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Inklusion statt Integration

Vor wenigen Wochen sorgte der Südafrikaner Oscar Pistorius für eine Sensation. Der Sprinter, dem seit seiner Geburt beide Wadenbeine fehlen, qualifizierte sich mit Prothesen aus Karbon für die Leichtathletik-Weltmeisterschaften. Im kommenden Jahr will Pistorius sowohl bei den Olympischen als auch bei den Paralympischen Spielen in London an den Start gehen. Er setzt damit einen Begriff auf die Tagesordnung, der in Deutschland bislang kaum diskutiert wurde: Inklusion.

Von Ronny Blaschke |
    Mitte September hat der Deutsche Behindertensportverband seinen sechzigsten Geburtstag begangen. In einem Festsaal im Zentrum Berlins haben Athleten, Trainer und Funktionäre die inzwischen mehr als 580000 Mitglieder in fast 6000 Vereinen gefeiert. Doch diese Zahlen täuschen über Probleme hinweg. Bundespräsident Christian Wulff lenkte die Aufmerksamkeit auf das wichtigste Verbandsthema der kommenden Jahre:

    "Ich glaube, dass wir jetzt den neuen Weg gehen müssen von Integration zu Inklusion. Und es wird nicht einfach sein, ein so eingebürgertes Wort wie Integration mit all den positiven Bezügen zu diesem Begriff zu verändern in das uns jetzt von den Vereinten Nationen aufgegebene Wort ,Inklusion'."

    Die Vereinten Nationen haben den Begriff Inklusion im Dezember 2006 international auf die Agenda gesetzt. Ihre Konvention fordert die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. In Deutschland trat dieses Übereinkommen im März 2009 in Kraft. Doch was bedeutet diese UN-Konvention für den Sport? Hubert Hüppe ist seit 2009 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen.

    "Inklusion im Sport würde für mich bedeuten, dass wo immer es geht, Behinderte und Nichtbehinderte zusammen Sport treiben. Dass auf Dauer irgendwann vielleicht auch die Olympischen und Paralympischen Spiele zusammengeführt werden, weil ich glaube, es wäre auch wichtig, dass nichtbehinderte Sportler mit behinderten Sportler zusammenkommen. Das heißt ja nicht, dass sie dieselben Sportarten machen müssen. Dass man auch da sich begegnet und zusammenkommt, so wie auch blinde mit körperbehinderten Sportler zusammenkommen, was sie vielleicht sonst auch nicht automatisch tun würden. Schon allein, dass man die Wettbewerbe mehr zusammenführt, das würde ich schon für eine wichtige Sache halten."

    In Deutschland hat sich der Begriff ,Integration' eingebürgert: Er sieht vor, dass sich ein Individuum an ein bestehendes System anpasst. Die Inklusion dagegen fordert weniger eine Anpassung, sondern eine Veränderung des Systems - so dass jedes Mitglied trotz Einschränkungen die gleiche Ausgangslage besitzt. Für den Behindertensport ist diese Vision utopisch: Viele Sportstätten sind längst nicht barrierefrei, ihnen fehlen Geräte und Material, um ein gleichberechtigtes Angebot zu gestalten. In der Ausbildung von Trainern und Lehrern ist Inklusion oft gar kein Thema. Und wie soll im Spitzensport ein gemeinsames, aber verständliches Wettkampfsystem geschaffen werden, wenn schon allein im Behindertensport die unterschiedlichen Einschränkungen schwer zu vereinbaren sind? Der Regierungsbeauftragte Hubert Hüppe.

    "Ja, natürlich ist es schwierig, das umzusetzen. Es wird sicherlich nicht von heute auf morgen der Deutsche Behindertensportverband aufgelöst, darum geht es ja auch nicht. Sondern es geht ja darum: Wie schafft man barrierefreien Sport, also wie kommen die Leute zusammen? Und da kann man über die Sportförderung sicherlich, wenn es Steuermittel sind, auch sagen: Können wir das eine oder andere dann nicht bevorzugen, wenn es inklusiv ist? Und dafür würde ich mich schon aussprechen."

    Der CDU-Politiker Hüppe stellt finanzielle Unterstützung in Aussicht, denn noch sind Partnerschaften von Sportverbänden für behinderte und nichtbehinderte Athleten Ausnahme. Eine davon hat der Deutsche Schützenbund geschaffen: Die Rollstuhlfahrerin und Paralympics-Siegerin Manuela Schmermund darf sich in der Bundesliga mit Schützen ohne Behinderung messen. Ein anderes Beispiel? Der Rollstuhlbasketballclub Köln lässt auch nichtbehinderte Menschen mitspielen, um Vorurteile abzubauen und Verständnis für einander zu schaffen. Hubert Hüppe:
    "Ich glaube, eines der größten Probleme das ist, dass Menschen ohne Behinderungen nicht gelernt haben, mit Menschen mit Behinderungen umzugehen. Das liegt daran, dass man sich nie begegnet. Dass man gesonderte Sportarten hat, gesonderte Schulen hat, gesonderte Arbeitsbereiche, gesonderte Wohnbereiche hat, und man sich deshalb auseinanderdividiert."

    In England diskutieren Sportverbände das Thema Inklusion seit zwanzig Jahren. In Kanada kümmern sich Fachverbände auch um die jeweiligen Sportler mit Behinderungen, andernfalls drohen ihn Sanktionen. Für die Olympischen Winterspiele und Paralympics 2010 in Vancouver wurde für die Athleten des Gastgebers ein gemeinsames Vorbereitungs- und Prämiensystem entworfen. Die deutschen Sportler sind von einer solchen Struktur weit entfernt. Behutsam will der Regierungsbeauftragte Hüppe auf die Verbände einwirken. Sollte der südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius 2012 tatsächlich bei Olympia und Paralympia laufen, hätte der Begriff ,Inklusion' sein prominentes Gesicht. Und das würde auch die Arbeit von Hubert Hüppe erleichtern.