Sportfest in der Grundschule in Unkel, einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Der Hausmeister gibt das Startsignal für ein Rollstuhlrennen auf der Aschebahn. Hier hat der Zweitklässler Clemens die Nase vorn. Kein Wunder, schließlich manövriert er seinen Rollstuhl täglich mit großem Geschick. Seinem nicht gehbehinderten Mitschüler fährt er auf und davon.
An der Ziellinie wartet schon Clemens' Schulbegleiterin Jana Gallo. Die studierte Sonderpädagogin ist bei der Caritas angestellt und arbeitet als Integrationshelferin, demnächst beginnt sie ihr Referendariat an einer Förderschule. Bis dahin kümmert sie sich um Schüler mit Handicap, so wie Clemens:
"Ich würde sagen, der Clemens wurde wunderbar eingebunden. Ich hab gerade noch von einer Lehrerin gesagt bekommen, er muss immer bei der Klasse bleiben. Egal, ob er jetzt bei einem Lauf grad nicht mitmachen kann, weil er schon den Rollstuhllauf quasi vorher gemacht hat. Er soll auf gar keinen Fall am Rand stehen, dass er Zuschauer wird. Er soll immer dabei sein. Er macht auch eigentlich alles mit. Also ich würd' sagen, er ist gut dabei."
Der achtjährige Clemens ist wie sein Zwillingsbruder, der eine andere Grundschule besucht, nach einer komplizierten Geburt gehbehindert. Er benutzt spezielle Gehstöcke oder aber den Rollstuhl. Geistig entwickelt er sich völlig normal; im Unterricht bringt er gute Leistungen.
Die sogenannte Schwerpunktschule, die Clemens besucht, ist offen für alle Kinder: solche mit und ohne Behinderung. Hier werden auch Schüler unterrichtet, die üblicherweise auf eine sonderpädagogische Förderschule gehen würden - etwa autistische Kinder oder solche mit einem Aufmerksamkeitsdefizit. An Clemens Schule gibt es derzeit 13 sogenannte Integrationskinder, bei insgesamt 186 Schülern.
"Was er alleine kann, macht er auch alleine"
Ab morgen haben Eltern behinderter Kinder in Rheinland-Pfalz die gesetzlich garantierte Wahlfreiheit: Sie können ihr Kind auf eine von landesweit 260 Schwerpunktschulen schicken, wo Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam unterrichtet werden oder aber auf eine spezielle Förderschule.
An Clemens' Schule gibt es zusätzlich zu den Grundschullehrerinnen weitere pädagogische Fachkräfte und einen Sonderpädagogen. Außerdem Schulbegleiterinnen wie Jana Gallo, die Clemens schon vor dem Klingeln zur ersten Unterrichtsstunde unterstützt: Beim Aussteigen aus dem Taxi, das den Jungen jeden Morgen zu Hause abholt und zur Schule fährt:
"Wir holen den Clemens aus dem Auto. Der hilft aber eigentlich ziemlich viel mit. Wir müssen gar nicht so viel machen. Der äußert auch, was er alleine kann. Und ab da beginnt dann der Schultag. Und was er alleine kann, das macht er auch alleine, und das will er auch alleine machen."
Die rheinland-pfälzischen Schwerpunktschulen gelten als Vorbild für das Projekt der Inklusion. Das Modewort bedeutet wörtlich übersetzt "Einschluss". Im Bildungswesen ist damit gemeint, Schüler mit Behinderungen in Regelschulen zu unterrichten - und nicht wie bislang in Deutschland vielerorts üblich in Förderschulen, die ihren Unterricht speziell auf die Bedürfnisse von etwa lern-, seh- oder hörbehinderten Kindern ausrichten.
Inklusionsbefürworter kritisieren die Förderschulen, die umgangssprachlich auch Sonderschulen heißen. Weil sie die behinderten Kinder nicht in die Gesellschaft integrierten und eine permanente Sonderbehandlung bedeuteten. Zudem erzielten behinderte Kinder auf Regelschulen zum Teil bessere Leistungen. Aus der Konvention der Vereinten Nationen für die Rechte von Behinderten leiten Staaten wie die Bundesrepublik den Rechtsanspruch auf ein sogenanntes inklusives Bildungssystem ab: Schüler mit Behinderungen sollen in den normalen Lernbetrieb einbezogen werden.
In Deutschland ist die Konvention vor fünf Jahren in Kraft getreten - und seitdem gibt es nicht nur hitzige Diskussionen über Sinn und Nutzen der Inklusion, sondern auch zahlreiche Schulversuche. Viele Länder ändern ihre Schulgesetze oder haben dies bereits getan. Derzeit besuchen in Deutschland knapp ein Drittel der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf allgemeine Schulen.
"Ein großer Paradigmenwechsel"
Skeptiker befürchten, dass die Inklusion der Sargnagel für die Förderschulen sein könnte. Rheinland-Pfalz hat deshalb in seinem Gesetz zum inklusiven Unterricht die Wahlfreiheit festgeschrieben, wie die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Malu Dreyer betont. Sie ist selbst wegen einer Multiple-Sklerose-Erkrankung zeitweilig auf den Rollstuhl angewiesen.
"Es ist ein großer Paradigmenwechsel. Wir reden zum Beispiel überhaupt nicht darüber, ob wir die Förderschulen schließen oder nicht. Sondern wir reden von einem Wahlrecht der Eltern mit behinderten Kindern."
Malu Dreyer saß im ARD-Fernsehen zusammen mit Kirsten Ehrhardt, der Mutter von Henri aus Baden-Württemberg. Sein Fall hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Weil die Mutter wollte, dass ihr elfjähriger Sohn mit Downsyndrom nach den Sommerferien an ein Gymnasium wechselt. Doch die Familie ist mit ihrem Anliegen gescheitert: Henri darf das Gymnasium nicht besuchen. Die Schule hatte sich vehement gewehrt, das behinderte Kind aufzunehmen, und auch der Stuttgarter Kultusminister wollte nicht eingreifen. Henris Mutter sieht sich vor allem mit vielen Vorurteilen konfrontiert:
"Inklusion beginnt im Kopf. Und Inklusion scheitert nicht an Räumen oder so. Sondern an Einstellungen, dass wir einfach diese Vielfalt nicht wollen."
Auch Clemens' Eltern haben damit ihre Erfahrungen gemacht. Die Familie lebt in Bad Honnef, ganz im Süden von Nordrhein-Westfalen an der Grenze zu Rheinland-Pfalz. Clemens hat zwei ältere Brüder, die schon auf das Gymnasium gehen, und seinen Zwillingsbruder Valentin. Er nimmt seltener als Clemens den Rollstuhl, spaziert über den Schulhof zurzeit am liebsten nur mit seinen beiden Gehstöcken.
Weil die beiden Jungen aber immer wieder auf den Rollstuhl angewiesen sind, hatte das Schulamt den Eltern den Besuch einer Förderschule vorgeschlagen. Das wollten die Eltern nicht - denn sie waren sicher, dass ihre Söhne auch in einer allgemeinen Schule zurechtkommen würden. Sie meldeten die Jungen in der nächstgelegenen Grundschule an. Doch die lehnte ab. Clemens ergatterte auf den letzten Drücker einen Platz auf der Schwerpunktschule hinter der Landesgrenze - in Rheinland-Pfalz. Sein Bruder Valentin besucht eine etliche Kilometer entfernt liegende integrative Grundschule in Nordrhein-Westfalen.
Vater Wilfried Kollritsch hat nun den direkten Vergleich bei der Umsetzung der Inklusion in den beiden Bundesländern. Valentins Schule in Nordrhein-Westfalen sei nicht so kompromissbereit, sagt er. Beispiel Sportfest:
"Da sollte er die gleiche Leistung bringen wie ein normaler Schüler. Der Valentin hat dann selbst das infrage gestellt und gesagt, er würde das ja dann nicht schaffen, wenn er mit dem Rolli und den Stöcken geht. Und da hat meine Frau sich überlegt, es gibt ja auch Paralympics. Und da gibt's wohl auch Umrechnungstabellen, wo man von normalen Schülern auf Schüler mit Behinderungen umrechnen kann und das dann halt vergleichen könnte."
Diese Tabellen faxten sie zur Schule - mit Erfolg.
"Aber man hat trotzdem den Unterschied gesehen zu Rheinland-Pfalz. Da werden die Kinder ganz anders angefasst. Da werden die schon von Anfang an motiviert und steigen da voll ein."
An der Schwerpunktschule in Rheinland-Pfalz kann Clemens sogar am Schwimmunterricht teilnehmen, weil ein spezieller Stuhl dabei hilft, dass er ins Becken zu seinen Klassenkameraden kommt. Anschaffungen, die vielen Schulen bundesweit noch bevorstehen.
Ende des Kooperationsverbotes?
Inklusion kostet Geld: Die zuständige deutsche UNESCO-Kommission hat ausgerechnet, dass bundesweit zunächst 550 Millionen Euro pro Jahr investiert werden müssen, um den Rechtsanspruch zu gewährleisten, wie ihn die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht. Langfristig erwartet die UNESCO-Kommission aber Einsparungen: Weil durch den gemeinsamen Unterricht Sonderschulen ganz verschwinden würden. Damit entfiele aber das Wahlrecht, das den Eltern derzeit noch versprochen wird.
Der Bund soll sich an der Umsetzung der Inklusion finanziell beteiligen, fordert Ute Erdsiek-Rave. Die SPD-Politikerin und frühere Bildungsministerin in Schleswig-Holstein ist die Vorsitzende des Expertenkreises zur Inklusiven Bildung.
"Die generelle Forderung und die Erwartung ist, dass Bund, Länder und Gemeinden wirklich das als ihre gemeinsame Aufgabe betrachten und auch einen nationalen Finanzierungsplan entwickeln. Es muss nur gezielt und im Rahmen der Inklusion eingesetzt werden."
Erdsiek-Rave hofft auf ein Ende des Kooperationsverbotes, das dem Bund derzeit noch untersagt, dauerhaft auf Länderebene in Bildung zu investieren. Das Bundeskabinett hat vor der Sommerpause immerhin eine Lockerung des Kooperationsverbots beschlossen - bislang aber nur auf Hochschulebene. Bundestag und Bundesrat müssen der notwendigen Grundgesetzänderung noch zustimmen. Außerdem will der Bund vom nächsten Jahr an die BAföG-Zahlungen übernehmen - somit werden in den Ländern Mittel frei - die auch in die Inklusion investiert werden könnten - aber nicht müssen. Sozialdemokraten, Grüne und Linke fordern, das Kooperationsverbot ganz fallen zu lassen, also auch auf Schulebene. Dann dürfte der Bund direkt in den Ausbau der Inklusion investieren.
Eltern kämpfen für Förderschulen
Auch in Nordrhein-Westfalen tritt morgen ein novelliertes Schulgesetz in Kraft. Es erklärt das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung zur Normalform und setzt damit die UN-Konvention um. Zugleich droht vielen Förderschulen im Land die Schließung - denn das Düsseldorfer Bildungsministerium hat per Verordnung die Mindestschülerzahl für Förderschulen hochgesetzt: von bislang 72 auf 144 Schüler. Gerade Förderschulen sind oftmals kleine Einrichtungen - ihnen droht jetzt das Aus. Von einem garantierten Wahlrecht der Eltern kann also keine Rede sein, zumindest dann nicht, wenn sie ihre Kinder morgens nicht auf eine lange Reise schicken wollen.
Dabei sind es oft gerade die Eltern behinderter Kinder, die für den Erhalt von Förderschulen kämpfen und das Konzept der Inklusion kritisch sehen. Weil die Regelschule ihrer Ansicht nach eben nicht für alle Kinder optimal ist, wie das Beispiel des zwölfjährigen Florian aus Königswinter bei Bonn zeigt. Er lernt sehr langsam, hat Schwierigkeiten mit der Konzentration und der Selbstbeherrschung. Eigentlich wollten die Eltern ihren Sohn gar nicht auf eine Förderschule schicken - auch, weil diese Schulen einen denkbar schlechten Ruf haben, wie die Mutter Stephanie Fojkis erzählt:
"Wir als Familie haben dieses Vorurteil auch gehabt. Und dann ist man natürlich irgendwo in so einer misslichen Lage und sagt für sich: Mensch, wir wollen für unser Kind auch etwas anderes."
Also besuchte Florian zunächst drei Jahre lang eine integrative Grundschule. Dort war er frustriert, weil Lernerfolge ausblieben.
"Die haben im Tausenderbereich schon gearbeitet. Und ich nix. Also ich hing noch sehr weit hinten. Ich war da ungefähr bei zehn und 20. Also eigentlich hätte ich auch gern mitgemacht. Aber hing halt sehr weit hinten. Das war das Blöde."
Da war klar: Inklusion bringt ihn nicht weiter. Florians Rettung war schließlich eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen.
In der Drachenfelsschule in Königswinter werden 100 Schüler unterrichtet. Alle haben Probleme beim Schreiben, Sprechen und allgemein beim Lernen. Florian und elf Mitschüler sitzen an Einzeltischen im Kreis um ihre Lehrerin Cornelia Weiß:
"Es hat fast einen familiären Charakter. Und das bedeutet einfach auch einen Schutzrahmen. Und den benötigen viele Kinder und Jugendliche auch."
Im Klassenzimmer hängt eine Tafel mit Tipps für das Lösen von Aufgaben: tief durchatmen, etwas trinken, den Arbeitsplatz aufräumen. Und wer will, kann zur besseren Konzentration Gehörschutz-Kopfhörer aufsetzen.
"Jetzt fühl ich mich besser. Jetzt kann ich im Tausender, also Hunderter bin ich jetzt. Und da bin ich so einigermaßen gut. Also, bin auch sehr weit vorne mit den andern."
"Es geht hier um ein Menschenrecht"
Im Zuge der Inklusion droht Florians Förderschule jedoch die Schließung, wenn sie nicht mit einer anderen Förderschule zusammengeht und so die neue Mindestzahl von 144 Schülern erreicht. Der Widerstand betroffener Eltern und vieler Sonderpädagogen wächst. Sie haben den Eindruck, dass unter dem Deckmantel der Inklusion vor allem gespart werden soll - denn Förderschulen mit ihren speziell ausgebildeten Sonderpädagogen und dem Unterricht in Kleinstklassen sind ebenfalls teuer.
Dennoch: Der Trend geht hin zur Inklusion. Valentin Aichele vom Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin findet das gut. Der Bundestag hat ihn beauftragt, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu überwachen. Valentin Aichele kritisiert die meisten Bundesländer: Mal stehe die Inklusion unter einem Finanzierungsvorbehalt, mal seien die Schulgesetze noch immer die alten:
"Das führt dazu, dass die Rechtsposition von Kindern und Jugendlichen, die eben in die allgemeine Schule streben, mit gutem Recht, es schwieriger haben. Und wir heutige Probleme deswegen sehen, weil die Rechtslage in vielen Punkten unterentwickelt ist. Es geht ja hier um ein Menschenrecht, um ein individuelles Recht auf gemeinsames Lernen in der allgemeinen Schule."
Valentin Aichele pocht auf eine Änderung der Schulgesetze so wie jetzt in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz. Er moniert, dass im Saarland, in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Baden-Württemberg Kinder mit Förderbedarf zurzeit noch gegen ihren und gegen den Willen der Eltern vom Besuch einer Regelschule ausgeschlossen werden können. Er lobt dagegen Bremen und Schleswig-Holstein: Schon 60 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf besuchten dort eine Regelschule. Sonderschulen sollen in Schleswig-Holstein bereits im Jahr 2019 ganz abgeschafft sein, das Landesparlament wird nach der Sommerpause voraussichtlich einer Verfassungsänderung zustimmen und die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zum Ziel erklären. Schlusslicht bei der Inklusion ist derzeit Niedersachsen mit einer Quote von nur 15 Prozent, Nordrhein-Westfalen liegt mit einem Drittel Förderschülern in Regelschulen im Bundesschnitt.
Kersten Reich, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität in Köln sieht viele Fortschritte bei der Inklusion. Das Thema habe endlich eine große, auch politische Dynamik bekommen:
"Jetzt ist Inklusion eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe geworden, der sich niemand mehr entziehen kann. Es gibt einige Problemstellen im deutschen System. Das ist sicherlich unsere Tradition. Wir sind gewohnt, alle Gruppen in Rangvergleiche zu setzen. Immer auf Bestenauslese zu setzen. Das soll ja auch nicht verschwinden. Die Guten, die Begabten sollen weiter ihre Chancen haben. Aber es muss eben auch für die Benachteiligten eine Lösung gefunden werden, dass sie selber zu persönlicher Exzellenz gelangen können."
Angst vor Schaden am normalen Lernbetrieb
Persönliche Exzellenz auch für die Benachteiligten - das gelingt laut Inklusionsforschung vor allem dann, wenn es innerhalb einer heterogenen Lerngruppe sehr viel gegenseitige Unterstützung gibt. Jeden Schüler den eigenen Fähigkeiten entsprechend zu fördern, die guten zu Höchstleistungen zu motivieren und auch die Schwächeren einzubinden: Das ist die Idealvorstellung des inklusiven Bildungskonzeptes.
Knapp sieben Prozent aller Schulkinder in Deutschland haben die Diagnose "besonderer Förderbedarf". Sie in den regulären Unterricht einzubinden, wirbelt derzeit das ganze Schulsystem durcheinander. Weil unklar ist, was aus den Sonderpädagogen wird. Weil längst nicht alle Eltern ihre Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen von den Förderschulen nehmen wollen. Weil die Inklusion das dreigliedrige Schulsystem ins Wanken bringt. Denn wenn Förderschüler auf ein Gymnasium wechseln dürfen - mit welchem Recht können dann Haupt- und Realschüler abgelehnt werden?
Viele Eltern und Pädagogen befürchten zudem, dass der normale Lernbetrieb Schaden nimmt, dass starke Schüler die Lust am Unterricht verlieren, weil sie sich in Inklusions-Klassen langweilen und nicht ausreichend gefordert werden. Auch Josef Kraus, Schulleiter an einem Gymnasium im bayerischen Vilsbiburg und Präsident des Deutschen Lehrerverbands, gehört zu den Inklusions-Skeptikern:
"Es darf natürlich nicht sein, dass durch irgendeine Form von Vereinheitlichung, von Egalisierung des Unterrichtsgeschehens, des Fördergeschehens dann die schnelleren, die mit der rascheren Auffassungsgabe, die Leistungsfähigeren, gebremst werden."
Dieser Urangst, dass durch die Unterstützung der Schwächeren die Besten nicht genug gefordert werden, versuchen Inklusions-Projektschulen zu begegnen - mit individuellen Lernplänen. Zum Beispiel die inklusive Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn. Schulleiterin Sabine Kreuzer unterrichtet Latein, und zwar - wie das gesamte Kollegium - nach dem reformpädagogischen Dalton-Plan. Der wurde vor 100 Jahren in den USA von einer Lehrerin entwickelt, die zur gleichen Zeit Schüler im Alter von vier bis 14 Jahren unterrichten musste.
"Zettel raus, Vokabeltest für alle!" - das kann Sabine Kreutzer in ihrem Unterricht nicht rufen. Weil jeder Schüler mit seiner eigenen Lernkladde arbeitet und dadurch relativ frei entscheidet, wann er sich welchem Fach widmet. Was für Sabine Kreutzer auch das Schüler-Lehrer-Verhältnis revolutioniert:
"Sie verlieren ihre Machtposition in der Inklusion. Wenn Sie zulassen, dass Kinder eigene Wege gehen, bedeutet das automatisch, dass ich sie nicht mehr kontrollieren kann. Ich bin nicht in der Lage, 30 Kindern bei unterschiedlichen Aufgaben das alles zu korrigieren zum Beispiel. Das heißt: Ich muss vertrauen. Ich muss dem Kind eine Selbsteinschätzung glauben."
Mit Rampen für Rollstühlen ist es nicht getan
Im rheinland-pfälzischen Unkel geht das Sportfest an der Schwerpunktschule zu Ende. Der gehbehinderte Clemens ist erschöpft, aber zufrieden. Seine Integrationshelferin Jana Gallo begleitet ihn vom Sportplatz über den Schulhof zurück zum Taxistand.
Die Sonderpädagogin wird bald an einer Förderschule arbeiten - also ausgerechnet dort, wo es nicht um Inklusion geht. Inklusion findet sie zwar gut - aber für manche Kinder sei der geschützte Rahmen der Förderschulen einfach besser. Rampen für Rollstühle zu bauen und Bordsteine abzusenken - damit allein sei es nicht getan, sagt Jana Gallo, die mit ihren Rollstuhlkindern ohnehin keine Hindernisse scheut:
"Treppen kein Problem, krieg ich alles hin. Rolltreppen krieg ich auch mittlerweile hin mit Rollstuhl zusammen. Ähm, wo hakt es? Manchmal am Verständnis. Ob ich das Kind verstehe, was es mir sagen will, wenn es sich nicht sprachlich deutlich äußern kann. So ne Blasenentzündung - müssen sie sagen: Mir tut's weh, wenn ich Pipi mache. Wenn sie nicht sprechen können, wird es schwierig, das rauszufinden, ne."