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Inoue kompakt

Anlässlich des 100. Geburtstags Yasushi Inoues ist dessen Kurzroman "Der Tod des Teemeisters" auf Deutsch erschienen. Er ist ein Vermächtnis des Autors, in dem er die verschiedenen thematischen Fäden seines langen schriftstellerischen Schaffens gebündelt hat: Einsamkeit, Erinnern und Vergessen.

Von Astrid Nettling |
    Bereits Buchtitel schlagen einen bestimmten Ton an. "Der Tod des Teemeisters" ertönt wie Gong, laut und dramatisch wie für einen Historienfilm aus der Zeit der Samurai, der rasierklingenscharfen Schwerter und des blutigen Seppuku, des rituellen Selbstmords, den auch der legendäre Teemeister Sen no Rikyû im Jahre 1591 auf Befehl des mächtigen Shôguns Hideyoshi hatte vollziehen müssen. Aber Inoue schreibt keine Drehbücher. Leise und zurückhaltend klingt denn auch der Titel im Original: "Honkakubô ibun", "Honkakubôs Vermächtnis". Kein historisches Spektakel , sein Vermächtnis eröffnet vielmehr den Tiefenraum einer sich hartnäckig entziehenden Geschichte, deren Unergründlichkeit allen Vergewisserungsversuchen widersteht.

    Honkakubô, ein Mönch und langjähriger Gehilfe jenes Sen no Rikyû, schreibt Jahre nach dessen Tod tagebuchartig seine Gedanken, Mutmaßungen sowie Erinnertes und Gehörtes über seinen Meister, über dessen Lehre, den Teeweg, und die dunklen Umstände seines Selbstmords nieder. Man kann darüber spekulieren, wieso der Verlag bei seiner Titelwahl auf Lautstärke gesetzt hat, sensibel und dem Autor gemäß ist es jedenfalls nicht. Schließlich ist Inoue ein Meister der leisen Töne, und es macht ein wesentliches Kennzeichen seiner schriftstellerischen Kunst aus, durch eine verhalten distanzierte Tonart seinen Romanen und Erzählungen eine um so stärkere Spannung oder, wenn man so will, Dramatik zu geben. Eine Meisterschaft, die auch in diesem späten Roman aus dem Jahre 1981 eindrucksvoll zum Tragen kommt, der jetzt anlässlich des 100. Geburtstags einer der großen Schriftstellerpersönlichkeiten Japans auf Deutsch erschienen ist. Ein Spätwerk ist er in vielfacher Hinsicht dieser Kurzroman des 73-Jährigen, ein Vermächtnis des Autors Inoue nachgerade, da er in ihm die verschiedenen thematischen Fäden seines langen schriftstellerischen Schaffens gebündelt hat: die Thematik menschlicher Einsamkeit, das Lebensgefühl nicht zuletzt des modernen Menschen, das unter der brüchigen Oberfläche gesellschaftlicher Konventionen lauert, was seit seiner frühen Erzählung "Das Jagdgewehr", die Inoue 1950 in Japan und einige Jahre später auch bei uns berühmt gemacht hat, seine Werke wie eine Grundbefindlichkeit durchzieht. Sodann die Problematik von Erinnern und Vergessen, die Frage der geistigen Verankerung des Menschen in einer die Traditionen und Kulturen unerbittlich erodierenden Geschichte, wie er es in seinen großen historischen Romanen "Die Höhlen von Dun-Huang", "Das Tempeldach" oder auch "Der Sturm" geschildert hat. Und schließlich die Positionierung des Schriftstellers selbst als eines "unbeteiligten Augenzeugen", wie sich Inoue in einem frühen Prosagedicht bezeichnet hat, der selber "untätig bleibt", dafür aber um so genauer die menschlichen Abgründe wie die geschichtlichen Verwerfungen registriert - unbeteiligt, jedoch keineswegs gleichgültig. All dies ist in "Der Tod des Teemeisters" beziehungsweise in Honkakubôs Vermächtnis kunstvoll miteinander verflochten. Ein distanzierter Beobachter auch er, der sich aus dem gesellschaftlichen Leben und der öffentlichen Gerüchteküche um seinen Meister und den Shôgun Hideyoshi sowie vom Teeweg und den Teezeremonien in eine Einsiedelei am Rande von Kyôto zurückgezogen hat. Dann begegnet er zufällig einem alten Teemeister -

    "Nach all diesen Jahren sah ich mich heute also unverhofft Herrn Tôyôbô gegenüber, und unsere Begegnung erfüllte mich mit unbeschreiblicher Sehnsucht. Zwar habe ich der Welt des Tees entsagt, die so sehr von Meister Rikyû geprägt ist, doch von ihm selbst habe ich mich nicht entfernt. Mehrmals am Tage höre ich seine Stimme und spreche mit ihm. Ich sehe ihn vor mir, wie er großzügig und ungezwungen den Tee bereitet."

    Mit dieser Begegnung beginnen die Aufzeichnungen, beginnen die Fragen nach dem Warum und die vergeblichen Versuche, Licht dorthin zu bringen, wo es nichts zu erhellen gibt. Denn Sen no Rikyû ist tot. Der allein ihm bekannte Grund oder Abgrund seines Selbstmords bleibt für immer dunkel und verborgen, bloß schlaglichtartig können politische Hintergründe und etwaige persönliche Motive aus wechselnden Perspektiven beleuchtet werden. Wie in der Erzählung "Das Jagdgewehr", worin Inoue aus unterschiedlichen Blickwinkeln nach und nach einen Blick in den Abgrund menschlicher Einsamkeit und Leere freigibt, sind es hier die verschiedenen, über einen Zeitraum von 25 Jahren gesammelten Eintragungen Honkakubôs, die, statt auf den Grund einer Wahrheit zu führen, nur die tiefe Unergründlichkeit des Geschehens offenbaren und die Verlorenheit des Aufzeichnenden, der in dieses abgründige Dunkel blickt.

    "Er antwortet mir schon seit zehn Jahren nicht mehr, auch wenn ich immer wieder das Wort an ihn richte. In meiner Anfangszeit hier im Shûgaku-in habe ich jeden Tag - ach, was rede ich - von morgens bis abends seine Stimme gehört und mit ihm gesprochen. Heute erscheint mir das wie ein Traum. Das ist wohl der unaufhaltsame Lauf der Dinge."

    Doch die Aufzeichnungen des Mönchs schreiben zugleich gegen diesen Lauf der Dinge an. Denn der Roman ist auch ein Buch gegen das Vergessen. Als ein Großmeister der Gedächtniskultur hat Yasushi Inoue immer wieder den Kampf seiner Protagonisten geschildert, Erinnerung, Überlieferung und kulturelles Erbe vor der Erosion der Zeit zu bewahren. So in seinem Roman "Die Höhlen von Dun-Huang", in dem ein junger chinesischer Gelehrter während der erbitterten Kämpfe asiatischer Völkerschaften in den zentralasiatischen Wüsten die riesige Sammlung wertvoller buddhistischer Sutrenrollen rettet, indem er sie in den Tausend-Buddha-Höhlen bei Dun-Huang versteckt. Aber nichts ist wirklich davor gefeit, nicht doch dem Vergessen anheimzufallen und von den ungeheuren Zeiträumen der Geschichte verschluckt zu werden. Diese Einsicht liegt als verhalten stiller Grundton unter allen Werken Inoues. Dennoch ist Gedächtniskultur unverzichtbar, aus diesem Grund auch lautet der Originaltitel seines Spätromans "Honkakubôs Vermächtnis" und nicht "Der Tod des Teemeisters".

    Zwar "löscht der Tod alles aus", wie es an einer Stelle heißt, aber verschwunden sind die Dinge erst dann, wenn keinerlei Erinnerung an sie mehr existiert. So gibt der Mönch am Ende seine Aufzeichnungen an den Enkel Sen no Rikyûs weiter, der als noch junger Teemeister die Kunst seines Großvaters neu beleben will. Den "Teeweg der schlichten Strenge", wie ihn Rikyû begründet und vervollkommnet hat und in dessen klaren und reinen Geist ebenso der heutige Leser nicht nur dank der stilistischen Meisterschaft Inoues eingeführt wird, ist doch die Nähe des Autors zur Tradition in diesem Spätwerk besonders spürbar. Trotzdem war Yasushi Inoue alles andere als der Traditionalist, der Althergebrachtes bloß zu konservieren suchte. Unwiderruflich geprägt durch die Moderne, die mit der kulturellen Öffnung Japans Ende des 19. Jahrhunderts auch dieses Land erreichte, hatte sich der 1907 geborene Schriftsteller, der sein Literaturstudium mit einer Arbeit über den französischen Dichter Paul Valéry beendete, keineswegs dem offenen Horizont von Geschichte verschlossen. Seine Erzählungen und Romane, egal ob sie historische Stoffe aufgreifen oder in der Gegenwart spielen, leben vielmehr aus der Spannung zwischen beidem, sind den Herausforderungen einer nach vorne gerichteten Moderne wie der Rücksicht, dem "respectus" im wörtlichen Sinne, gegenüber dem Herkommen verpflichtet. Auch darin erweist sich Inoue bis zum Schluss als jener "unbeteiligte Augenzeuge", der als Künstler den dafür nötigen Blickabstand besitzt., ein Abstand, der freilich von seiner östlichen Warte aus noch weiter bis an jene Leere reicht, aus der asiatische Weisheit seit Jahrhunderten schöpft und vor deren Unergründlichkeit sich auch für Inoue letztendlich alle unsere menschlichen wie geschichtlichen Dramen abspielen

    "Der Tod des Teemeisters" endet mit einem von Honkakubô geträumten Abschiedsgespräch zwischen dem Shôgun und dem Teemeister, zwischen dem Mächtigen und dem Weisen, in dem Sen no Rikyû sich bei Hideyoshi dafür bedankt, dass dieser ihn durch seinen Tötungsbefehl für diese Leere freigegeben hat, da auch der Teeweg, selbst wenn seine Kunst hochentwickelt und bewahrenswert ist, eigentlich nichts bedeutet.

    "Dank Euch habe ich zum ersten Mal die Wahrheit des Teewegs erkannt. Seit Ihr mich nach Sakai verbannt habt, bin ich plötzlich frei. Nicht nur mein Leib ist frei, auch mein Geist. Als Ihr mich verbanntet, tatet Ihr dies, ohne auf andere zu hören und zu achten, ganz als Ihr selbst. Was ist der Tee, was ist Wabicha, von Anfang an hatte es keine Bedeutung. Allein unsere Begegnung zählte. Dass Ihr Ihr werden müßt, und ich, Sôeki, Sôeki werden muss, allein das zählt. Dank Eurer bin ich aus einem langen, langen Traum erwacht. "