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Inklusion
Modellprojekt bildet Behinderte zu Hochschuldozenten aus

Behinderte und nicht behinderte Kinder sollen gemeinsam lernen – das ist das Ziel von Inklusion. Ein Modellprojekt in Schleswig-Holstein geht noch einen Schritt weiter: Menschen mit geistigen Einschränkungen werden dort zu Lehrern ausgebildet.

Von Rebekka Merholz |
    Ein Schulkind steht vor einer Tafel, auf der das Wort "Inklusion" geschrieben steht.
    In Schleswig-Holstein werden Menschen mit Behinderungen zu Hochschullehrern ausgebildet, um zum Beispiel angehenden Lehrern das Thema "Inklusion" lebensnah zu vermitteln. (picture alliance / dpa)
    Ein kleiner, freundlicher Raum, ausgelegt mit dunklem Teppichboden, hell gestrichenen Wänden und einer kleinen weißen Tafel. Sechs Menschen sitzen an Einzeltischen vertieft in eine Aufgabe. Kursleiterin Sarah Lemm gibt Tipps:
    "Einmal nur, dass ich einen Überblick bekomme: Was haben Sie denn? Was ist so das Wichtige in ihrem Plan?" - "Also ich habe die Frage 'Was bedeutet Inklusion für Sie, erzählen oder berichten Sie von eigenen Erfahrungen'." - "Da kann man die Studierenden gleich schön einbinden, ne!?"
    Auf den ersten Blick eine ganz normale Arbeitsgruppe. Doch was hier vor sich geht, ist einzigartig in ganz Deutschland. Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen werden zu Hochschullehrern ausgebildet. Das Ziel: Sie sollen – als Betroffene - Studenten der Fächer Lehramt, Soziale Arbeit und Heilpädagogik das Thema Inklusion vermitteln, sagt Projektleiter Jan Wulf-Schnabel:
    "Das, was an fachtheoretischer Lehre geboten wird zu Inklusion, wollen wir durch praktische, durch lebensnahe Seminare ergänzen. Frei nach dem Motto 'Nicht ohne uns über uns'.“
    Behinderte sollen Studenten als Betroffene das Thema Inklusion vermitteln
    Im November haben die sechs Teilnehmer ihre Ausbildung begonnen, sie wird zwei Jahre dauern und ist in vier Module aufgeteilt, sagt Kursleiterin Sarah Lemm:
    "Im ersten Halbjahr haben wir uns ganz viel mit der Bildungstheorie beschäftigt. Was ist eigentlich Bildung? Was steckt hinter dem Bildungsbegriff? Dazu gehört auch Theorie zur Arbeit. Also was ist eigentlich Arbeit? Und das Ganze auch einzubinden in den Kontext von Schon- und Schutzräumen. Das ist so das Erste jetzt."
    Abgeschlossen haben die Teilnehmer das Modul mit einer Prüfung. In Zweiergruppen mussten sie einen Vortrag halten – eine große Herausforderung für Laura Schwörer:
    "Bei mir ist das so, dass ich Schwierigkeiten in Gruppenarbeit hab. Und das war zwar eine sehr anstrengende Woche. Aber auf der einen Seite hat es sich auf jeden Fall gelohnt, weil wir dadurch wieder viel dazu gelernt haben und dadurch sind wir über unseren Horizont hinaus gewachsen.“
    Laura Schwörer ist 25 Jahre alt und leidet am Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus. Bis zum Beginn der Ausbildung hat sie in einer Werkstatt für Behinderte gearbeitet. Das könnte sich danach ändern, denn die Teilnehmer sollen auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt werden, sagt Projektleiter Wulf-Schnabel:
    "Man muss an den Strukturen ran und nicht einfach sagen, ihr dürft jetzt mitmachen und nett, dass ihr mal hier seid. Sondern gleichwertige Leistung und gleichwertige Arbeit bedeuten, dass man die Strukturen infrage stellen muss."
    Aber: So einfach ist das nicht. Denn um an einer Hochschule unterrichten zu dürfen, gelten strenge Regeln:
    "Wenn man an der Hochschule Lehre betreiben will, muss man mindestens den Bildungsabschluss haben, den die Studierenden anstreben. So, unsere Menschen mit Behinderung haben noch nicht mal einen Schulabschluss. Also müssen wir uns was einfallen lassen."
    Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Lehrer mit Beeinträchtigungen ihre Prüfungen zusammen mit anderen Dozenten abnehmen. Damit das klappt, sagt Wulf-Schnabel, müssen alle Beteiligten über den Tellerrand schauen. Unterstützung bekommt er dabei von Martina Fey vom Wissenschaftsministerium:
    "Wir sind in Gesprächen mit vielen Verantwortlichen in dem Bereich und werden versuchen, auch Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen. Aber es ist natürlich im Moment noch ungeklärt. Das wird parallel jetzt erfolgen."
    Neben dem Ministerium wird das Projekt auch von drei Hochschulen unterstützt. Schon während der Ausbildung sollen die Teilnehmer den ersten Kontakt zu Studenten bekommen. In zwei Wochen geht es los. Dann wird die Gruppe zum ersten Mal unterrichten. Teilnehmer Samuel Wunsch kann es kaum erwarten:
    Studierenden die Lebenswelt von Behinderten näher bringen
    „Ich geb zu, ich bin aufgeregt, aber ich freu mich auch. Das wird bestimmt eine sehr interessante Erfahrung.“
    Alle zwei Wochen werden die sechs Teilnehmer für ein Seminar an der Fachhochschule Kiel sein und den Studierenden die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung näher bringen. Ein wichtiger Schritt, findet auch Thomas Schunck vom Bildungsministerium:
    "Wir haben in den vergangenen Jahren uns sehr gefreut über die Inklusionsquote an schleswig-holsteinischen Schulen. Die ist sehr, sehr hoch. Aber die Quote ist nicht alles, wir müssen schauen, welche Qualitäten liegen dahinter."
    Und genau dieses Projekt, so Schunck, sei ein Weg zu mehr Qualität. Gleichzeitig gebe es aber noch viele andere ungelöste Fragen beim Thema Inklusion:
    "Personalfragen, wer unterstützt wen, wer zahlt was. Das sind eigentlich die entscheidenden Fragen qualitativ und die stehen für uns derzeit im Vordergrund."
    Für die Projektteilnehmer sind diese Fragen eher nebensächlich. Sie wünschen sich, dass die Gesellschaft umdenkt, sagt Samuel Wunsch:
    "Es geht allgemein darum, dass wir mit den Vorurteilen, mit dem Schubladendenken aufräumen wollen. Inklusion heißt, dass alle dazu gehören."
    Diese Vision treibt die sechs Teilnehmer an. In zwei Wochen wollen sie mit der Umsetzung beginnen – bei ihrem ersten Seminar mit den Studenten.