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Inklusion
"Zeit und Räume für Musik sind nicht mehr vorhanden"

In Potsdam tagen Deutschlands Musikschullehrer. Ein Thema: Inklusion. Musikunterricht für Menschen mit Behinderung sei auf intuitives Imitieren ausgerichtet, sagte Ulrich Rademacher im DLF. Der Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Musikschulen kritisiert, dass an Schulen MINT-Fächer zulasten der Musik dominieren.

Ulrich Rademacher im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Ulrich Rademacher, Vorsitzender des Verbandes deutscher Musikschulen.
    Ulrich Rademacher, Vorsitzender des Verbandes deutscher Musikschulen. (dpa / VdM)
    Christoph Heinemann: Das Wort Hauptarbeitsversammlung klingt nach aufgekrempelten Ärmeln und durchgeschwitzten Blusen und Hemden. Der Schweiß könnte ab heute in Potsdam fließen bei der Jahrestagung des Verbandes Deutscher Musikschulen. Früher sprach man von "Jugendmusikschulen", das sind sie aber schon lange nicht mehr. Ein Thema in Potsdam ist die Inklusion, worunter die Verantwortlichen dreierlei verstehen: Die Einbeziehung von Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit Behinderung, musikalische Angebote für sehr alte oder, wie man heute sagt, hoch alte Menschen, und drittens auch die Öffnung für fremde Kulturen. In der westeuropäischen Musiktradition bedeutet Musizieren in der Regel Kleckse, die innerhalb oder außerhalb der berühmten fünf Notenlinien notiert sind, zum Klingen zu bringen. Das erfordert eine gewisse intellektuelle Leistung, außerdem bei vielen Instrumenten – denken wir "nur ans Klavier – hohe Fingerfertigkeiten. Wie sollen Menschen mit Behinderungen musikalisch unterrichtet werden? Das habe ich vor der Sendung Professor Ulrich Rademacher gefragt, den Bundesvorsitzenden des Verbandes Deutscher Musikschulen.
    Ulrich Rademacher: Ich glaube, Menschen mit Behinderungen sind mindestens so ausdruckswütig, ausdrucksbegierig wie gesunde Kinder und imitieren spontan und haben große Lust, sich auszudrücken. Und vor allen Dingen haben sie das gleiche Recht wie gesunde Kinder und gesunde Menschen, sich auszudrücken, und dazu, auch das notwendige Werkzeug zu erlernen.
    Heinemann: Wie stellen Sie sich konkret den Unterricht vor?
    Rademacher: Den Unterricht natürlich je nachdem wie es der einzelne Mensch erfordert, wirklich Face-To-Face mit einem Lehrer oder einer Lehrerin, oder aber auch in einer Gruppe, wo vieles vielleicht nicht so intensiv und personenzentriert läuft, aber möglicherweise dafür lockerer und entkrampfter und auf intuitives Imitieren ausgerichtet.
    Heinemann: Sind denn die Lehrerinnen und Lehrer dafür ausgebildet?
    Rademacher: Noch nicht genug. Es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer, die seit langem Fortbildungskurse buchen, Unterricht für Menschen mit Behinderung. Viele machen es mit viel Intuition und sehr, sehr viele müssen es noch lernen.
    Heinemann: Gibt es denn entsprechendes Unterrichtsmaterial?
    Rademacher: Mir ist kein gedrucktes Unterrichtsbuch bekannt. Es gibt nur die durch Fortbildung geschulten Lehrerkräfte, die das Unterrichtsmaterial, was für Gesunde da ist, so modifizieren können, dass es für die Vielfalt der möglichen Behinderungen passt.
    Heinemann: Klingt jetzt ein bisschen so, als würde der Verband Inklusion anordnen und das Problem einfach den Lehrern dann überlassen.
    Rademacher: Nein, Inklusion ist vom Wesen her eine Einladung. Wir haben ja keine Schulpflicht wie an den allgemeinbildenden Schulen, wo auch ein Kultusministerium sagen kann, wir haben jetzt Inklusion, also macht mal, und die bisherigen Förderangebote machen wir platt und sparen letztlich mit Inklusion Geld. Das wollen wir auf jeden Fall nicht.
    Heinemann: Nur nach dem, was Sie bisher gesagt haben, die Ausbildung ist noch nicht entsprechend, es gibt noch nicht genügend Unterrichtsmaterial, heißt doch, dass bis jetzt die Lehrerinnen und Lehrer in den Musikschulen auf sich gestellt sind.
    Rademacher: Natürlich sind sie auf sich gestellt, wie jeder Lehrer auf sich gestellt ist. Aber wir haben ein massives Fortbildungsprogramm. Wir laden unsere Musikschulen dazu ein und unsere Lehrkräfte dazu ein.
    Erinnerungen in die Musik einfließen lassen
    Heinemann: In diesem Zusammenhang ein weiterer Schwerpunkt die Einbeziehung hoch alter Menschen, wie man heute sagt. Ist Musikunterricht auch in diesem Fall nicht eher Musiktherapie und bedarf es da nicht eher Therapeuten?
    Rademacher: Wir Musikpädagogen sind keine Musiktherapeuten und wollen auch nicht als solche eingesetzt werden. Wenn wir mit älteren Menschen arbeiten und wirklich auch dabei an die Menschen denken, die bis zum letzten Atemzug erreichbar sind mit Musik, wenn möglicherweise alle anderen Mittel der Kommunikation nicht mehr zur Verfügung stehen, dann wollen wir eigentlich nicht mehr, dass die Menschen etwas lernen, oder wir können auch nicht uns einbilden, wir können sie durch Musik gesund machen. Aber wir können ihnen ein lebenswertes, sinnerfülltes Leben mit ihren Emotionen, mit ihrer Erinnerung, ja mit der Möglichkeit, über Musik das Leben noch so weit wie irgend möglich zu erleben oder zu genießen, ermöglichen.
    Heinemann: Wie können denn Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel mit dem Phänomen beginnende Demenz umgehen? Das kann ja passieren.
    Rademacher: Das kann passieren und Lehrer müssen das genauso lernen, wie Lehrer den Umgang mit behinderten Kindern lernen müssen. Es gibt kaum ein Fortbildungsfeld in der Musikpädagogik, was so dynamisch nach vorne geht wie das Gebiet der Musikgeragogik. Das neue Wort ist ja auch noch gar nicht so lange auf dem Markt.
    Heinemann: Wie heißt das, Musikgeragogik?
    Rademacher: Musikgeragogik. – allerdings bei Geragogik denkt man viel an Pädagogik und dann denkt man an Lernfortschritt und dann denkt man an Können, ablieferbares Können. Das dürfen wir nicht mitdenken bei der Arbeit mit den älteren Menschen.
    Heinemann: Professor Rademacher, Sie haben im Vorgespräch von Behinderungen durch schulische Rahmenbedingungen gesprochen. Was meinen Sie genau damit?
    Rademacher: Ich meine damit, bei aller Begeisterung darüber, dass wir durch den Ganztag alle Schülerinnen und Schüler oder alle jungen Menschen erreichen, sehen wir mit großer Sorge, dass die Zeit und die Räume für individuelle Bildung, für Musik nicht mehr vorhanden ist. Wir glauben auch, dass alles, was mit den sogenannten MINT-Fächern zusammenhängt - Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Technik er cetera - seit dieser Pisa-Studie in der Art und Weise dominant geworden ist, dass wir verlernt haben, den ganzen Menschen zu sehen.
    Heinemann: Spielen Sie jetzt nicht hier den einen Bereich oder das eine Fach gegen andere Fächer aus?
    Rademacher: Nein, ich sorge mich eigentlich um unser Gleichgewicht. Das ist wirklich keine Kampfansage gegen Naturwissenschaft und alles, was der Kopf begreift. Aber ich sorge mich um unser Gleichgewicht, weil unsere Gesellschaft lebt von ganzen Menschen, die fühlen, was sie denken, oder die reflektieren, was sie fühlen, oder die auch verantworten lernen müssen, was sie können. Und wir wissen alle, dass eine Mathestunde zum Beispiel nach einer guten Musikunterrichtsstunde wirklich besser gelingt und dass die Musikstunde vorher wirklich wie ein Katalysator wirken kann.
    Heinemann: Vorausgesetzt die Musikstunde findet überhaupt statt. Oft fällt Musik in den Schulen aus, weil auch die Pädagogen fehlen. Sollten die Musikschulen gerade in der Ganztagsschule nicht stärker in den Schulunterricht einbezogen werden?
    Rademacher: Ich meine, es müssen zwei Dinge parallel passieren. Erstens muss der Musikunterricht, den die Schulmusiker an den allgemeinbildenden Schulen geben, selbstverständlich sein und der darf nicht den anderen Fächern zum Opfer fallen. Dazu muss das praktische Musizieren und auch das Ensemble-Musizieren durch die Kollegen von der Musikschule lebendig gehalten werden, was normalerweise im außerschulischen Bereich früher mal im Nachmittagsbereich stattgefunden hat. Das sind ja zwei verschiedene Dinge, die beide notwendig sind.
    Heinemann: Nur gibt es den außerschulischen Nachmittag ja immer weniger.
    Rademacher: Eben! Deswegen sagen wir immer, dass wir nicht nur Zeiten, sondern auch Räume brauchen an den allgemeinbildenden Schulen, wo Instrumentalunterricht, auch individuelle Ausbildung, individuelle Förderung stattfinden kann, wo Kinder üben können. Denn das alles in die Abendstunden und ans Wochenende zu verbannen, würde zu einem Aus für kulturelle Bildung führen.
    Heinemann: Musik ist heute ständig verfügbar, Stichwort auch Neue Medien. Ist es heute schwieriger zu vermitteln, dass Fleiß, dass harte Arbeit zum Musizieren auch dazugehört?
    Rademacher: Ja. Aber sobald Kinder einmal erlebt haben, dass doch das Selbstgemachte, das Live-Erlebnis tiefer unter die Haut geht, mehr Spuren hinterlässt, kann man gerade am Beispiel Musik sehr gut erfahren, dass es sich lohnt, sich anzustrengen. Weil Können macht Spaß, und das merkt man, wenn man das tut, was eigentlich im Zentrum der Musikschularbeit steht, nämlich im Ensemble spielt.
    Heinemann: Die Musikschulen möchten sich fremden Kulturen stärker öffnen. Konkret heißt das?
    Rademacher: ..., dass es an Musikschulen selbstverständlich sein sollte, dass die Instrumente, die die in der Stadt vertretenen Migrantengruppen vertreten, dass die da auch unterrichtet werden und dass die auch sichtbar und hörbar gemacht werden, wie zum Beispiel das türkische Instrument Baglama, was mittlerweile ja sogar es geschafft hat, in den Kanon der "Jugend musiziert"-Instrumente aufgenommen zu werden. Das muss selbstverständlich sein, dass man dieses Instrument zum Beispiel an der Musikschule lernen kann, genau wie koreanisches oder afrikanisches Trommeln oder Tabla-Spiel, oder was nun gerade mal vor Ort vertreten ist.
    Heinemann: Und das ist ein Aspekt der Inklusion, um die es auch bei Nachrichten Leicht geht. Auf dieser Internet-Seite bietet unsere Nachrichtenredaktion die wichtigsten Themen der Woche in einfacher Sprache, etwa auch für Kinder und Jugendliche an. Dort finden Sie einen Beitrag zu dem Interview, das Sie gerade gehört haben, mit Professor Ulrich Rademacher, dem Bundesvorsitzenden des Verbandes Deutscher Musikschulen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.