Anna Wehsarg: "Wenn Ihr jetzt das nächste Mal vorwärts geht, macht Ihr euch so klein Ihr könnt. Wenn Ihr vorne ankommt, werdet Ihr groß, so groß Ihr könnt. Wie auch immer Ihr das interpretiert. Hinten klein, nach vorne groß, ja."
Probebühne 3 des Wuppertaler Opernhauses. Turnhallengeruch. Wände und Boden sind schwarz. Die Fenster zeigen den typisch grauen Wuppertaler Himmel. Tanzlehrerin Anna Wehsarg - in bunter, bequemer Kleidung - macht vor den Augen der Jury mit den sieben Menschen mit Handicap Aufwärmübungen. So beginnt das Vorsprechen für das neu entstehende Inklusive Schauspielstudio in Wuppertal. Vier Plätze sind zu vergeben.
Yulia Yañez Schmidt: "Ich war unglaublich nervös. Ich bin auch immer noch auf so einem Adrenalin-High gerade."
Yulia Yañez Schmidt: "Ich war unglaublich nervös. Ich bin auch immer noch auf so einem Adrenalin-High gerade."
Ein künstlerisches, kein soziales Konzept
Yulia Yañez Schmidt hat gerade die erste Runde absolviert, ihre zwei Monologe vorgesprochen und sitzt jetzt mit den anderen im Warteraum. Sie kennt die Situation. Es ist ihr fünftes Vorsprechen. Sie hat es auch schon bei staatlichen Schulen versucht:
"Das Feedback, was man mir gegeben hat, war tatsächlich eher, dass man mir gesagt hat: Ich kann die Ausbildung nicht machen, ich bin dazu körperlich nicht in der Lage, das ginge nicht. Ich wäre unbesetzbar oder unvermittelbar für die Schule. Niemand würde mich besetzen, weil es ja immer ein Politikum ist, mich auf die Bühne zu stellen."
"Das Feedback, was man mir gegeben hat, war tatsächlich eher, dass man mir gesagt hat: Ich kann die Ausbildung nicht machen, ich bin dazu körperlich nicht in der Lage, das ginge nicht. Ich wäre unbesetzbar oder unvermittelbar für die Schule. Niemand würde mich besetzen, weil es ja immer ein Politikum ist, mich auf die Bühne zu stellen."
Ein Politikum, weil Yulia Yañez Schmidt körperbehindert ist. Für den Wuppertaler Intendanten Thomas Braus ist diese Form des Theaters überholt. Ein Theater, das normierte Körper mit genauen Repräsentationsvorstellungen benötigt, um künstlerisch zu arbeiten. Schauspieler mit Handicap sollen in Ensembles gleichberechtigt mit Schauspielern ohne Handicap spielen. Wobei es ihm darauf ankommt, dass die Rolle passt, nicht inwiefern da eine Behinderung mit im Spiel ist.
Thomas Braus: "Es ist auch ein künstlerisches Konzept. Es ist kein soziales Konzept. Das ist für mich ein künstlerischer Gedanke, warum ich das machen will. Vielleicht gibt es Bewerberinnen, wo man sagt, die werden mal die und die Rolle spielen, und da hat man vorher gar nicht mit gerechnet."
Den Menschen sehen
Also erst einmal grüne Wiese. Ob aus dem Projekt etwa ein Hamlet mit Handicap hervorgeht, wird sich wohl erst noch zeigen. Ein Team aus sieben Dozentinnen und Dozenten - teils mit, teils ohne Erfahrung in der Arbeit mit behinderten Menschen - schult ab Oktober in fünf Semestern im Studiosystem vier Eleven zur Bühnenreife. Sprechunterricht, Stimmbildung, Tanz und was alles so dazu gehört. Schon während ihrer Ausbildung werden die angehenden Schauspieler in Produktionen des Schauspiels Wuppertal eingebunden. Muss man Menschen mit Handicap anders casten als Menschen ohne?
"Das ist genauso schwer wie bei anderen. Und natürlich wissen wir bei keinem, ob es die richtige Entscheidung war, aber das weißt Du generell nicht. Aber letztendlich war für uns ja auch ein Kriterium, den Menschen zu sehen. Und da waren wir uns alle einig. Da haben wir gesagt, da haben wir den Menschen gesehen, da hat sich der Mensch gezeigt, wie er ist. Und das ist ein großes, großes Plus, was Schauspiel angeht."
Bis auf wenige Ausnahmen besetzen im derzeitigen Theaterbetrieb deutschlandweit außerhalb der freien Szene sehr wenige Regisseure Menschen mit Handicap als reguläre Schauspieler. Dadurch entsprechen solche Besetzungen nicht den Sehgewohnheiten des Publikums. Durchnormierte Ensembles sind die Regel. Die Organisatoren des inklusiven Schauspielstudios wollen als gutes Beispiel vorangehen.
"Das Ziel muss sein, dass es vollkommen normal ist, dass Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen, dass Menschen mit Behinderung eine Schauspielausbildung machen, dass das gar kein Diskussionspunkt mehr ist. Wir leben in einer sehr, sehr diversen Gesellschaft und ich finde, dass muss auf der Bühne auch da sein."
Kein offizieller Abschluss
Anders als staatliche und private Schauspielschulen können Thomas Braus und sein Team keinen offiziellen Abschluss anbieten. Dafür integrieren sie Menschen mit Handicap ins Ensemble, geben ihnen viel Praxiserfahrung an einer städtischen Bühne. Ein wichtiges und überfälliges Signal für die Szene. Auf deutschen Bühnen setzt sich zwar langsam durch, dass Schauspieler nicht unbedingt akzentfrei sprechen müssen und auch eine andere Hautfarbe haben dürfen. Menschen mit Handicap werden nach wie vor als Exoten behandelt.
Es würde dem verkrusteten und auf Effizienz getrimmten Theaterbetrieb an der ein oder anderen Stelle sicher sehr gut tun, die bekannten Abläufe aufzubrechen, um auch Menschen mit körperlichen und geistigen Handicaps einen Platz zu geben, und so nicht nur vor, sondern auch hinter der Bühne barrierefrei zu sein. Damit es nicht mehr so ist, wie Yulia Yañez Schmidt es erfährt:
"Es muss dann natürlich etwas bedeuten, dass die Frau kein Bein hat. Nicht, dass sie einfach nur kein Bein hat. Ich finde, das ist schon Diskriminierung, aber das Theater ist, glaube ich, an vielen Orten nicht frei davon."