Menschen mit Behinderung
Noch viel Luft nach oben bei der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt

Menschen mit Behinderung haben in Deutschland nach wie vor schlechtere Chancen, Jobs zu finden – obwohl das Grundgesetz Diskriminierung wegen Behinderung verbietet. Warum stellen Unternehmen sie so selten ein und wie kann das geändert werden?

    Ingenieur mit Beinprothese arbeitet mit Schutzausrüstung auf einer Baustelle
    Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist derzeit etwa doppelt so hoch wie die allgemeine Quote – obwohl Arbeitgeber gute Erfahrungen machen. (imago / imagebroker / Unai Huizi)
    „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, so steht es seit dem 15. November 1994, also seit mehr als 30 Jahren, im Grundgesetz in Deutschland. Das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Tatsächlich aber hat sich die Arbeitsmarktsituation für Menschen mit Behinderung 2023 wieder verschlechtert, wie eine Untersuchung des Handelsblatt Research Institutes und des Vereins Aktion Mensch zeigt.
    "Die Inklusion am Arbeitsmarkt hat noch nicht die Fortschritte gemacht, die wir uns erhofft haben", sagt Sascha Decker aus der Geschäftsleitung von Aktion Mensch.

    Inhalt

    Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen in Deutschland?

    Im Jahr 2023 waren 11 Prozent der erwerbsfähigen Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland arbeitslos. Die Quote ist etwa doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote: Die lag im selben Jahr bei 5,7 Prozent. Im Vergleich mit dem Jahr 2019 haben sich diese Zahlen nur geringfügig verändert.
    Grafik zeigt Arbeitslosenqoute im Jahr 2023 bei Menschen mit Schwerbehinderung (11%) und die allgemeine Quote (5,7%).
    Unter Menschen mit Behinderung ist die Arbeitslosenquote etwa doppelt so hoch. (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Menschen mit Behinderungen haben zudem er erhöhtes Risiko, langzeitarbeitslos zu sein – das heißt mindestens ein Jahr oder länger auf Arbeitssuche zu sein.

    Wie viele Menschen sind betroffen?

    In Deutschland gibt es 3,1 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind – also in einem Alter, in dem sie arbeiten könnten. Von diesen sind etwa 1,3 Millionen auf dem regulären Arbeitsmarkt tätig.
    Weitere knapp 300.000 Menschen arbeiten in sogenannten Behindertenwerkstätten. Sie sollen Menschen mit Behinderung an den Arbeitsmarkt heranführen. Allerdings mache nur ein kleiner Anteil von Menschen, die in diesen Werkstätten arbeiten  – nämlich nur etwa ein Prozent - auch tatsächlich den Schritt in den Arbeitsmarkt, gibt Sascha Decker von Aktion Mensch zu bedenken.
    Kritiker bemängeln zudem die Bezahlung in den Werkstätten als zu niedrig. Dort bekommen Angestellte keinen Mindestlohn, sondern ein Werkstatt-Entgelt – im Jahr 2022 nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit durchschnittlich rund 222 Euro. Das Entgelt setzt sich aus einem Grundbetrag, einem Steigerungsbetrag und einem Arbeitsförderungsgeld zusammen.

    Warum stellen nur so wenige Unternehmen Menschen mit Behinderung ein?

    Ab 20 Mitarbeitenden sind Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen – und zwar auf mindestens fünf Prozent der Stellen. Erfüllt ein Arbeitgeber die Pflichtquote von fünf Prozent nicht, muss er für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe zahlen: Pro unbesetzten Pflichtarbeitsplatz und pro Monat sind das zwischen 140 und 720 Euro, abhängig von der Größe des Unternehmens. Allerdings können Unternehmen diese Abgabe als Betriebsausgabe in voller Höhe absetzen.
    Etwa 45.000 Unternehmen in Deutschland, die unter die Pflicht fallen, stellen jedoch gar keine Menschen mit Behinderung ein. Christina Ramb, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), sagt dazu: Häufig passten die Anforderungen der Arbeitsplätze nicht zur Qualifikation oder zum Wohnort der Menschen mit Behinderung. Der Verband lehnt die Ausgleichsabgabe für Unternehmen daher ab.
    Grafik: Nur 38,5 Prozent der Unternehmen, die dazu verpflichtet sind, stellen fünf Prozent Mitarbeitende mit Behinderungen ein – wie es der Gesetzgeber vorschreibt.
    Für Menschen mit Behinderung ist es schwerer in Arbeit zu kommen. (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Ein weiterer Grund könnte das Alter sein. Unter Schwerbehinderten sind viele ältere Menschen: Etwas weniger als die Hälfte (45 Prozent) der Schwerbehinderten sind zwischen 55 bis 74 Jahren. Mit zunehmendem Alter erkranken Menschen in der Regel auch häufiger. Unternehmen stellen ältere Menschen eher ungern ein, kommt eine Behinderung dazu, werden die Schwellen höher.

    Was müsste sich ändern, um mehr Menschen mit Behinderung Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen?

    In vielen Fällen fehlt immer noch eine barrierefreie Infrastruktur – das beginnt schon beim Arbeitsweg, Beispiel: barrierefreie Haltestellen im ÖPNV, bei der Bahn oder barrierefreie Parkplätze. Diese Situation setzt sich in Büro- und Geschäftsgebäuden fort: In vielen Bereichen würden Menschen mit Behinderung und ihre Berufe kaum oder gar nicht mitgedacht, kritisierte das Deutsche Institut für Menschenrechte vor rund einem Jahr.
    Darüber hinaus fehle der Austausch über positive Erfahrungen, die zeigen, dass und wie Inklusion am Arbeitsplatz möglich ist, sagt Decker von Aktion Mensch: „Wir wissen, dass Unternehmen, die Menschen mit Schwerbehinderung eingestellt haben, in großer Mehrzahl zufrieden sind mit ihren neuen Kolleginnen und Kollegen in Sachen Loyalität, Verbindlichkeit, Leistungsfähigkeit.“
    Auch müsste in den Schulen und Behindertenwerkstätten die Berufsberatung für Menschen mit Behinderung verbessert werden, fordert Ramb vom BDA. Viele Unternehmen wüssten zudem zu wenig über die staatlichen Förderungen für Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung.

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    Hoffnungen richten sich auf das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das 2025 in Kraft treten soll. Darin ist geregelt, dass beispielsweise die Nutzung von Computern, Smartphones und Messangerdiensten barrierefreier werden soll. Das werde Menschen mit Behinderung im Alltag und in der Arbeitswelt sehr helfen, ist sich Decker sicher.
    Die Ampelkoalition hatte zudem in ihrem Koalitionsvertrag eine Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes aufgenommen. Die soll mehr Barrierefreiheit in allen Bereichen schaffen – und damit auch bei privaten Produkten und Dienstleistungen. Dadurch könnte auch der Zugang von Menschen mit Behinderung zu Arbeitsplätzen leichter werden. Denn bislang sind allein Behörden und staatliche Einrichtungen verpflichtet, Barrierefreiheit sicherzustellen.
    Doch der Reformentwurf befindet sich noch in der Abstimmung, was nach dem Bruch der Koalition daraus wird, ist offen.

    cs