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Inklusion
"Fast charmante Handicaps"

In seinem Buch "Beschädigte Schönheit - Eine Ästhetik des Handicaps" geht Lorenz Jäger, Ressortleiter beim Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dem Thema Inklusion nach. Er untersucht dabei die wechselnden Blicke auf Freaks und allerlei Andersartige, Behinderte. Für ihn fange ein Handicap schon beim leichten Silberblick an, sagte Jäger dem DLF.

Lorenz Jäger im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig |
    David Behre beim 200-Meter-Lauf während der Paralympics in London.
    In seinem Buch schlägt Lorenz Jäger den Bogen von den Sagen der Antike bis zu den Londoner Paralympics des Jahres 2012. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Rainer Berthold Schossig: Alle reden von Inklusion - wir auch. Und auch geschrieben wird darüber viel. Lorenz Jäger, Ressortleiter beim Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", hat zum Thema das Buch verfasst: "Beschädigte Schönheit - Eine Ästhetik des Handicaps". Es schlägt den Bogen von den Sagen der Antike bis zu den Londoner Paralympics des Jahres 2012 und es untersucht die wechselnden Blicken auf Freaks und allerlei Andersartige, Behinderte. Vor der Sendung habe ich mit Lorenz Jäger gesprochen und meine erste Frage war: Herr Jäger, wo fängt das Handicap an, schon beim leichten Silberblick?
    Lorenz Jäger: Bei mir ja. Das ist ja ein eigenes Kapitel über das Schielen oder das positiv gesehene Schielen als Silberblick. Das ist ein Teil der Dinge, die mich interessiert haben. Aber das sind durchaus fast charmante Handicaps beim Silberblick.
    Schossig: Das hat ja auch was Geheimnisvolles.
    Jäger: So ist es.
    Schossig: Aber gehen wir vielleicht mal zu den etwas ernsthafteren Handicaps, zum Beispiel zum hinkenden Vulkan, sprichwörtlich in der Antike. Dieser Mann war mit Venus verheiratet, ausgerechnet der Liebesgöttin, die ihn dann wiederum mit Mars betrogen hat. Da wurden sie erwischt und das Erstaunliche: Daher kommt das homerische Gelächter der Götter, glaube ich. Das galt aber nicht dem Betrogenen, dem Behinderten, sondern den beiden Betrügern. Warum wohl?
    Jäger: Ja weil er die in einem Netz gefangen hat. Er war ja nun ein Schmied und verstand sich auf sehr fein gesponnene metallische Netze auch, und da kommen Sie nicht mehr raus, und dann kommen die Götter, die holt er dann, und dann sehen die das und lachen. Aber es ist auch so, dass Vulkan, wann immer er auftaucht, die Götter zu großer Heiterkeit reizt. Und was passiert ist: So um 1600 fängt eine Paradoxierung von Venus und Vulkan an. Das ist jetzt nicht mehr auf zwei Personen verteilt, die Schönheit und das Hinken, sondern es gibt dann eine ganze Menge von Gedichten auf schöne hinkende Damen und Mädchen, die ungefähr so lauten: "Deine Mutter war Venus, man sieht es ja, Du bist wahnsinnig schön, und Dein Vater war Vulkan, auch das sieht man, wenn Du gehst."
    Schossig: Was ist das Neue? Ist es das mehr Spielerische, oder ist es das Absehen von Moral?
    Jäger: Ja, das Neue ist überhaupt, dass das in einer Person gedacht wird, was in der Antike auf zwei verteilt war, auf Vulkan und Venus. Das ist ein Teil der barocken Überraschungs- und Befremdungsrhetorik, die diese Dichter beherrschten.
    Schossig: Sie gehen ja auch in Ihrer "Ästhetik des Handicaps" dann den großen Romanciers des 19. Jahrhunderts nach. Wie treten bei denen behinderte Protagonisten auf, als Rummelplatzfiguren, als Dame ohne Unterleib vorwiegend, oder was passiert da?
    Und dann kippt das Ganze um in eine Selbstdarstellung
    Jäger: Nein, die kriegen zunächst mal eine eigene Lebensgeschichte in diesen Romanen von Balzac oder von Trollope oder von Zola. Sie kriegen einen Eigennamen. Die hießen ja in der Barockzeit einfach nur Silvy oder Cloé, also irgendwelche Namen aus einer schäferischen Welt, Fantasienamen. Die hatten eigentlich kein Gesicht, keine Geschichte. Und jetzt im 19. Jahrhundert bekommen sie ein Gesicht und eine eigene Geschichte und ein eigenes Auftreten, und das ist schon etwas anderes. Es rückt immer näher an konkrete Individualität.
    Schossig: Zum Schluss die Frage: Was hat das 20. Jahrhundert mit dem Thema gemacht? Hat es entdeckt, dass sexuelle Anziehung mit körperlichen Defekten auch zu tun haben kann?
    Jäger: Ja, unbedingt. Das spielt sich schon im späten 19. ab. Da gibt es so einen Übergang zwischen französischer Dekadenz und beginnender Psychoanalyse und Sexualforschung. Das ist das eine. Große Romane wie "Die Dämonen" von Heimito von Doderer nehmen das Motiv auf. Und dann wird diese Sexualisierung noch ein Stück weitergetrieben in das Obszöne hinein. Sozusagen das bewegungsunfähige Fleisch, das aktionsunfähige Fleisch ist ja eigentlich der Begriff der obszönen Anziehung. Und dann kippt das Ganze um in eine Selbstdarstellung. Es ist nicht mehr der fremde Blick, der diese Ansicht beherrscht, sondern es sind, wie ich vermute in dem Buch, in der Gegenwart sehr viele behinderte Models, die auch eigens ausgesucht werden dafür und die mit großem Selbstbewusstsein diese Rolle annehmen. Ich habe ja erwähnt Viktoria Modesta, die bei den Paralympics in der Schlussveranstaltung gesungen hat und getanzt hat und die jetzt kürzlich ein Video gemacht hat für "Chanel Five" in Großbritannien, und das Video wurde in der ersten Woche 20 Millionen Mal geklickt. Das ist ein Film, ein Musikfilm, in dem sie sehr, sehr offensiv ihre Beinprothese ins Spiel bringt und sehr kunstvoll, muss man sagen, und das ist das Neue der Gegenwartsmoderne, der Aktualität, dass das Ganze umschlägt in das, was ich genannt habe die Geste des ich bin es selbst.
    Schossig: "Motivgeschichte des schönen Hinkens" - Das war Lorenz Jäger über sein Buch "Beschädigte Schönheit - Eine Ästhetik des Handicaps", erschienen im Klampen Verlag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.