Studie
Die Mär von der Inspiration durch Spitzensport

Eine Studie aus Kanada hat belegt, eine Förderung des Leistungssports inspiriert Menschen nicht dazu, selber Sport zu treiben. Was bedeutet das für die Bemühungen Deutschlands, bald Olympische Spiele hierzulande ausrichten zu wollen?

Von Raphael Späth |
Lukas Märtens posiert mit seiner Goldmedaille von den Olympischen Sommerspielen in Paris im Schwimmen.
Erfolge bei Olympia sollen Menschen dazu inspirieren, mehr Sport zu treiben. Aber die Gleichung funktioniert nicht, wie eine aktuelle Studie aus Kanada belegt. (dpa / picture alliance / Petr David Josek)
Seit den 1980er-Jahren beschäftigt sich Peter Donnelly wissenschaftlich damit, wie sich der Leistungssport auf die Gesellschaft auswirkt. Seine jüngste Studie an der Universität in Toronto über die Investitionen der kanadischen Politik in den Spitzensport kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: „Die kanadische Regierung gibt in den vergangenen Jahren immer mehr Geld für Spitzensport aus, und in diesem Zeitraum nehmen die Mitgliedszahlen im organisierten kanadischen Sport immer weiter ab.“
Weit über 300 Millionen Dollar investiert die kanadische Regierung inzwischen pro Jahr in den Leistungssport – und die Anzahl der Medaillen bei Olympischen Spielen steigt auch kontinuierlich. Aber: Während 1992 noch über 40 Prozent der kanadischen Bevölkerung Mitglied in Sportvereinen waren, stagnieren die Zahlen seit Mitte der 2000er um die 27 Prozent.
„Die Sportorganisationen, inklusive des kanadischen Olympischen Komitees behaupten, dass je mehr Medaillen gewonnen werden, desto mehr Leute Sport treiben. Und die wissenschaftlichen Daten zeigen eindeutig, dass das nicht der Fall ist.“

"Inspiration funktioniert nicht"

Erst vor den Spielen in Paris hatte der Präsident des kanadischen Olympischen Komitees, David Shoemaker, von der kanadischen Politik gefordert, dass das Budget für den Spitzensport um weitere 104 Millionen Dollar erhöht wird. Falls nicht, würde das zu einer dramatischen Reduktion der Partizipationszahlen im kanadischen Sport insgesamt führen. Der wissenschaftliche Blick in die Zahlen von Peter Donnelly zeigt jetzt aber eindeutig:
„Inspiration funktioniert nicht. Und wenn wir sagen, dass es etwas Gutes ist, wenn Leute sich mehr bewegen, dann müssen wir andere Wege finden, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb würde ich es befürworten, wenn das staatliche Geld gleichmäßiger zwischen dem Spitzen- und dem Breitensport verteilt wird.“

Die Zahlen im kanadischen Breitensport stagnieren seit Jahrzehnten

In Kanada war die Bundesregierung bisher hauptsächlich dafür verantwortlich, den Spitzensport finanziell zu fördern. Investitionen in den Breitensport gab es in den vergangenen Jahren hauptsächlich auf regionaler Ebene.
„Und diese Regierungen haben nie viel Geld in den Sport investiert. Vor allem seit den 1970ern nicht mehr. Da gab es einen neoliberalen Wandel, öffentliche Ausgaben wurden hinterfragt, Steuergelder wurden immer kritischer beleuchtet. Die Regierung hat weiter den Spitzensport gefördert. Aber der Rest wurde fallengelassen.“
Das habe dazu geführt, dass die Partizipationszahlen im kanadischen Sport seit fast zwei Jahrzehnten stagnieren.
„Wir haben natürlich noch andere Faktoren: Die Bevölkerung wird immer älter, das sorgt auch dafür, dass die Zahlen sinken. Wir haben eine hohe Rate an Immigranten. Und neue Kanadierinnen und Kanadier werden eher selten Teil des kanadischen Sportsystems, sie haben andere Probleme, um die sie sich kümmern müssen. Also: Es gibt noch andere Faktoren, die da zum Tragen kommen.“

Auch in Deutschland fließt immer mehr Steuergeld in den Spitzensport

Für den deutschen Sportwissenschaftler Lutz Thieme sind die Ergebnisse der kanadischen Studie nicht überraschend. „International weisen die Ergebnisse übereinstimmend darauf hin, dass es nicht reicht, durch sportliche Erfolge oder das Ausrichten von Sportgroßveranstaltungen, die Hoffnung zu haben, dass mehr Menschen dann auch den Sport ausüben.“
Auch in Deutschland hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren immer mehr Steuergeld in den Spitzensport investiert, im Jahr 2024 sind es rund 300 Millionen Euro. Anders als in Kanada steigt die Anzahl der gewonnen Medaillen aber nicht kontinuierlich: Die Spiele von Paris waren aus deutscher Sicht die medaillenärmsten Sommerspiele seit der Wiedervereinigung. Und auch in Deutschland spiegelt sich über die vergangenen Jahre wieder,
„dass wir ungefähr ein Drittel der Bevölkerung haben, das regelmäßig Sport treibt, ein Drittel, das unregelmäßig Sport treibt und ein Drittel, das keinen Sport treibt. Und auch die Untersuchungen, wenn man den Maßstab der Bewegungsempfehlungen der WHO zu Grunde legt, dann sind wir vor allen Dingen im Kinder- aber auch im Erwachsenenbereich deutlich unter den Empfehlungen. Und es ist nicht zu sehen, dass wir da in irgendeiner Art und Weise aufholen.“

Partizipation steigt nicht nachhaltig

Für den Koblenzer Sportwissenschaftler Thieme ist auch hierzulande nicht ersichtlich, dass durch sportliche Erfolge von Leistungssportler*innen die Partizipation in einzelnen Sportarten nachhaltig steigt – also in der Regel Erfolge, wie die Goldmedaille im 3x3 Basketball nicht langfristig zu mehr Basketballerinnen in Deutschland führen.
„Und wenn wir ehrlich sind und unser eigenes Leben betrachten, dann ist das ja auch durchaus plausibel. Also wenn wir uns fragen, ob wir selber oder unsere Kinder Sport treiben wollen, dann hat das wenig damit zu tun, ob jemand gestern oder vorgestern Olympische Medaillen oder Weltmeisterschaften oder andere sportliche Erfolge hatte. Sondern wir sind vielleicht noch inspiriert durch unser Umfeld, weil eben Kolleginnen und Kollegen, weil in der Schule die Freundin oder der Freund unserer Kinder bestimmte Sportarten betreiben. Und das ist ein viel stärkerer Motivator als der leistungssportliche Spitzenerfolg.“

Debatte über gesellschaftlichen Wert des Spitzensports läuft

In Deutschland soll deshalb jetzt eine Zieldebatte über den gesellschaftlichen Wert des Spitzensports angeschoben werden.
„Ein erster Schritt ist, dass Kolleginnen und Kollegen von der Sporthochschule und anderen Universitäten tatsächlich die Bedeutung des Leistungssports in der Bevölkerung durch eine repräsentative Studie versuchen, zu erhellen. Und dass wir auf der anderen Seite in einem partizipativen Prozess, der getragen wird von Athleten Deutschland und vom DOSB darüber diskutieren, welche Ziele wir denn eigentlich mit dem Leistungssport und der Leistungssportförderung verbinden.“

Studie sollte neues Sportfördergesetz beeinflussen

Die Bundesregierung möchte noch vor dem Ende der Legislaturperiode ein neues Sportfördergesetz verabschieden. Eine unabhängige Sportagentur soll das Geld in Zukunft sinnvoller und effizienter verteilen. Sportwissenschaftler Lutz Thieme findet, dass dafür aber vor allem die Ergebnisse dieser repräsentativen Studie ausschlaggebend sein sollten.
„Eigentlich könnte man erst danach wirklich sagen, wie eine effiziente und effektive Spitzensportförderung aussehen könnte. Weil je nachdem, wie wir solche Ziele dann als Gesellschaft definieren, müsste dieses Spitzensportsystem dann auch anders ausgerichtet sein.“