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Institutionen können nur so gut sein "wie ihre Bürger"

In unserer Reihe "Wir schenken Ihnen Zeit" hält Gesine Schwan den Bürgern den Spiegel vor: "Das, was in der Politik erscheint, findet sich ja in der Gesellschaft wieder", sagt die Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance.

Das Gespräch führte Beatrix Novy |
    Beatrix Novy: Fotografie und das in ihr Aufbewahrte, darum ging es gestern hier auch. Da war nämlich Thomas Oberender Gesprächsgast unserer Neujahrsreihe "Wir schenken Ihnen Zeit" – nämlich zu sagen, was zum Jahresbeginn auf den Nägeln brennt. Für heute haben wir Gesine Schwan gebeten, die frühere Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, heute steht sie der Humboldt-Viadrina School of Governance vor. Mit ihrer derzeit größten Sorge steht Gesine Schwan nach diesem Jahr 2011 nicht mehr allein: die Sorge um die Demokratie.

    Gesine Schwan: Meine Hauptsorge ist, dass die Demokratie als politische Form und als Lebensform sehr viele Voraussetzungen fordert, nicht nur bei den Institutionen, eine gute Verfassung zum Beispiel, ein gutes Institutionengefüge in einer repräsentativen Demokratie, sondern auch im Verhalten der Bürgerinnen und Bürger, und das findet sich dann besonders verwoben gleichsam in den Institutionen, die zwischen Gesellschaft und staatlicher Politik vermitteln – das sind insbesondere die Parteien, zum Teil aber auch die Gewerkschaften.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg, als ich meine Sozialisation bekam, standen wir unter dem Schock des Nationalsozialismus, sodass wir alle dachten, wir müssen jetzt sehr genau aufpassen, dass diese Demokratie, die wir langsam wieder aufbauen, auch gepflegt wird, und es war uns bewusst, dass das kein Selbstläufer ist. Es ist ja auch nicht von Ungefähr, dass viele Personen, die ins Exil gegangen sind aus Deutschland – in die Vereinigten Staaten, dort zum Beispiel in der Politikwissenschaft die Forschung zur sogenannten politischen Kultur initiiert und auch weiterentwickelt haben -, dass die alle ja unter dem Trauma standen, wie verhindern wir einen erneuten Zusammenbruch unserer, einer Demokratie.
    Und wenn ich das jetzt in Deutschland und überhaupt in den sogenannten etablierten Demokratien betrachte, dann beobachten wir einen kontinuierlichen Vertrauensverlust von tragenden Institutionen. Das hat aber zur Folge, dass immer mehr an Vertrauensnotwendigkeit auf die Bürger und auf die Kultur verlagert wird, und die können das auch nicht bringen. Mit anderen Worten: Das Vertrauenspotenzial, das eine Demokratie braucht, was nie heißt Blauäugigkeit, was durchaus Realismus einschließt und auch den Realismus, dass Menschen verführbar sind und dass sie das Potenzial für Positives, aber auch für Negatives enthalten, aber dennoch: so ein Überschuss, ein kleiner Überschuss wenigstens an Vertrauenswürdigkeit, an Verantwortungsfähigkeit besteht nicht mehr, ist mein Eindruck. Und es ist nicht mehr das Bewusstsein, dass wir keineswegs in einer selbstverständlichen politischen Form leben und dass Freiheit nicht selbstverständlich ist, auch nicht eben Rechtsstaat und so weiter.

    Novy: Sie würden also Leuten, die die Ursache dieses Vertrauensverlustes in den Institutionen selber sehen, denen würden Sie einfach sagen, gebt mal wieder ein bisschen Vertrauensvorschuss?

    Schwan: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich würde sagen, ich würde zurückfragen, seid ihr denn selbst vertrauenswürdig in eurem Verhalten. Das, was in der Politik erscheint, findet sich ja in der Gesellschaft wieder. Es ist ja keineswegs so, dass die Gesellschaft sich vertrauenswürdig verhält und die gewählten Politikerinnen und Politiker nicht, sondern im Gegenteil: In der Gesellschaft findet sich ja dieser Mangel an Vertrauenswürdigkeit wieder. Und mein Problem ist eben gerade, dass Institutionen nur so gut sein können wie ihre Bürger und dass Bürger, wenn Institutionen Vertrauen verlieren, sich umso mehr darum bemühen müssen, das Vertrauen wieder herzustellen, nicht einfach Vertrauen zu schenken, sondern sich selbst vertrauenswürdig zu verhalten und zum Beispiel, wenn gewählte repräsentative Politikerinnen und Politiker ihren Aufgaben nicht gerecht werden – und das beobachten wir zur Zeit -, ihrerseits nicht zu maulen, zu jammern oder sich zu verschließen, sondern ihrerseits mit Beiträgen, mit Vorschlägen, mit Eigeninitiative aus der Gesellschaft aus der Misere herauszuhelfen. Was mich bewegt und bedrückt ist, dass Erosionserscheinungen, die nicht an der Oberfläche sozusagen ausbrechen, von vielen unbemerkt bleiben, und das ist gefährlich, weil es dann auch zu einer Implosion kommen kann, wie die DDR implodiert ist. Das ist die eine Sorge und das bezieht sich auch, dieses Problem, dass die Unterminierung der Grundlagen, der kulturellen wie der institutionellen Grundlagen, nicht auf Anhieb erkennbar sind, das bezieht sich auch auf das, was gegenwärtig in Europa passiert, und da bin ich ganz besonders unglücklich über die deutsche Regierungspolitik, weil ihr eine unglaublich große Verantwortung zukommt.

    Novy: Wie würden Sie sich die deutsche Politik gegenüber Europa beziehungsweise innerhalb Europas wünschen? So wie es jetzt in den letzten Monaten gelaufen ist ja offenbar nicht.

    Schwan: Nein. Ich glaube, es war von Anfang an ein kardinaler Fehler, dass die Bundesregierung und auch die Bundeskanzlerin zu Beginn der erkennbaren Verschuldungskrise der Staaten geradezu apodiktisch gesagt hat, eine solidarische Haftung dagegen kommt nicht in frage, jeder Staat muss es für sich tun. Vorabzustellen, bevor alles genau geklärt war, und dann geradezu auch nationale Vorurteile zu bekräftigen mit diesen Äußerungen über die Griechen, alles das hat stattgefunden mit dem Ausrufungszeichen, wir werden nicht für euch haften. Am Anfang Europas aber stand die Bereitschaft zur Solidarität. Und dieses Wechselspiel von regierungsverantwortlicher Bekundung, dass wir nicht solidarisch haften wollen, und einer Bevölkerung, die natürlich reflexartig sagt, warum sollen wir denn für faule Nachbarn haften, diese Dialektik wird in meiner Sicht immer gefährlich, weil Europa und Deutschland auch nur einigermaßen ihre Freiheits- und Menschenrechts- und auch Gerechtigkeitsideen weiter verwirklichen können, wenn wir ein gutes gemeinsames Europa haben, und das erodiert eben zurzeit auch, also nicht nur die Demokratie, sondern auch die Gemeinsamkeit in Europa, und das betrübt mich sehr.

    Novy: Das hat natürlich auch etwas mit der Rolle der Ökonomie zu tun, die einen gewissen Primat erreicht hat in den letzten Jahren. Wie würden Sie sich das vorstellen? Kann man wieder etwas zurückdrehen, das die Politik selbst stärker wird?

    Schwan: Zurückdrehen kann man, glaube ich, nie etwas, aber man muss es versuchen, vernünftig nach vorne zu drehen. Das eine wäre ein Versuch, weiterhin über Regierungszusammenschlüsse oder eben Verhandlungen auch nicht nur im europäischen Rat, sondern auch in der Kommission und im Europäischen Parlament, aber auch darüber hinaus global, etwa G-8 und G-20, in solchen gemeinsamen Entscheidungen von verantwortlicher Politik zu mehr Solidarität zu kommen und damit auch zu einer vernünftigen Regulierung etwa der Finanzmärkte.
    Das Zweite aber ist, glaube ich, dass auch gewählte Politiken, die ja alle immer nur national legitimiert sind und nicht transnational und nicht europäisch und nicht global, dass die die Hilfe bekommen von transnationalen Initiativen, Organisationen etwa aus der organisierten Zivilgesellschaft. Ich glaube, ohne das geht es gar nicht. Wir brauchen also transnationale Initiativen, so wie etwa die Finanzmarktkommission des Europaparlaments, das im Sommer 2010 schon in einem offenen Brief gefordert hat, wo sie gesagt haben, da ihnen keine nennenswerte wissenschaftliche Unterstützung im Europaparlament zur Verfügung steht, werden sie geradezu erdrückt von Lobbys, sowohl Text- und Formulierungslobby, als auch Geldlobby, als auch personaler Lobby, die ihnen gleichsam vernünftige Regelungen der Finanzmärkte entwinden wollen. Und dann ist es kein Wunder, wenn gleichsam die Politik es nicht schafft gegenüber den Partikularinteressen der Wirtschaft. Deswegen brauchen wir also nicht nur entschiedenere repräsentative Politik – und die haben wir eben in Deutschland zurzeit nicht in Richtung europäische Solidarität oder gar globale Solidarität -, sondern wir brauchen auch eine Erweiterung des Lobbyfeldes, wenn Sie so wollen - das ist ja ganz systemisch okay in der Demokratie – zu Gunsten solcher transnationaler gemeinwohlorientierter Politik, damit auch diejenigen in der gewählten Politik, die das wollen, Unterstützung finden.

    Novy: Was wünschen Sie den jungen Leuten, den Studenten, mit denen Sie doch seit Jahren zu tun haben?

    Schwan: Ich wünsche allen, dass sie den Mut finden, mit Kant sich ihres Verstandes zu bedienen und nicht einfach den vorgegebenen Regeln zu folgen, dass sie den Mut finden, in den Seminaren sich nicht kanalisieren zu lassen unter Leistungsdruck und Wettbewerbsdruck, um irgendwelche Tests zu bestehen, sondern wirklich zu fragen, wie sieht die Welt aus. Und übrigens: den fangen sie bereits ganz intensiv an, zu bezeugen. Ich erlebe das, ich werde eingeladen von solchen studentischen Initiativen, und da bin ich auch sehr zuversichtlich, denn nur wenn wir alle alleine denken und wenn wir an der Stelle der anderen denken und wenn wir jederzeit mit uns einstimmig denken – das sind die drei Maximen von Kant für den Gemeinsinn -, dann kommen wir weiter.

    Novy: Das Schlusswort heißt Vernunft. Das war Gesine Schwan, Aktivistin der wissenschaftlichen und politischen Sphäre, deren Biografie auch einige Erfahrungen als Präsidentin enthält, Hochschule, und als Kandidatin zu Präsidentschaften. Gesine Schwan wurde 2009 nicht Bundespräsidentin, sie hätte damit auch einer sehr seltenen Art angehört. Gäbe es nicht Werner Schwabs abgedrehtes Bühnenstück "Die Präsidentinnen", dann käme die Präsidentin im Plural ja gar nicht vor.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"

    Teil I - Der Soziologe Hartmut Rosa über Kunst und die Beschleunigungskultur
    Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit
    Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache
    Teil V - Kulturpolitikerin Monika Grütters über die Rolle der Kultur in multi-ethnischen Gesellschaften
    Teil VI - Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski über die Chancen des Philosophierens
    Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet
    Teil VIII - Die Schriftstellerin Juli Zeh über Krisenhysterie und Schwangersein