doch nicht mehr so einfach wegzustreichen, wie man das vielleicht am Anfang der Inklusionsdebatte auch von der Politik gehört hatte?
Schardt: Wegzustreichen, so einfach, glaube ich, hat nie zur Debatte gestanden. Zur Debatte stand ja und steht auch heute noch ein behutsamer Übergang der Förderschulen in die allgemeinen Schulen. In Schulen, die sich der Herausforderung Inklusion stellen mit der Vision, dass irgendwann alle Schulen Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen aufnehmen. Dass man die Förderschulen nicht mit einem Strich wegradieren kann, glaube ich, ist für alle nachvollziehbar. Aber es ist ein Prozess, der in Gang gekommen ist, der auch nicht mehr aufzuhalten ist, und den niemand, erst recht nicht der Verband Sonderpädagogik auch stoppen will. Wir haben halt nur Bedenken in bestimmten Bereichen, wo wir sagen, da sollte noch mal genauer hingeschaut werden.
"Große offene Fragen"
Maleike: Dann sagen Sie uns, welche Bereiche das sind.
Schardt: Das sind zum Beispiel die Bereiche der Lehreraus- und Weiterbildung. Wir merken einfach verstärkt, seit wir die Kollegen in die allgemeinen Schulen schicken, dass dort, ja, wie soll ich sagen, das Feld noch nicht so bestellt ist, wie es wünschenswert ist. Es sind große Unsicherheiten bis hin zu ganz diffusen Ängsten bei den Kolleginnen und Kollegen in den allgemeinen Schulen, was da auf sie zu kommt. Und ich denke, wir täten gut daran, in allen Bundesländern verstärkt gemeinsame Fortbildungen durchzuführen mit Kollegen der allgemeinen Schulen und den Kolleginnen und Kollegen der Sonderschulen, weil auch aufseiten der Förderschulen gibt es große offene Fragen. Die beziehen sich auf zwei Bereiche vor allen Dingen. Wie ist das mit der Rollenklärung? Wie stelle ich mich auf als Sonderpädagoge im allgemeinen System? Wie funktioniert das mit dem Team-Teaching? Wie ist das mit der Haltung in den Köpfen bei den Kollegen der allgemeinen Schule? Wie muss sich Unterricht verändern? Das sind so ganz dicke Fragen, die in den Köpfen der Sonderpädagogen schwirren.
Maleike: Und wo auch noch eine Menge gemacht werden muss, Sie haben es ja schon angesprochen, an den allgemeinen Schulen gibt es ja ein ähnliches Bild. Da wird sehr oft von - wir kriegen was übergestülpt, wir fühlen uns nicht vorbereitet, wir haben gar nicht die Ausbildung - dass im Moment so wenige Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf tatsächlich an den allgemeinen Schulen unterrichtet werden, liegt ja sicher auch daran, dass die Eltern noch nicht so richtig das Vertrauen in die Regelschule haben.
Schardt: Das mag sein. Ich glaube, da müssen wir von beiden Seiten einfach Aufklärungsarbeit leisten. Da sind beide Systeme gefordert, die Förderschulen und die allgemeinen Schulen auch, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Den Eltern klarzumachen, wenn ihr Kind die allgemeine Schule besucht, dann wird ihr Kind auch entsprechend gefördert durch die Unterstützung von Sonderpädagogen. Da ist einfach eine behutsame Aufbauarbeit zu leisten. Es gibt keine Veränderung, die von hier auf jetzt mit Fingerschnipp funktioniert. Da wird es auch Stolpersteine geben, da wird es Irritationen geben - uns ist einfach wichtig, dass wir sagen, es ist gut, dass immer mehr Kinder und Jugendliche inklusiv beschult werden. Es ist noch viel zu tun in der Art der Unterstützung, die erfolgen muss.
"Bin überzeugt, dass es noch wenige Förderschulen geben wird"
Maleike: Trotzdem noch mal die Nachfrage: Wie wird denn die Zukunft der Förderschulen aussehen in diesem Zusammenspiel? Werden sie tatsächlich noch eigene Schulen bleiben können oder wird dann alles wirklich unter einem Dach gedacht werden?
Schardt: Ich glaube, in der Pädagogik gibt es, wie in vielen anderen Dingen, kein 100-Prozent. Deswegen bin ich überzeugt, dass es noch wenige Förderschulen geben wird, wenn wir es ernst meinen mit dem Elternwillen. Die Eltern können die Schulform wählen, dann haben die Eltern natürlich auch das Recht, eine Förderschule zu wählen. Das wird mit Sicherheit überwiegend bei den Eltern sein, die Kinder mit schwerster Behinderung haben, mit schwersten körperlichen Beeinträchtigungen, mit schwerster geistiger Behinderung, dass diese Eltern oftmals sagen werden, nein, ich brauche die Förderschule mit der ganzen Vernetzung und den Therapeuten und was da alles notwendig ist. Da ist mein Kind besser versorgt. Es zeichnet sich ab in den letzten zwei Jahren, dass zum Beispiel die Eltern der Kinder mit Lernproblemen, mit Sprach- und Verhaltensproblematik immer, immer mehr die inklusive Beschulung wünschen. Und die Eltern, die auch für ihre Kinder mit diesen, mit Lern- und Entwicklungsstörungen die Förderschule wünschen, für die Eltern wird es mit Sicherheit auch irgendwo in der Region eine Förderschule mit diesem Angebot geben. Aber nicht mehr in der Ausdifferenzierung, wie wir heute das sonderpädagogische Schulwesen haben.
Maleike: Also kommt es auf ein intelligentes Netzwerk an von Schulen, damit es eben für alle Bedarfe auch die möglichst richtige Schule und Beschulung geben kann. Welche Forderung haben Sie als Förderschulen an den Gipfel in Bonn jetzt?
Schardt: Mein Wunsch wäre, dass sich möglichst viele allgemeine Schulen gut aufstellen auf dem Weg, ein inklusives System zu werden, dass die Eltern wirklich die Wahlfreiheit haben zu gucken, welche Schule nehme ich für mein Kind, und da werden im Augenblick immer mehr auch Sekundarschulen I, also auch Gymnasien, die sich auf den Weg machen, sodass die Eltern wählen können. Dass es aber im Einzugsbereich, in einem gut erreichbaren Rahmen für die Eltern, die die Förderschule wollen, auch noch eine Förderschule geben soll.
Maleike: Frau Schardt, wie lange, denken Sie, wird es noch brauchen, bis die Schule für alle in Deutschland Realität ist?
Schardt: Mindestens eine Schüler- und eine Lehrergeneration.
Maleike: In Campus & Karriere war das Marianne Schardt vom Bundesvorstand des Verbandes Sonderpädagogik. Ganz herzlichen Dank und toi-toi-toi für Ihre Arbeit!
Schardt: Gerne, danke!
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